Aus: Ken Wilber, Integrale Meditation, 2016

Augenblick

Aus welchem Grund auch immer ist das Universum, das wir kennen, so weit wir es kennen, ein Universum, in dem jeder Augenblick seinen Vorgänger transzendiert und bewahrt. Für Alfred North Whitehead beispielsweise ist jeder Augenblick ein „Subjekt der Erfahrung“, ein „Erfahrungstropfen“. Mit dem Erscheinen des neuen Subjektes nimmt es seinen Vorgänger wahr (berührt ihn, fühlt ihn) und macht ihn so zu einem Objekt. Dieses Wahrnehmen oder Berühren des vergangenen Augenblicks durch den gegenwärtigen Augenblick konstituiert den Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart. Berührt und umarmt man ein Objekt, dann beeinflusst einen dieses Objekt natürlich – und das ist das, was geschieht, wenn jeder Augenblick den vorangegangenen Augenblick wahrnimmt, berührt und fühlt, welcher seinerseits den vorangegangenen Augenblick berührt und gefühlt hat, und so weiter ohne Ende. Dies ist der verursachende oder bestimmende Aspekt der Vergangenheit auf die Gegenwart. Wenn das alles wäre, was es gäbe, dann hätten wir es mit einem rein deterministischen und mechanischen Universum zu tun, ohne Kreativität, Neuheit oder Innovation. Doch jeder Augenblick fügt, nach Whitehead, zusätzlich zu der Wahrnehmung des vorangegangenen Augenblicks noch sein eigenes Stück Neuheit oder Kreativität hinzu. Die Vergangenheit wird nicht nur aufgenommen und bewahrt, sie wird auch transzendiert. Sie nimmt nicht nur das vorangegangene Subjekt wahr (und macht es zu einem Objekt des neuen Subjektes), sondern fügt zum neuen Subjekt noch ein Stück Neuheit hinzu und bringt so in diese Abfolge Freiheit und Neuheit mit ein. Bei Holons mit sehr geringer Tiefe (wie Atomen) ist die hinzugefügte Neuheit gering und ihre zeitliche Entfaltung erscheint deterministisch. Doch „wenig Neuheit“ bedeutet nicht „keine Neuheit“. Immerhin haben die Atome Moleküle hervorgebracht, als einen erstaunlichen Kreativitätssprung. Moleküle wiederum, in einem weiteren erstaunlichen kreativen Sprung, haben es fertiggebracht sich zusammenzufinden, und, als sich eine Zellwand um sie herum bildete, Leben entstehen zu lassen – aus der ihnen innewohnenden Kreativität heraus! Kreative Neuheit ist ein Teil dessen, was das Universum ausmacht, und diese kreative Neuheit treibt die Evolution voran, unter Begriffen wie „Selbstorganisation“, „Eros“, „Liebe“ oder „GEIST-in-Aktion“.