Ken Wilber
Aus: An integral relationship to grief and loss, 2016
Wenn wir uns mit Identität und Identifizierungen im Zusammenhang mit dem Thema Tod beschäftigen, dann geht es auch um Wachstum und Entwicklung. Da der Wachstumsprozess einen Vorgang einer zunehmenden Identität bedeutet, ist Entwicklung ebenso ein Vorgang von Tod und Wiedergeburt, Tod und Wiedergeburt, Tod und Wiedergeburt – so lange, bis sich unsere Identität auf das GANZE erstreckt, bis zur höchsten Identität mit dem gesamten manifestierten und nicht-manifesten Universum. Und hier sind wir ungeboren und ungestorben. Oder, paradoxerweise, werden wir in alles hineingeboren, was wir manifestieren, und wir sterben in alles, was wir manifestieren – doch als Gesamtheit hängt alles zusammen, ungeboren und ungestorben. Das ist die Weise, wie das Letztendliche oder Ewigkeit beschrieben werden. Unsere Beziehung zum Tod ist also etwas merkwürdig, auch deshalb, weil uns die meisten Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Tod aufgezwungen werden. Wir tun das nicht absichtlich, wir möchten nicht, dass es geschieht – wir sind so sehr mit demjenigen identifiziert, der dabei verloren geht. Daher erfahren wir alles, was mit Tod zusammenhängt, als sehr schmerzhaft.
Ernest Becker hatte darauf in seinen Büchern hingewiesen: Die große Unterdrückung betrifft nicht die Sexualität, sondern den Tod. Otto Rank sprach in diesem Zusammenhang von Unsterblichkeitsprojekten, durch die Männer und Frauen den Tod zu überwinden suchen, indem sie ihn durch die Schaffung von Artefakten, die „ewig“ leben, leugnen. Woody Allen hat es schön auf den Punkt gebracht: „Ich möchte keine Unsterblichkeit mit meiner Arbeit erlangen, sondern dadurch, dass ich nicht sterbe.“ Dies ist natürlich eine Rückwärtsbewegung. Zu sagen, dass wir den Tod verleugnen, bedeutet gleichzeitig, dass wir in unserer Entwicklung stehen geblieben sind. Wenn wir nicht willens oder in der Lage sind, das Niedrigere loszulassen und ihm gegenüber zu sterben, um so gegenüber dem Höheren wiedergeboren zu werden, dann verleugnen wir den Tod und das Leben und verleugnen gleichzeitig Entwicklung und Wachstum. Diese dialektische Einheit von Leben und Tod ist immer paradox, doch sie erklärt die Tatsache, dass Menschen, die eine große Angst gegenüber dem Tod haben, eine gleichermaßen große Angst gegenüber dem Leben haben. Sie können nur ganz vorsichtig leben, weil ja ständig irgendetwas geschehen könnte, das sie umbringt. Je größer die Angst vor dem Tod, desto größer die Angst vor dem Leben – der Bus könnte sie anfahren oder sie stürzen von den Klippen. Leben und Tod sind auf eine merkwürdige Weise miteinander verbunden. Verneinen wir eines von ihnen, verneinen wir das andere auch. Unsere Identität wird dann auf der entsprechenden Entwicklungsebene eingefroren. Wachstum und Entwicklung, als ein Vorgang von Tod und Wiedergeburt, sind dann nicht mehr möglich. Doch wenn es uns gelingt diesen Zusammenhang anzunehmen, erfahren wir dabei einen enormen Verlust und eine enorme Trauer, das kann Menschen völlig aus der Bahn werfen. Es kann eine vernichtende, aber auch befreiende Wirkung haben, die Monate, Jahre oder das ganze Leben andauert.
Jedes Mal, wenn wir also auf Tod, Verlust oder Trauer stoßen, können wir eine Identifikation entdecken, die dem zugrunde liegt. Wir haben uns innerlich oder äußerlich identifiziert mit dem, was verlorengegangen ist – ich, mir oder mein. Das ist schmerz- und leidvoll. Die Untersuchung dieses Leids und es willkommen zu heißen, ist ein Wachstumsweg. Die Frage ist, wo hier meine verborgene Identifikation liegt, meine – in einem buddhistischen Begriff – Anhaftung. Nicht das, was geschieht, verursacht das Problem, sondern eine Anhaftung an das, was geschieht, verursacht das Problem.
Meine eigenen Erfahrungen beim Tod meiner Frau Treya und mit meinem Körper aufgrund meiner Erkrankung waren enorme Wachstumsprozesse. Ich kann dabei immer noch eine Art von Sentimentalität empfinden, ein Verlusterleben gegenüber all dem. Doch ich bin hindurchgegangen und habe das Licht am anderen Ende des Tunnels gesehen, in dem ich mich von einer bestimmten Identität und Identifizierung verabschiedet habe, die hier bestand.
Der Tod von Treya hat gewaltig etwas in Bewegung gesetzt. In der Nacht als sie starb, las ich ihr ihre spirituellen Lieblingstexte vor, die mit dem Tod zu tun haben – Ramana Maharshi, Krishnamurti, das Tibetische Totenbuch. Gegen 2:00 Uhr morgens hörte ich dieses unglaublich laute Klickgeräusch, so als wenn etwas bricht, und es kam mir dabei sofort das Bild, dass Treya nun das Band löst, welches sie mit Samsara verbindet. Das war ihre vollkommene Befreiung. Ich selbst ergab mich völlig diesem gleichen Raum. Ich hatte das schon vorher durch meine jahrelange Praxis erfahren, doch dies war eine besonders tiefe Erfahrung davon und Treya und ich waren in dieser Situation eins. Das getrennte Selbst war verschwunden und damit war der Tod vorbei. Wir waren beide in der liebenden und strahlenden Fülle dieses höheren Bereiches. Ich blieb in diesem Zustand für mehrere Wochen, 24 Stunden am Tag. Das hat ganz erheblich dazu beigetragen, wie ich mich durch diesen Trauerprozess bewegt habe. Dann kam eine Periode von vielleicht drei Monaten, wo ich etwa einmal täglich, ungefähr zur gleichen Zeit zwischen 10.00 und 11.00 morgens, anfing zu weinen, etwa 20 Minuten lang. Die fünf Jahre unseres Zusammenlebens mit immer wieder neuen schlechten Nachrichten hinsichtlich ihrer Krebserkrankung kamen nun heraus, in denen ich die Rolle des „starken Helfers“ hatte und dabei den Schmerz und die Verluste nicht fühlte, die wir ständig erlitten und denen gegenüber ich auch nicht sterben und mich auch nicht entwickeln konnte. Ich ging noch einmal durch diese Zeit und alle Ereignisse, fast chronologisch, in denen ich Trauer und Angst unterdrückt hatte. Ich erfuhr jedes Ereignis noch einmal, erfuhr diese Zeit noch einmal, verarbeitete sie und ging zum nächsten Ereignis – den ganzen Zeitraum noch einmal zurücklegend, etwa fünf Jahre der Trauer. So konnte ich all die Verluste erfahren, deren Tod akzeptieren und mich dabei entwickeln. Ich konnte diese Tode akzeptieren und zwar nicht nur auf der letztendlichen Ebene, sondern auch hinsichtlich der allerkleinsten alltäglichen Erlebensmomente. Ein Arztbesuch, eine weitere Operation, eine neue Runde Chemotherapie, Hunderte von Verletzungen, die ich zur Zeit ihres Geschehens nicht unmittelbar erleben konnte, weil ich mir das damit verbundene Leid nicht erlauben konnte. Das hat also auch sehr viel mit dem alltäglichen Leben zu tun und der Weise, wie wir mit Verlust und Trauer umgehen und unsere Verbindung zwischen Tod und Identifikation sehen und fühlen.
Eines ist ganz sicher: Wenn wir aufhören den Tod zu akzeptieren, wenn wir in eine Todesverleugnung kommen, in ein Unsterblichkeitsprojekt oder eine spirituelle Vermeidung, wenn wir nicht gegenüber der Ebene und Identität sterben können, auf der wir uns befinden, um so zur nächsthöheren Ebene zu gelangen, dann sind wir entwicklungsmäßig zum Stillstand gekommen. Die Todesverleugnung ist gleichzeitig eine Verleugnung von Wachstum und Entwicklung. Damit beschäftigen wir uns ständig, jeden Tag und jede Minute.