und die Suche, die immer schon am Ziel ist
Aus Ken Wilber: Das Spektrum des Bewusstseins, 1977
Unsere heutige Wissenschaft der Seele hat im Großen und Ganzen kaum noch mehr zum Gegenstand als das Verhalten von Ratten in Lernapparaturen und den individuellen Ödipuskomplex, also die unterste Ebene der Individuation, und diese Einengung der Perspektive hat uns nicht nur blind gemacht für die Tiefen der Seele, sondern auch unseren überlieferten spirituellen Orientierungsrahmen verwüstet und ihn einem trostlos eindimensionalen Menschenbild angepasst. Aber so seltsam das klingen mag, ich habe gegen diese eindimensionale Wissenschaft der Seele nichts einzuwenden; nur dagegen, dass sie einen Monopolanspruch auf das Wissen um die Seele erhebt. Darum lautet die These dieses Buches grob gesagt: Das Bewusstsein ist vieldimensional oder scheinbar aus vielen Schichten aufgebaut; die Hauptschulen der Psychologie, Psychotherapie oder Religion beziehen sich auf verschiedene Schichten oder Ebenen; diese verschiedenen Schulen schließen einander also nicht aus, sondern ergänzen einander, wobei jeder Ansatz mehr oder weniger richtig und zutreffend ist, solange er nicht über seinen Geltungsbereich hinausgreift.
Die Reise beginnt nicht jetzt,
sie endet jetzt,
in eben dem Bewusstseinszustand,
der jetzt gerade gegeben ist.
Ein Augenblick Gewahrsein genügt, um uns klarzumachen, dass wir eben dieses Leben [„ein fortwährendes unkalkuliertes Leben in der Gegenwart“] immer schon leben, ob wir das bemerken oder nicht. Mystisches und ewiges Gewahrsein des Nun unterscheidet sich ganz und gar nicht von dem, was Sie jetzt schon erfahren. Wir versäumen es, dies zu realisieren, weil wir uns einbilden, wir müssen uns irgendwie erst zum Nun hinarbeiten, als wäre es verschieden von dem, was jetzt schon ist. Wenn ich das zu Ihnen sage, was geschieht dann mit Ihnen? Vielleicht verwirrt es Sie; vielleicht sagen Sie: ‚Erlebe ich diesen Augenblick richtig? Irgendwie verstehe ich offenbar nicht ganz. Ich will mir diesen Augenblick lieber noch ein wenig genauer anschauen, um zu sehen, ob dem so ist.‘ Schon haben Sie einen Fehler gemacht, nicht wahr? Sie haben versucht, sich aus diesem Augenblick in einen neuen Augenblick abzusetzen, um diesen Augenblick von dort aus deutlicher zu sehen. Ich sprach nicht von nächsten Augenblick, in dem Sie diesen Augenblick deutlicher sehen, sondern von diesem Augenblick – bevor Sie etwas unternehmen können, um die Situation zu verändern. Natürlich nehmen wir uns dann vor, die Situation nicht zu verändern, aber damit versäumen wir diesen Augenblick schon wieder, denn diesen Augenblick nicht zu verändern, erfordert ebenfalls den nächsten Augenblick: verändern oder nicht verändern, beides geht nicht in diesem Augenblick. Und natürlich sind wir verwirrt, wenn wir so etwas hören, denn wir benutzenja stets diesen Augenblick, um zum nächsten zu gelangen, und so soll er uns auch als Anfangspunkt des Weges zum GEIST dienen. Doch was wir in diesem Moment immer nur erreichen, ist GEIST, ist das was jetzt ist, sei es das Leiden, Suche, Schmerz, Freude oder einfach Verwirrung. Die Reise beginnt nicht jetzt, sie endet jetzt, in eben dem Bewusstseinszustand, der jetzt gerade gegeben ist. Das ist der mystische Zustand und das sind wir: Wir empfangen das Jetzt nicht, noch beobachten oder fliehen wir es, sondern wir sind es; das Empfangen, das Beobachten, das Fliehen – alle sind gleichermaßen das, gleichermaßen eine Bewegung des ewigen Jetzt, das wir sind.
Immer schon jetzt den Tod erleidend, leben wir immer schon ewig. Die Suche ist immer schon am Ziel.