Aus: Ken Wilber, Halbzeit der Evolution, 1981
Nichts kann lange von Gott getrennt sein und bleiben, noch vom Urgrund allen Seins, außerhalb dessen nichts existiert. Und Geschichte – nicht als Aufzeichnung individueller und nationaler Taten, sondern als Bewegung des menschlichen Bewusstseins – ist die Erzählung der Liebensaffäre zwischen dem Menschen und dem Göttlichen. Da gibt es ein ewiges Hin und Her, ein Lieben und Verfluchen, ein gegenseitiges Aufeinanderzu- und Voneinanderweg-Bewegen.
In der Tradition der Betrachtung von Geschichte aus theologischer Sicht findet sich Verwirrung nicht darüber, was die Geschichte ist, sondern was Gott sein könnte. Wenn wir annehmen, dass Geschichte einen Sinn hat, dann müssen wir auch annehmen, dass sie auf etwas anderes als auf sich selbst hinweist – womit ich sagen will, dass sie auf etwas anderes als auf einzelne Menschen hinweist. Dieses große Andere in seinem umfassendsten Sinn wurde oft als Gott, GEIST oder das Absolute bezeichnet. Da man aus abendländischer Sicht annimmt, dass Gott verschieden vom Menschen ist, getrennt von ihm und gänzlich jenseits aller menschlichen Wesen, sah man die Geschichte als die Ausgestaltung eines Paktes, eines Bundes zwischen Gott und seinen Völkern. Wir dürfen nicht vergessen, dass Gott und die Geschichte für das Abendland untrennbar sind. Jesus ist für den Christen nicht deshalb von größter Bedeutung, weil er ein Sohn Gottes ist, sondern weil er ein historisches Ereignis war, ein Hinweis auf Gottes Eingreifen in den historischen Prozess, den Pakt zwischen Gott und den Menschen. Moses brachte den Menschen nicht nur ethische Gebote, sondern einen Bund zwischen Gott und seinem Volk, einen Bund, der im Laufe der Geschichte verwirklicht werden sollte. Für die jüdisch-christliche Welt – also das abendländische Verständnis – ist die Geschichte die Entfaltung eines Paktes zwischen Gott und dem Menschen, eine Bewegung mit dem Endziel, die Menschen mit Gott zusammenzuführen.
Wie sehr diese Geschichtsauffassung auch den nüchternen, wissenschaftlichen und empirischen Geist belustigen mag – es ist eine Anschauung, ie im Hintergrund unserer abendländischen Psyche großes Gewicht hat und deren Einfluß sich niemand von uns entziehen kann.
In früheren Zeiten wurde Geschichte als eine Bewegung vom Heidentum zum Christentum angesehen, die ihren Höhepunkt am Tage des Jüngsten Gerichts finden würde, jenem noch fernen göttlichen Ereignis, auf das sich die ganze Schöpfung hinbewegt. Heute ist Geschichte für uns ein Prozess wissenschaftlicher Evolution, eine Bewegung von der Amöbe über das Reptil zum Affen und zum Menschen. Diese beiden Anschauungen unterscheiden sich gar nicht so sehr: Für beide gibt es eine Bewegung vom Niederen zum Höheren, vom Schlechten zum Besseren. Beide werden auf religiöse Weise geglaubt. Beide versprechen ein Morgen, das besser (oder „entwickelter“) ist als das Heute. Für beide gibt es eine hierarchische Bewegung von der Sünde (weniger entwickelt) zum Heil (höher entwickelt). Bei ganz gewiß unterschiedlichem Inhalt ist die Form im Grunde die gleiche. Sie ist historisch. Genaugenommen sehen beide Anschauungen Geschichte nicht nur als eine Fortbewegung, sondern als eine Fortbewegung in eine bestimmte Richtung.
Nähern wir uns dem Sinn der Geschichte aus einer Sicht der „Ewigen Philosophie“ auf Religion, dann lässt Geschichte sich nur mit dem Gottesbegriff erklären, bei dem Gott jedoch keine Große Person, sondern die Ganzheit und das Sosein all dessen ist, was ist. Dann ist die Geschichte nicht die Erzählung von der Entfaltung eines Paktes zwischen dem Menschen und Gott, sondern die Entfaltung der Beziehung zwischen dem Menschen und der Höchsten Ganzheit. Da diese Ganzheit mit dem Bewußtsein in Übereinstimmung ist, können wir auch sagen: Geschichte ist die Entfaltung des menschlichen Bewusstseins. In diesem Sinne ist Geschichte ein langsamer und mühsamer Pfad zur Transzendenz.