Aus: Ken Wilber, Integrale Spiritualität, 2006
Vielen Menschen fällt es schwer zu verstehen, wie die Beziehung zwischen einem Individuum und einer Gruppe genau aussieht. Oder zwischen einem Individuum und einem Kollektiv, welcher Art auch immer: einem Stamm, einem Planeten, einer Biosphäre – kurz das, was wir die Beziehung zwischen einem individuellen Holon und einem sozialen Holon nennen. Es ist leicht verständlich, warum bei dieser Frage so viel Verwirrung herrscht, denn sie gehört zu den etwa ein Dutzend wichtigsten, aber widerspenstigen Themen, mit denen sich Denkerinnen und Denker seit Jahrtausenden herumschlagen.
Das Problem kann auf jede erdenkliche Weise formuliert werden. Die kürzeste Formulierung wäre: „Ist die Gesellschaft selbst ein Individuum?“ Oder: „Wenn das Individuum ein Organismus ist, ist die Gesellschaft dann ebenfalls ein Organismus?“ Oder noch etwas genauer: „Besteht die Gesellschaft auf gleiche Weise aus individuellen Organismen, wie der individuelle Organismus aus Zellen und Molekülen besteht?“ Eine heute populäre Version lautet: „Ist Gaia ein einziger riesiger Organismus, bestehend aus sämtlichen Lebewesen?“
Einzelne Organismen haben, was Whitehead eine dominante Monade nennt, das heißt, sie haben eine Organisations- oder Steuerungskapazität, der alle ihre Subkomponenten folgen. Doch es gibt auf der ganzen Welt nirgendwo eine Gesellschaft, eine Gruppe oder ein Kollektiv, das sich genauso verhält. Ein soziales Holon hat einfach keine dominante Monade. Wenn Sie und ich miteinander reden, bilden wir ein „Wir“ oder ein soziales Holon, aber dieses „Wir“ hat kein zentrales „Ich“ oder eine dominante Monade, die mir und Ihnen befiehlt, bestimmte Dinge zu tun.
Individuelle Holons haben unter anderem vier Quadranten, und die soziale Dimension dieser individuellen Holons entfaltet sich in Form von Stufen, die mit den anderen Quadranten in diesem Individuum in Korrelation stehen. Aber kollektive oder soziale Holons haben keine vier Quadranten, deshalb entfalten sie sich nicht zwangsläufig in diesen vertikalen Typstufen. Nur durch die verworrene Vorstellung vom Kollektiv als einem einzigen riesigen Organismus entsteht der Eindruck, dass Gruppen zwangsläufig die gleichen festen Stufen durchlaufen wie Individuen. Das „Ich“ durchläuft eine relativ feste Reihe von vertikalen Stufen; das „Wir“ nicht.
Es gibt viele Möglichkeiten, über diese wichtigen Unterschiede zwischen individuell und sozial zu sprechen, aber am bedeutsamsten (und am leichtesten verständlich) ist die Tatsache, dass das Wir kein Über-Ich ist. Wenn Sie und ich zusammenkommen und miteinander reden, in Resonanz treten, uns mitteilen und verstehen, entsteht ein „Wir“ – doch dieses Wir ist kein anderes Ich. Es gibt kein Ich, das Sie und mich 100-%ig steuert wie Marionetten, sodass wir uns, wenn es an den Fäden zieht, genauso bewegen, wie es will.
Und doch existiert dieses Wir. Sie und ich kommen zusammen und verstehen uns. Wir können gar nicht anders als uns zu verstehen, zumindest gelegentlich. Interessant, nicht wahr? Der Reichtum und die Komplexität dieses „Wir“ ist einfach umwerfend.
… und doch existiert es. Und wir können uns verstehen – Sie und ich, wir können uns gegenseitig verstehen! Aber wie um alles in der Welt finden Sie so weit Zugang zu meinem Denken und ich Zugang zu Ihrem Denken und wie können wir uns so tief ineinander hineinversetzen, dass wir beide übereinstimmend sehen können, was der andere sieht? Wie immer das passiert, es ist ein Wunder, ein absolut erstaunliches, umwerfendes Wunder …