Aus: IntegralLife.com ISE Keynote: Ken Wilber, Emptiness + Perspective = Unique Self, 2009
Woraus sich die Welt vor allem anderen zusammensetzt sind Perspektiven. Wir sprechen zum Beispiel darüber, dass die Welt aus Holons zusammengesetzt ist, d. h. Ganzheiten, die Teile von anderen Ganzheiten sind, und das ist wahr. Doch diese Feststellung ist bereits eine Perspektive der dritten Person dazu, woraus sich die Welt zusammensetzt. Holons werden dabei nicht negiert, doch es wird klar, dass auch diese Aussage eine Perspektive ist. Es gibt auch Perspektiven der ersten und zweiten Person darüber, woraus sich die Welt zusammensetzt. Alle drei haben ihre Gültigkeit. Die grundlegende Rolle, die Perspektiven spielen, wurde in der Prämoderne und auch der Moderne im Osten wie im Westen nicht verstanden. Die Welt wurde als etwas Vorgegebenes betrachtet, mit Dingen, die das sind, was man sieht.
In diesem System östlichen und westlichen Verständnisses wird die Erleuchtung des menschlichen Bewusstseins als ein Weg zum wahren, wirklichen und höheren Selbst verstanden. Dabei gibt es zwei Selbste des Menschen. Ein kleines, relatives, endliches Selbst, die egoische Selbstkontraktion, und ein wahres und unendliches Selbst. Bei diesen beiden Selbsten ist das kleine Selbst für so ziemlich alles Schlechte, Ungemütliche, Unangenehme und Schmerzhafte verantwortlich, weil es keine Verbindung zu diesen ewigen Ideen und Mustern im Geiste Gottes hat. Das Erwachen zum wahren Selbst hebt dies alles auf und per Definition gibt es nur ein wahres Selbst. In allen empfindenden Wesen ist die Gesamtsumme aller wahren Selbste eins. Das neue integrale Verständnis würdigt die Wahrheit dieser Sichtweise. Doch auch wenn es nur ein wahres Selbst gibt und wenn jeder von uns dazu erwacht wäre mit einem absolut identischen Erleben eines Selbst und wir alle aus dieser Position heraus die Welt betrachten würden, so gibt es doch etwas grundsätzlich Verschiedenes in jedem von uns. Es gibt ein wahres Selbst, doch dieses manifestiert sich als und durch so viele Perspektiven, wie es empfindende Wesen gibt. Die Formel dafür lautet:
Ein wahres Selbst + Perspektive = einzigartiges Selbst.
Mein einzigartiges Selbst ist das eine wahre Selbst, das durch die Perspektive schaut, die mein Körper-Geist [bodymind] verkörpert. Durch das Verständnis von Perspektiven und des einen wahren Selbst erhalten wir ein Verständnis eines einzigartigen Selbst, und plötzlich rückt die Individualität ins Blickfeld, die früher auf dem Weg zur Entdeckung des einen wahren Selbst ausgelöscht wurde. Auf dieser Reise, und mit dem früheren Verständnis von lediglich einem wahren Selbst, wurde alles dekonstruiert und es erfolgte eine Ent-Identifikation von allem. Ich bin nicht dies, ich bin nicht das. Gedanken tauchen auf, ich habe Gedanken, doch ich bin nicht meine Gedanken. Gefühle tauchen auf, ich habe Gefühle, doch ich bin nicht meine Gefühle. Neti neti, nicht dies, nicht das, in der reinen Leere, der reinen und nicht zu beschreibenden Bewusstheit, dem einen absoluten wahren Selbst. All die unterschiedlichen Fähigkeiten und „Intelligenzen“ werden dekonstruiert – auch sie sind nicht das, was ich bin. Das führt traditionell zu einer Befreiung im einen wahren Selbst, doch ohne eine Vorstellung darüber, was man nun damit anfängt und wie es sein kann, dass andere Bodhisattvas die Welt anders wahrnehmen. Was wir dabei erkennen ist, dass der Bodhisattva neben dir und neben mir das gleiche wahre Selbst hat, doch ein anderes einzigartiges Selbst. Das einzigartige Selbst nimmt dabei wieder die Perspektiven ein, die auf eine gewisse Weise auf dem Weg der Transzendenz des Ego verleugnet wurden. Wird das wahre Selbst als das einzigartige Selbst erkannt, kommt es zu einer erneuten In-Besitznahme der natürlichen Fähigkeiten des menschlichen Körper-Geistes, mit allen dazugehörigen „Intelligenzen“, Fähigkeiten und Talenten. Mathematische oder musische Talente werden gewürdigt, ebenso wie Fähigkeiten zu Introspektion oder Beziehungen – alle Talente und Möglichkeiten, die menschlichen Wesen gegeben sind, werden reanimiert und neu zum Leben erweckt, doch jetzt nicht aus dem Empfinden eines getrennten Wesens heraus, sondern vom radikal einen wahren Selbst, dem Zustand einen GEISTES, jedoch aus einer einzigartigen Perspektive heraus. Das macht die Aktivitäten eines Menschen einzigartig. Diese Einzigartigkeit ist eine neue Version der traditionellen Einheit von Leere und Form. Sie ist eins mit der nicht zu beschreibenden unermesslichen Leere, welche der Seinsgrund ist, und eins mit allen Formen, die erscheinen, doch jetzt wird noch etwas hinzugefügt, und das besteht darin, dass die Bewusstheit dieser Form in jedem empfindenden Wesen einzigartig ist.