Ein Schreibgespräch zwischen Sonja Student (SST) und Michael Habecker (MH)
SST: Michael, du hast Ken Wilber von Anfang an lesend, schreibend und in Seminaren begleitet und die Entwicklung in der deutschsprachigen Szene verfolgt und mitgestaltet – einschließlich der Leitung des Integralen Forums. Wie ist deine Gefühlslage jetzt, beim Übergang von den alten zu den neuen Medien im IF?
MH: (Lacht) Ich fühle mich angeregt, aufgeräumt, befreit, ein bisschen sentimental und auch glücklich. Die integrale (R)evolution, wie ich sie in einem Buch betitelt habe, ist ein aufregendes Lebensabenteuer für mich, sowohl ganz persönlich, in der Zusammenarbeit mit wunderbaren Menschen wie dir, in der Zusammenarbeit im IF, als auch hinsichtlich der großen gesellschaftlichen Themen und Herausforderungen. Gefühlsmäßig war es eine Achterbahnfahrt mit Höhen und Tiefen, Hoffnungen und Enttäuschungen, doch jetzt empfinde ich tiefe Freude und Dankbarkeit.
Wie ist es dir in dieser Zeit ergangen, Sonja, und wie erlebst du dich aktuell?
SST: Ich fühle mich der integralen Philosophie und der integralen Bewegung seit nunmehr über 20 Jahren sehr verbunden, zunächst im Verstehen, dann in der Anwendung und heute vorrangig im Einbringen des Integralen in ein größeres integral-evolutionäres Feld aus bestem Wissen unserer Zeit und Demut vor dem Nicht-Wissen. In all diesen Phasen haben wir einander begleitet, mit großem Respekt und Freundschaft. Wie wir das hinkriegen, große Leidenschaft für unseren eigenen Beitrag und Hingabe an das Ganze und diese Spannung auch miteinander (aus-)halten und leben – das beschäftigt mich im Augenblick sehr in allen Lebens- und Arbeitsbereichen und jetzt auch im Gespräch mit dir.
Doch kommen wir noch einmal zum Ausgangspunkt zurück, dem Start der integralen Medien und dem Aufbau der Integralen Bibliothek – wie sie jetzt auf unserer neuen Webseite heißt. Kannst du die Stationen skizzieren, wie sich deine Vision der integralen Medien schrittweise und in Zusammenarbeit mit anderen entfaltet hat?
MH: Ich habe Wilber von Anfang an gelesen, mit dem Erscheinen seiner Bücher auf Deutsch, zuerst als Privatangelegenheit. Dann lernte ich im Jahr 2000 Menschen kennen, die sich auch dafür interessierten, und es gab einen „Arbeitskreis Ken Wilber“. Im Internet gab‘s schon Diskussionsforen, da habe ich mich eingemischt, und plötzlich war Wilber zu einer Art öffentlichen Angelegenheit für mich geworden, mit all den Dynamiken, die wir heute aus Diskussionen in den sozialen Medien kennen. Es tauchte die Frage nach Übersetzungen von online Material auf. Ich hab‘ dann was übersetzt und in ein Forum gestellt, das hat die Nachfrage danach noch gesteigert, ich habe mehr übersetzt und auch Artikel geschrieben ... parallel entwickelte sich der „Arbeitskreis“ zu einem Verein mit wachsender Mitgliederzahl, und so bin ich dort in die Medienarbeit hineingerutscht. Aus einem Rundbriefblättchen beginnend etwa 2002 für die Vereinsmitglieder wurden 2006 die integralen perspektiven (ip), und 2007 habe ich dann das Online Journal (OJ) gestartet. An beidem waren über die Zeit auch andere Menschen beteiligt, deren Beitrag ich hier gerne pauschal würdigen möchte. Die ip ist in ihren Beiträgen mehr in die Breite gegangen, das OJ hingegen in die Tiefe, mit längeren Passagen und viel übersetzten Audio- und Videoveröffentlichungen von Wilber. Letztlich verdanken wir das, was wir machen können, ja ihm. Parallel gab‘s noch andere Medienprojekte, wie unser gemeinsames Buch.
SST: Da sind wir irgendwie auch – wie du so schön sagst – „hineingerutscht“. Aus unseren vielen Dialogen über die Bedeutung des Integralen ist 2010 das Buch Wissen, Weisheit, Wirklichkeit -Perspektiven einer integralen Spiritualität entstanden. In diesem gemeinsamen Prozess ist mir eines meiner wesentlichen Lebensthemen bewusst geworden: die Versöhnung von Wissen und Weisheit, von Aufwachen und Aufwachsen. Wie können Aufklärung und Erleuchtung, diese beiden Schätze aus Ost und West, aus Wissenschaft und Mystik, uns endlich beide zur Verfügung stehen? Ohne unseren Dialog und seine Zuspitzung in diesem Buch hätte ich diese Thematik nicht so klar durchdenken, durchfühlen und in die Welt bringen können. Unsere Dialoge und auch die Streitgespräche dabei waren immer sehr fruchtbar – wie sollte das auch anders sein, wenn es wirklich um etwas Essentielles und nicht nur Belangloses geht? Wir haben viele Stationen der Entwicklung des Integralen Forums und auch der DIA miteinander geteilt, und nun verlässt du nach vielen Jahren das Integrale Forum.
MH: Ja, es ist genug, in mehrfacher Hinsicht, doch das ändert nichts an meiner Begeisterung fürs Integrale, das sich seinen ganz eigenen Weg in die Welt bahnt. Das wurde auch deutlich bei meinem Besuch bei Ken Wilber im Dezember 2012. Er ist nun wirklich jemand, der das Integrale leidenschaftlich und offensiv vertritt. Gleichzeitig erzählte er damals locker und entspannt von den Schwierigkeiten, die es macht, so etwas zu organisieren, und wir haben viel gelacht dabei. Ich bleibe natürlich dran am Integralen, möchte aber jetzt mehr Zeit für andere Dinge haben, wie beispielsweise Musik.Für mich war und ist das Integrale auch diesbezüglich ein großer Lehrer. Das Leben geht nicht so, wie ich mir das vorstelle, sondern es entwickelt sich so, wie es sich entwickelt, und das ist wunderbar und faszinierend, wenn man sich darauf einlassen und sich dem hingeben kann. Es ist das faszinierende Wechselspiel zwischen persönlichem Mut zum Handeln und der Demut vor dem, was so viel größer ist als man selbst. Darüber habe ich auch einiges in den „alten Medien“ geschrieben.
Kannst du noch etwas zu den neuen Medien des IF sagen? Wie geht es jetzt weiter, auch was dein Engagement betrifft?
SST: Zunächst möchte ich etwas zu unserer neuen Webseite sagen, die am 1. Oktober freigeschaltet wird. Die Initiative dazu ist ja noch von dir ausgegangen. Erstens werden dadurch all die hervorragenden Beiträge, die vor allem von dir und von vielen anderen übersetzt oder geschrieben worden sind, wieder zugänglich. Die Integrale Bibliothek ist gut strukturiert und hat Suchfunktionen, so dass all die Schätze aus vielen Jahren wieder oder auch neu zugänglich werden. Ich selbst war überrascht, dass ich dort auch meine eigenen Artikel wiederfinde, die ich selbst gar nicht archiviert habe. Grundlagen, vertiefende Beiträge, Anwendungen – alles ist jetzt neu zugänglich. Das verdanken wir dem Team aus Martin Heil und Karl Beer, die mit großem Einsatz über eine lange Zeit daran gearbeitet haben. Gleichzeitig gebührt unserem bisherigen Webmaster Uwe Schramm ein riesengroßes Dankeschön für seine wunderbare Arbeit im IF von Anfang an. Auch die alten Ausgaben der Integralen Perspektiven und des Online-Journals sind gut auffindbar und für alle Mitglieder und Medien-Abonnenten verfügbar.
Ein zweiter Vorteil, den ich als Gründerin und Vorsitzende der DIA sehr schätze, ist: Die DIA Angebote sind jetzt direkt über das Integrale Forum sichtbar. In gewisser Weise ist die Integrale Familie wieder stärker zusammengerückt und kann auch so öffentlich wahrgenommen werden. Unsere Autoren und Referenten sind wieder auf einer Plattform zusammen. So können Menschen, die Seminare besuchen wollen, gleich schauen, was die Referent_innen über ihr Fachgebiet und ihre Arbeit geschrieben haben.
Drittens zu den neuen Medien: Außer dem Bewahren des Vorhandenen geht es ja auch um neue Beiträge, sowohl aus dem europäischen als auch aus dem internationalen Feld, aber auch um die Anwendung des Integralen in allen Lebensbereichen. Gerade in unserer etwas orientierungslosen und fragmentierten Gesellschaft wird eine Integration aus dem besten Wissen unserer Zeit und der Offenheit für das Nicht-Wissen mehr denn je gebraucht. Daher werden wir über die Webseite das bereits Vorhandene bewahren und in regelmäßigen monatlichen bzw. zweimonatlichen Abständen Neues aus dem deutschsprachigen und internationalen Bereich hinzufügen. Ich hoffe, dass unsere Mitglieder und die Abonnenten das zu schätzen wissen und uns Anregungen zur Verbesserung geben. Ich helfe dabei, dass das Vorhaben gelingt, vor allem jetzt, wo du dich neu orientierst. Ich hoffe, dass wir ab 2019 neue und jüngere Autoren (ich bin ja wie du auch schon in die Jahre gekommen) und ein Redaktionsteam finden, das unsere Arbeit mit neuen Impulsen fortsetzt. Ansonsten vertraue ich auf den Prozess und darauf, dass IF, DIA und die EIA zusammen mit anderen integralen Partnern nützlich sind für einen neuen Sprung in der Evolution, für mehr Menschlichkeit untereinander und mit der ganzen lebendigen Welt.
Dir danke ich für unsere jahrelange Zusammenarbeit und freue mich auf weitere Gespräche und auch auf weitere gemeinsame Projekte, egal in welchem Kontext.
MH: Es war, ist und bleibt für mich eine große Freude, mit dir, Sonja, weiter zusammenzuwirken. Danke für alles!