Ken Wilber
Aus: The Religion of Tomorrow Talk 16 Showing up, 2018
Die vier Quadranten werden oft auch als die „Großen Drei“ bezeichnet, wobei die beiden rechtsseitigen Quadranten als das Äußere zusammengefasst werden. Damit ergeben sich die Welten des Ich, des Wir und des Es. Die Welt des subjektiven Ich, die Welt des in Beziehung Seins als dem Wir und die Welt objektiver Fakten und Ereignisse, das Es.
Begibt man sich in eine romantische Beziehung, so bilden das eigene Ich und das des Partners zusammen ein Wir.
Vielleicht bist du gerade in einer romantischen Beziehung, und wenn nicht, dann kennst du vielleicht Menschen, die dies sind. Versuche, dir ein konkretes romantisches Wir vorzustellen. Nehmen wir an, dass du und dein Partner jetzt etwa ein Jahr zusammen sind und ihr beschlossen habt, zusammenzuziehen. Ihr macht euch auf die Suche nach einer Wohnung, d.h. euer Wir macht sich auf die Suche nach einem Es, einer objektiven Sache.
Bemerke nun zuerst den Unterschied zwischen deinem Ich und dem Wir. Spüre den gefühlten Unterschied bei dem Wechsel von einem Ich-Erleben hin zu dem Erleben, Mitglied dieses Wir zu sein.
Werde dir zuerst deiner selbst gewahr. Werde dir dann deines Partners gewahr. Machen dir dann bewusst, wie ihr beide zusammenkommt. Wenn es sich um ein romantisches Wir handelt, das spürst du wahrscheinlich Aufregung und Liebe, vor allem wenn die Beziehung noch frisch ist. Dein Ich als ein Teil dieses Wir fühlt sich gut an. Bemerke auch, wie in diesem Wir-Raum ständig gegenseitig die Perspektive des anderen eingenommen wird, in einem andauernden Versuch, den anderen zu verstehen. Du schaust nicht nur auf deinen Partner, sondern stellst dir vor, wie dein Partner auf dich schaut. Durch dieses wechselseitig aufeinander Eingehen entsteht die Wirklichkeit dieses Wir. Ihr schaut nicht aufeinander, sondern macht euch auch klar wie es ist, als der andere zu schauen. Diese Verwendung von „auf“ und „als“ ist das gegenseitige Verstehen, welches dieses Wir konstituiert. Bemerke ebenso beim Eintritt in dieses Wir, dass du bestimmte Tendenzen und Verlangen bei dir begrenzen musst. Einiges von dem, wie du die Dinge gewöhnlicher Weise alleine machst, musst du vielleicht aufgeben. Was dabei immer offensichtlicher wird ist, dass es Irritationen gibt um die du dich wirklich kümmern musst, wenn die Dinge in dieser Wir-Beziehung sich nicht in eine schlechte Richtung entwickeln sollen. Worauf du besonders achten solltest, ist eine Verwechslung deiner Ich-Wünsche mit Es-Fakten. Wenn ich Vanilleeis Schokoladeneis vorziehe und sage, dass Vanille der beste Geschmack ist, dann ist das objektiv nicht wahr. Objektiv wahr ist, dass ich Vanille bevorzuge und dass meiner Meinung nach Vanille am besten schmeckt. Doch wenn ich generell behaupte, dass Vanille am besten ist, verwechsle ich subjektive Ich-Meinung mit einer objektiven Es-Wahrheit. Ich setzte Ich mit Es gleich, und das macht aus meiner bloßen Meinung und Vorliebe eine universelle Wahrheit. Dies scheint ein eher triviales Beispiel zu sein, doch vor allem wenn Paare in einen Streit geraten, geht es fast immer um diese Dynamik. Erlebe ich meinen Partner beispielsweise als kontrollierend oder dominierend und sage: „Schatz, ich erlebe dich als kontrollierend.“, dann ist das etwas anderes als wenn ich sage: „Du bist jemand, der alles und jeden kontrolliert.“ Die zweite Aussage gibt eine Es-Tatsache wieder und keine Ich-Meinung. Dann ist es oft so, dass der Partner seinerseits mit einer Ich-Meinung in Form einer Es-Tatsache reagiert: „Du bist ein notorischer Lügner.“ In beiden Fällen werden aus persönlichen Vorlieben und Meinungen objektive Fakten gemacht. Aus diesem Grund wird fast überall in Paarberatungen geraten, in Ich-Aussagen zu sprechen. Damit werden die eigenen Ich-Meinungen von Es-Fakten unterschieden. Dabei wird deutlich, dass Streitgesprächen Meinungen zu Grunde liegen und nicht Fakten. Wirkliche Fakten führen nicht zur Diskussion, sie sind einfach das, was sie sind. Aussagen, die als faktische Feststellungen daherkommen, lassen dem anderen keinen Spielraum, anders als bei Ich-Aussagen. Enthält eine Aussage sowohl Meinungen als auch Fakten, dann ist es wichtig beides voneinander zu unterscheiden, um sich dann auf den Meinungsanteil konzentrieren zu können. Je narzisstischer wir sind, desto wahrscheinlicher werden wir unsere Ich-Meinungen als Es-Fakten präsentieren. Dies entspricht einer „ich habe immer recht“ Mentalität oder: „Das letzte Mal, wo ich falsch lag, war, als ich dachte, ich hätte einen Fehler gemacht.“ Es ist erstaunlich wie oft uns so etwas passiert. Die Differenzierung des Ich vom Es und des Es vom Ich ist von großer Bedeutung und ein wichtiger Teil einer authentischen Vier-Quadranten Bewusstheit.
Von gleich großer Bedeutung ist in Beziehungen die Unterscheidung des Ich und des Wir. Geschieht das nicht, können folgende zwei Dinge passieren: Zum einen geschieht eine Gleichsetzung von dem, was das Wir möchte, mit dem, was das Ich möchte, das heißt eine Beherrschung des Wir durch das eigene Ich. Hierzu neigen Männer tendenziell mehr als Frauen. Daher ist die nächste Entscheidung, die du und dein Partner treffen möchten, eine gute Gelegenheit, sich ganz genau das Zustandekommen dieser Entscheidung anzuschauen und sich die Frage zu stellen, ob es etwas ist, was ihr beide wirklich machen wollt, oder ob es etwas ist, was nur du machen möchtest und dein Partner nicht. Geschieht das öfter, dann musst du dich darum kümmern, weil dadurch die Wir-Beziehung ernsthaft gefährdet wird.
Bist du derjenige, der das Wir dominiert oder zu sehr kontrolliert, dann ist es Zeit, dass du dich um dein Ich kümmerst, in Form von Schattenarbeit.
Wird jedoch der Wir-Raum von deinem Partner dominiert, und das erleben Frauen tendenziell öfter als Männer, dann ist es geboten, deinen Partner damit zu konfrontieren, und in einem schwerwiegenden Fall kann eine Paarberatung notwendig sein. Du kannst aber auch sofort damit beginnen, unter Verwendung von Ich-Aussagen deinem Partner das Thema näher zu bringen. Traditionell werden Frauen zu einer passiven und sich anpassenden Rolle gedrängt und der Ursprungsimpuls des Feminismus bestand darin, Frauen zu ihrer eigenen Autonomie und Stimme zu verhelfen und sich nicht mehr nur durch ihre Beziehungen zu definieren, sondern durch ihre eigenen Ziele, Wünsche und Werte – nicht den Arzt zu heiraten, sondern selber Ärztin zu sein. Gleichzeitig ist die für den Mann vorgesehene Rolle des erfolgreichen Versorgers auch kein erstrebenswerter Stereotyp, so dass beide Geschlechter hier etwas gewinnen können. Doch wenn dein Partner den Wir-Raum dominiert, dominiert er gleichzeitig dein Ich, und das ist schlicht inakzeptabel.
Eine Vier-Quadranten Bewusstheit kann dir dabei helfen, diese Themen in deinem Leben zu entdecken und zu verfolgen.
Das Ausbalancieren des Wir-Raumes mit jedem seiner einzelnen Ich-Räume ist ein andauerndes Thema in jeder Beziehung.
Erfolgreich damit umzugehen beginnt mit einer vollständigen Differenzierung des eigenen Ich-Raumes von dem des Partners und deren Zusammentreffen in einem Wir-Raum. Zusätzlich davon zu unterscheiden ist noch der Es-Raum. Diese unterscheidende Intelligenz ist eine ganz wesentliche Fähigkeit, und so bekommen diese auf den ersten Blick ziemlich abstrakten Darstellungen über Quadranten, Perspektiven und Dimensionen eine ganz konkrete Relevanz für das eigene Leben, Tag für Tag und sehr persönlich. Es geht also wirklich darum, die Welten von Ich, Wir und Es ausreichend differenzieren zu können, um sie dann auch angemessen integrieren zu können, unmittelbar im eigenen Leben.
In Kurzform:
- mache dir deinen Ich-Raum bewusst
- mache dir den Ich-Raum deines Partners bewusst
- mache dir deine Sicht auf euren Wir-Raum bewusst
- mache dir bewusst, welche Ansicht du darüber hast, wie dein Partner den Wir-Raum erlebt
Alle diese Perspektiven sind sehr real. Sie erscheinen ständig und haben einen fortwährenden Einfluss auf uns. Bemerke, wie selten wir uns ihrer bewusst sind.