Aus: Ken Wilber, Terry Patten, Adam Leonard, Marco Morelli, Integrale Lebenspraxis, 2008
Integrale Ethik ist, wie jede richtige Ethik, die Kunst, ein guter Mensch zu sein. Sie ist die Praxis des Guten in unserem Alltagsleben, wozu alle Eigenschaften gehören, die für unsere Integrität wesentlich sind, wie Ehrlichkeit, Authentizität, liebevolle Fürsorge für andere und Mut. Integrale Ethik verweist auch auf die Bereiche unseres Lebens, in denen wir schwierige und komplizierte Entscheidungen sowie differenzierte Urteile darüber fällen müssen, was richtig und falsch, akzeptabel und unakzeptabel sowie oft zwangsläufig auch ziemlich widersprüchlich ist. Es geht hier um den Kampf mit moralischen Dilemmas in Politik, Sexualität, Gesundheit, Beziehungen, Arbeit, Finanzen und manchmal auch in Situationen auf Leben und Tod.
Integrale Ethik maßt sich nicht an, uns vorzuschreiben, wie wir leben oder welche Antworten auf unsere moralischen Fragen wir haben sollen. Vielmehr gibt sie uns einen Bezugsrahmen für das Nachdenken darüber, wie wir nach bestem Vermögen leben und moralische Entscheidungen treffen können. Mithilfe der bereits bekannten Elemente, die AQAL unterscheidet – Quadranten, Ebenen, Linien, Zustände und Typen –, hat integrale Ethik auch sinnvolle Erklärungen dafür, dass Menschen unterschiedliche Formen von Ethik vertreten.
An erster Stelle aber ist integrale Ethik eine Praxis – ein evolutionäres Bestreben mit offenem Ausgang, in jedem Augenblick unseres Lebens aufrichtige Anteilnahme zu praktizieren und unsere tiefsten intuitiven Erkenntnisse über das „Gute“ in unserem Leben und der Welt als Ganzes zu verwirklichen.
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Bei konventioneller Ethik geht es darum, die eigenen Impulse zu zähmen und sich höheren Richtlinien zu unterwerfen. Dabei entwickeln wir grundlegende Fähigkeiten, die wir als „moralische Muskeln“ bezeichnen können. Auf den ersten Stufen konventioneller Ethik üben wir uns vor allem in Gehorsam, während bei einer reiferen konventionellen Ethik die Betonung auf der Verantwortung liegt, die wir für die Werte der Gruppe haben, der wir angehören.
Frühe postkonventionelle Ethik neigt dazu, sich auf ausgewählte Werte wie Entscheidungsfreiheit, Kompetenz und selbstständiges Urteilen zu konzentrieren. Individuen mit einer postkonventionellen Ethik haben keine Angst, in der Masse allein dazustehen und sich von moralischer Unterdrückung zu befreien. Menschen mit einer reiferen postkonventionellen Ethik haben ein liebevolles, feines Empfinden für andere, aus dem sich das verantwortungsvolle Gefühl ergeben kann, andere zu führen und ihnen zu dienen.
Integrale Ethik verkörperte die Intelligenz und die Fähigkeit aller ethischen Ebenen. Sie ist getragen von Leichtigkeit und Großzügigkeit, statt durch Schwere oder alte Schuldgefühle belastet zu sein. Auch wenn wir uns in diesem Abschnitt [des Buches] den Preis von ethischen Entgleisungen vor Augen geführt und uns klargemacht haben, wie wichtig es ist, in jedem Augenblick intelligente Fürsorge zum Ausdruck zu bringen: Wir bitten Sie, sich an diese Vorgaben nicht kindisch zu halten, als handele es sich hier um strikte Gebote ihrer inneren Eltern.
Beachten Sie, dass integrale Ethik uns die Chance gibt, glückliche und freie Menschen zu sein. Wir sind eingeladen, Ethik im Geiste liebevoller Neugier mit Intelligenz und leidenschaftlicher Lebendigkeit zu praktizieren. Es geht nicht darum, Ihre festverwurzelten Pflichtgefühle womöglich noch zu verstärken. Ihre Praxis ist ethisch, wenn sie mit Herzlichkeit, Fürsorglichkeit und Großzügigkeit einhergeht, getragen von einem Geist, der entschlossen ist, sich immer wieder auch für die eigene Freiheit und den eigenen Ausdruck zu entscheiden. Nehmen Sie sich die Freiheit, immer fürsorglicher zu sein. Wachsen Sie freudig in immer tiefere, sich ständig weiter entfaltende Schichten von Freiheit und Verantwortung hinein.