Aus: Ken Wilber, Quantum Questions, 1984
Das Thema dieses Buches – ich fasse die Aussagen der Physiker, welche ich in diesem Buch vorstelle, zusammen – ist, dass die moderne Physik in keiner Weise eine mystische Weltsicht unterstützt (geschweige denn einen Beweis für sie liefert). Dennoch war jeder der Physiker dieses Buches ein Mystiker. Sie alle waren davon überzeugt, dass die moderne Physik einer religiösen Weltsicht nicht entgegensteht, sie aber auch nicht unterstützt – sie verhält sich ihr gegenüber indifferent.
Das Publikum, das ich mit diesem Buch erreichen möchte, ist das gleiche Publikum, welches die Physiker erreichen wollen: die konventionelle, etablierte Öffentlichkeit; Männer und Frauen, die davon überzeugt sind, dass die Naturwissenschaften alle lohnenden Fragen beantworten kann. In diesem konventionellen Geist möchte ich einfach an sie, die sie eine unvoreingenommene Wahrheitssuche vorantreiben, die Frage stellen; an sie – ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht –, die sie das Antlitz der Zukunft durch ihr wissenschaftliches Wissen gestalten; an sie, die sie – wenn ich das so sagen darf – sich vor der Physik verneigen als wäre sie selbst eine Religion; an sie möchte ich die Frage stellen: Was bedeutet es, dass die Gründer der modernen Wissenschaft – die Theoretiker und Forscher, welche in diesem Buch vorgestellt werden – was bedeutet es, dass sie alle, jeder einzelne von ihnen, ein Mystiker war?
Das letzte was diese Physiker möchten ist, dass sie ihren kritischen Intellekt aufgeben, ihren schwer erkämpften Skeptizismus. Es war genau dieser andauernde Skeptizismus – nicht das Gefühl, nicht die Intuition und nicht das Vertrauen, sondern ein ausdauernder Gebrauch des kritischen Intellektes –, welcher diese großartigen Physiker von der Notwendigkeit überzeugte, über die Physik hinauszugehen.
Um es kurz und knapp zu sagen: Physik handelt von den Schatten [Platon’s Höhlengleichnis]; über die Schatten hinauszugehen bedeutet, über die Physik hinauszugehen; über die Physik hinauszugehen bedeutet eine Orientierung hin zum Metaphysischen oder Mystischen – und das ist der Grund, warum viele der Pioniere einer neuen Physik Mystiker waren. Die neue Physik lieferte keinen Beitrag zu dieser mystischen Unternehmung, mit Ausnahme eines spektakulären Versagens, und aus den rauchenden Trümmern dieses Versagens erhebt sich sanft der Geist einer Mystik.
Im Vorwort habe ich geschrieben, das der Versuch, Mystik mit der modernen Physik zu „beweisen“ nicht nur falsch, sondern eine Abwertung authentischer Mystik ist. Der Versuch selbst ist verständlich – diejenigen, welche einen direkten Einblick in das Mystische hatten, wissen, wie real und tiefgründig es ist. Es ist jedoch sehr schwierig Skeptiker von der Tatsache zu überzeugen, dass es eine große und reizvolle Versuchung darstellt, zu behaupten, dass Physik – die „wirklich wirkliche“ Wissenschaft – Mystik unterstützt. Ich habe genau dies in meinen frühen Schriften getan. Doch es ist ein Fehler und es ist eine Herabwertung und verursacht auf lange Sicht gesehen mehr Schaden als Nutzen, und zwar aus folgenden Gründen:
- Zeitliche, relative und endliche Wahrheit wird mit ewig-absoluter Wahrheit verwechselt.
- Die Überzeugung wird gefördert, dass alles, was für ein mystisches Bewusstsein erforderlich ist, darin besteht, eine neue Weltsicht zu lernen. Da Physik und Mystik ja einfach nur zwei unterschiedliche Ansätze gegenüber ein und derselben Wirklichkeit sind, warum soll man sich dann viele Jahre mit beschwerlichen Meditationen abgeben?
- Die größte Ironie dabei ist, dass dieser Ansatz zutiefst reduktionistisch ist. Es wird gesagt, dass alle Dinge letztendlich aus subatomaren Teilchen bestehen und dass subatomare Teilchen holistisch sind und sich gegenseitig wechselseitig beeinflussen und alle Dinge daher ein holistisches Ganzes sind, so wie die Mystiker das sagen. Aber alle Dinge bestehen letztendlich nicht aus subatomaren Partikeln. Alle Dinge, einschließlich subatomarer Partikel, bestehen letztendlich aus Gott.