Ken Wilber

(Übersetzung: Michael Habecker)

Quelle: http://www.kenwilber.com/Writings/PDF/A-Who%20Ate%20Captain%20Cook.pdf
Sidebar A: Who Ate Captain Cook? Integral Historiography in a Postmodern Age

(Ein Hinweis zu diesem Text: mit der Veröffentlichung seines Romans Boomeritis 2002 hat Ken Wilber eine Serie von so genannten „sidebars“ veröffentlicht, die im Buch nicht enthalten sind, die jedoch im Stil des Buches und unter Verwendung der Charaktere geschrieben sind. Im Roman geht es um einen jungen Studenten „Ken Wilber“, der an einem „Integral Center“ Vorlesungen zu unterschiedlichen Themen hört, die sich kritisch zu „Boomeritis“ äußern als einer Pathologie der Postmoderne und gleichzeitig Bezug nehmen zur integralen Theorie. Zur besseren Lesbarkeit wurden in den Text Zwischenüberschriften eingefügt).

Einführung

Carla Fuente gab eine ausführliche Anmerkung zum Thema „integrale Historiografie1,“ worin ich mich nicht besonders auskenne, doch einiges davon ließ mich aufmerken, und so machte ich mich wie immer mit Feuereifer daran, Kim's Notizen abzuschreiben. Ich notierte auch meine eigenen Eindrücke. Mein Interesse wurde durch den Titel geweckt, „Wer aß Kapitän Cook?“ - sie rösteten und aßen tatsächlich den armen alten James Cook - und warum dies geschah, ist anscheinend Gegenstand einer großen Debatte der Historiografie dieses Jahrzehnts, also die Untersuchung darüber, wie Geschichte zu interpretieren ist (und andere Kulturen ganz allgemein). Dabei war es wahrscheinlich wenig hilfreich, dass ich mir gerade Hannibal angeschaut habe. Wie auch immer, Fuentes hielt einen ihrer berühmten Feuer-dem-Feuer Vorträge zum Thema.

Künstliche Intelligenz und die vier Quadranten

Während dieses Seminars redeten die Professoren in den verschiedenen Anmerkungen über „die vier Quadranten“. Fuentes erklärte uns dann endlich, worum es dabei geht, wobei die Tatsache, dass „vier“ und „Quadrant“ redundant sind, anscheinend niemandem etwas ausmachte. Nach dem, was ichverstanden habe, ist die Existenz der vier Quadranten eine weitere schlechte Nachricht für die Künstliche Intelligenz (KI). Ich habe bereits verstanden, dass KI große Probleme hat, weil es im Flachland feststeckt, gefangen im Versagen des Erfassens des Spektrums des Bewusstseins. Doch jetzt, wenn ich Fuentes richtig verstanden habe, ist das innere Spektrum des Bewusstseins eines Individuums nur einer von vier Quadranten, und KI versteht auch davon nicht viel.
Was KI recht gut zu erfassen scheint, ist die computerisierte und kognitive Repräsentation äußerer Objekte - was IC [Integral Center] als den oberen rechten Quadranten bezeichnet. Doch KI versagt - soweit ich weiß - bei der Erfassung oder dem Anerkennen der Innerlichkeit von Individuen bzw. der ganzen Spirale der Entwicklung, was sie den oberen linken Quadranten nennen; und es versagt bei der Erfassung der gemeinschaftlichen Quadranten, sowohl kulturell als auch sozial bzw. dem unteren linken und dem unteren rechten Quadranten. Das übertraf meine schlimmsten Vorstellungen. Die IC Leute sagen immer wieder, dass „Bewusstsein über alle vier Quadranten verteilt ist“. Was immer das auch bedeuten mag, es bedeutet jedenfalls, dass KI tief im Schlamassel steckt.
Egal, wir bei KI wussten bereits, dass KI große Schwierigkeiten bei der Softwareerstellung hat, wenn es darum geht, nuancierte Interpretationen auszuführen. Die vier Quadranten weisen darauf hin, dass jede Interpretation auch einen kulturellen Hintergrund und ein soziales System erfordert und daher ist es so, dass, so lange wir keinen Weg finden, wie KI in eine eigene Kultur hineinwachsen kann, wirkliche Intelligenz dort niemals produziert werden wird. Wenn das, was ich hinsichtlich der vier Quadranten verstanden habe, stimmt, dann braucht es zur Schaffung einer voll funktionierenden KI (1) eine entsprechende, sich selbst reproduzierende Hardware mit praktisch unbegrenzter Speicherkapazität, die sich selbst entsprechend den Erfordernissen des eigenen Inneren umstrukturieren kann. Weiterhin braucht es die Schaffung einer Software, welche adäquat die objektive sensorisch-motorische Welt abbildet und in der Lage ist, in dieser Welt zu lernen und kreativ zu sein. Diese Hardware-Software und ihre objektiv rechnerischen Vorgehensweisen wären der obere rechte Quadrant, und bisher ist dieser der einzige der vier Quadranten, den KI anerkennt. (2) Das würde bedeuten, Hardware und Software zu erschaffen, welche den Innerlichkeiten, dem wirklichen Selbstbewusstsein zu emergieren erlaubt, um dann an den Punkt der Selbstbewusstheit zu gelangen, an dem die Evolution durch die eigenen Spirale der Entwicklung geschieht (der obere linke Quadrant). Doch hier kommt der Albtraum der KI: (3) individuelle innere Evolution ereignet sich nur in einer Gemeinschaft des gegenseitigen Verstehens mit Individuen gleicher Tiefe (der untere linke Quadrant), und dann (4) müsste diese kulturelle intersubjektive Dimension zusammen mit einem äußeren sozialen System existieren, welches sie unterstützt (der untere rechte Quadrant). Eine derartige KI muss – vorsichtig formuliert - erst noch geschnitzt werden!
Aber meine Gedanken greifen laufend der Geschichte bereits voraus. Hier kommt der Vortrag von Fuentes, der die Quadranten vorstellt und auf die Interpretation von Geschichte anwendet, und ein herrliches Menü beschreibt, mit Kapitän Cook als Hauptgang. Wie das nun genau mit KI zusammenhängt, ist etwas, worüber ich definitiv nachdenken muss ...

Integrale Historiografie

Carla Fuentes: „Wenn wir über eine integrale Historiografie sprechen, was meinen wir damit? Die kurze technische Antwort lautet: ein ‚alle Quadranten, alle Ebenen, alle Linien, alle Zustände alle Typen’ Ansatz beim Studium von Geschichte. Natürlich würde so ein integraler Ansatz, wenn er einigermaßen vollständig sein soll, Duzende, Hunderte, ja Tausende von Variablen zu berücksichtigen haben. Dennoch können wir, unter Verwendung des allgemeinen Rahmens, einfache, integral-historische Studien betreiben, die unser Verständnis von Geschichte auf eine bedeutende und grundlegende Weise fördern. Ich möchte zuerst kurz auf die Bedeutung von Quadranten, Ebenen, Linien, Zustände und Typen eingehen, und erläutern, worum es dabei im Hinblick auf Geschichtsinterpretationen geht [...]
Die Quadranten ... tragen der Tatsache Rechnung, dass jedes Ereignis von (mindestens) vier Hauptperspektiven aus betrachtet werden kann, welche vier konkrete Dimensionen oder Ereignisse repräsentieren: Ich kann auf das Innere und das Äußere des Individuellen und des Kollektiven schauen, und das gibt mir vier Grundansichten, die für ein integrales oder umfassendes Verständnis dieses Ereignisses zu berücksichtigen sind.

Beispiel: Schimpansen

Nehmen wir an, ich würde einen Schimpansen studieren – aus welchen Grund auch immer. Ich kann den Schimpansen sowohl als ein Individuum als auch als ein Mitglied einer Gruppe betrachten. Für das Äußere des Individuellen genügt es, das beobachtbare, empirische Verhalten zu beschreiben, während er seinen täglichen Verrichtungen nachgeht. Um aber sein Inneres zu verstehen, muss ich versuchen herauszufinden, was ihn motiviert, was seine Wünsche sind, welche rudimentären Gefühle er haben könnte, welches proto-Wertesystem er aufgebaut hat, und so weiter. Viele von euch wissen, dass Schimpansen ein komplexes System von Symbolen und Zeichen verwenden, was nahe legt, dass es eine Art von innerem Verständnis dieser Symbole gibt – es gibt so etwas wie Bewusstsein, Bedeutung und Intentionalität.
Das beobachtbare Verhalten des Schimpansen nennen wir den oberen rechten Quadranten und das innere Bewusstsein (zusammen mit seinen Symbolen, Bedeutungen, Werten und Motivationen) nennen wir den oberen linken Quadranten. Damit erhalten wir zwei sehr unterschiedliche Ansätze, den Schimpansen zu verstehen, der eine ist Behaviorismus, der andere Hermeneutik; ersterer beschreibt, was eine Einheit tut, letzterer versucht die Bedeutung zu verstehen.
Gehen wir noch einen Schritt weiter. Kein Schimpanse existiert als Insel für sich..., kein Individuum entwickelt sich – und existiert – nur aus sich selbst heraus. Ein Schimpanse muss daher nicht nur als eine Einheit für sich studiert werden, sondern als ein Teil anderer Ganzheiten, z.B. als ein Gruppenmitglied (einer Gruppe, welche ihrerseits wiederum Teil noch größerer Gruppen ist, ad infinitum). Und die Gruppe kann wiederum – wie das Individuum – von außen und von innen betrachtet werden.
Beim Studium von außerhalb beschreibt man einfach so sorgfältig wie möglich das Verhalten der Gruppe (wie auch beim Studium eines Individuums von außen, wo man das individuelle Verhalten so sorgfältig wie möglich beschreibt). Dazu gehören die Muster der Reproduktion dieser Gruppe, Essgewohnheiten, tägliche Aktivitäten, saisonale Wanderwege, Todes- und Sterberaten usw. Man kann jedoch auch den Versuch unternehmen, die Gruppe von innen her zu verstehen. Das heißt, wenn ein individueller Schimpanse eine Art von proto-Bedeutungen und Wertesysteme hat (woran niemand zweifelt), dann teilt dieser Schimpanse sicherlich diese Bedeutungen mit seinen Stammesgenossen, ja, er konnte diese, seine Bedeutungen und Werte nur durch ein gegenseitiges Verstehen mit den anderen Gruppenmitgliedern entwickeln.
Wenn man das Äußere des Kollektiven also studiert, dann fragt man, was tut es?‘, wenn man das Innere studiert, fragt man ‚was bedeutet es?’
Natürlich ist der Versuch, die Werte einer Gruppe zu verstehen, nicht so einfach – aber, Leute, die Interpretation von Werten eines jeden ‚Anderen’ ist verdammt hart! [...] Und darum geht es bei den Kulturkriegen, speziell wenn es um Geschichte geht! Die Forscherinnen, die wir im Bereich der Primatenforschung bewundern – Forscherinnen wie Jane Godall – sind genau diejenigen, welche sorgfältig und exakt alle vier Quadranten auf die bewussten Wesen anwenden, welche sie studierten. Sie beschrieben das äußere Verhalten des Individuums und der Gruppe, aber sie versuchten ebenso einige der inneren Bedeutungen und Werte zu finden und auch zu teilen, sowohl der Individuen als auch der Gruppe. Was man natürlich nicht möchte ist, das Innere von Schimpansen zu vermenschlichen; aber ebenso wenig möchte man anthropozentrisch leugnen, dass andere Tiere Innerlichkeit haben! Wenn man also gegenüber bewussten Wesen – einschließlich menschlicher Wesen und ihrer Geschichte – einen integralen Ansatz verwendet, dann sollte man alle vier Quadranten berücksichtigen: das Innere und das Äußere des Individuellen und Kollektiven. [...]

Geschichte

Okay, jetzt nehmen wir dies und wenden es auf das Studium von Geschichte an, welche zu allererst das Studium eines Anderen ist. Entweder eines Anderem in einem (kulturellen) Raum, oder eines Anderen in (historischer) Zeit. Oder beides. Wenn wir andere Gruppen studieren, sind es zumindest räumlich Andere, welche von uns durch irgendeine Art von Entfernung getrennt sind; und es sind oft Andere in zeitlicher Hinsicht, durch die Geschichte von uns getrennt. Studieren wir unsere eigene Geschichte, dann studieren wir ebenfalls ein Anderes in der Zeit: und zwar uns selbst, so wie wir gestern waren; und der konkrete Raum hat sich in gewisser Weise auch geändert, nicht wahr? … Die gesamte Geschichte ist das Studium eines Anderen in der Raum/Zeit. Um ein Anderes in der Raumzeit verstehen zu können, brauchen wir die vier Quadranten. [...]

Ein Historikerstreit

Wir können uns das auf eine sehr viel amüsantere Weise veranschaulichen, in dem wir den aktuellen Futterstreit in der Anthropologie zwischen Marshall Sahlins und Grananath Obeyesekere betrachten. Dies war und ist – es geht immer noch weiter – der lustigste, schärfste und gemeinste Streit in diesem Bereich seit den 80ern, wo Derek Freeman Margaret Mead auseinander nahm. Um das ganze noch interessanter zu machen - die gegenwärtige Auseinandersetzung lebt praktisch ausschließlich von der Tatsache, dass keiner dieser beiden ehrenwerten Herren integral vorgeht, und sie beide daher die jeweils wahre Hälfte ihres Standpunktes nehmen, um die jeweils falsche Hälfte der gegnerischen Position zu zerstören. Logischerweise sind beide der Meinung, sie hätten die Debatte gewonnen. In gewisser Weise stimmt das auch – beide haben jeweils zur Hälfte gewonnen. Aber sie haben die ganz wichtige andere Hälfte der Geschichte ausgelassen.
Ihr Streit ist in Wahrheit die gängige Auseinandersetzung der heutigen akademischen Kulturkriege: der Kampf zwischen Fakten und Interpretationen; oder zwischen ‚wissenschaftlicher Historiografie’ und ‚hermeneutischer Historiografie’; oder zwischen der Moderne und der Postmoderne; oder zwischen orange und grün; oder zwischen den rechtsseitigen und den linksseitigen Ansätzen. Es läuft auf folgendes hinaus: Auf der einen Seite (d. h. der rechtsseitigen Seite) haben wir die Moderne, das orange, wissenschaftliche Mem, welches völlig davon überzeugt ist, dass es in der Welt nur empirische Fakten gibt (‚Die Welt ist die Gesamtsumme aller Fakten’, wie es die logischen Positivisten formulieren würden). Demnach gibt es nur einen einzigen, wahren, universellen, empirischen Bericht der Geschichte, der die Dinge so erzählt ‚wie sie wirklich waren’. Auf der anderen Seite (d.h. der linksseitigen Seite) haben wir die Postmoderne, das grüne, pluralistische Mem, welches glaubt, dass es keine Fakten, sondern nur Interpretationen gibt, und folglich der Meinung ist, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt und auch keine einzelne Metaerzählung, welche über die Geschichte oder ihre Interpretationen herrscht. Stattdessen gibt es verschiedene lokale Geschichten, und keine von ihnen kann auf ein universell abstraktes Rahmenwerk reduziert werden. Demzufolge entdecken wir nicht Geschichte, sondern erfinden sie, wir schaffen sie als unsere eigenen Interpretationen. Beide Lager verachten einander.
Und beide haben halb recht und halb unrecht. Es ist kein Wettbewerb zwischen Fakten versus Interpretationen – es ist kein Wettbewerb zwischen ‚es gibt keine Interpretationen, sondern nur Fakten’ und ‚es gibt keine Fakten, sondern nur Interpretationen’. Sowohl Fakten als auch Interpretationen sind integraler Bestandteil eines jeden Ereignisses, weil jedes Ereignis Dimensionen der rechten wie auch der linken Seite hat.

Fakten und Interpretationen

Fakten – also die objektiven sensorimotorischen Aspekte eines jeden Ereignisses (d.h. die äußeren Aspekte sowohl von Individuen als auch von Gemeinschaften – bzw. der obere rechte und untere rechte Quadrant) – diese Aspekte präsentieren sich in der Tat als Fakten, als objektiv reale Ereignisse – und sie sind alles in allem objektive Fakten (bzw. sehr nahe daran!). Ein Diamant schneidet Glas, unabhängig von der Kultur, in welcher er gefunden wird. Auch die Äpfel fallen in jeder Kultur nach unten von den Bäumen. Dies sind Fakten und keine Interpretationen. Fakten gründen sich in einer ausreichend guten Objektivität (wie alle Ereignisse der rechten Seite). So viel zu diesem Thema [...]
Aber alle Äußerlichkeiten haben Innerlichkeiten; alle Fakten haben Interpretationen. Wir können bei keinem Ereignis die Fakten von den Interpretationen trennen; dies bedeutet jedoch nicht, dass wir daher den Unterschied zwischen ihnen leugnen und diese falsche Verschwommenheit dafür benutzen, einen von ihnen zu verwerfen, was jedoch genau dasjenige ist, was beide Parteien tun. Orange behauptet lediglich, die Fakten zu präsentieren und klammert die Interpretationen aus (was wiederum die Art und Weise ist, wie orange selbst die Welt interpretiert!). Grün hingegen verwirft die Fakten und besteht darauf, dass es nur Interpretationen gibt (diese Behauptung wird mit dem Anspruch einer faktischen Wahrheit aufgestellt, eine Wahrheit gültig für alle Kulturen!). [...]
Das IC schlägt nun folgendes vor: unter Verwendung empirischer, objektiver und wissenschaftlicher Methoden kann man sich jedem Ereignis in dem Versuch annähern, seine äußeren, objektiven und ‚faktischen’ Merkmale festzustellen. Alle rechtsseitigen Aspekte von Ereignissen sind in diesem Sinn konkret faktisch; sie sind im sensomotorischen Raum lokalisiert, man kann sie mehr oder weniger sehen, berühren, fühlen und erfassen. Atome, Moleküle, Zellen, Organismen, Ökosysteme, Produktionsmethoden (Jagen und Sammeln, Gartenbau, Agrarwirtschaft, industriell), die Biosphäre – dies alles kann man sehen. Das ist empirisch und vorhanden. Ein Apfel fällt in einer Kultur der Jäger und Sammler mit der gleichen Beschleunigung vom Baum wie in einer Gartenbaukultur oder in einer Industriegesellschaft. Selbst ein Postmodernist wird einem herannahenden Bus ausweichen, weil dieser Bus eine Tatsache ist und keine Interpretation! Ich glaube einem extremen Postmodernisten erst dann, wenn er oder sie einem herannahenden Bus nicht ausweicht mit dem Hinweis, dass dieser Bus kein Faktum sondern eine Interpretation ist. Ich werde mich dann bei der Leiche entschuldigen und ihr Recht geben. [...]
Der Punkt ist der, dass eine ausreichende Objektivität in den rechtsseitigen Quadranten herrscht. Die orange-wissenschaftlichen Ansätze gegenüber der Geschichte widmen sich der Entdeckung (und nicht der Erfindung) dieser objektiven Fakten. Das ist absolut angemessen und richtig, so weit wie es geht.
Was diese Objekte jedoch bedeuten, nun, das ist eine Angelegenheit der linken Seite: eine Sache von Innerlichkeit, Hermeneutik, Bewusstsein und Introspektion, gegenseitigem Verstehen, gemeinschaftlich geteilten Bedeutungen, Werten und Motivationen und kulturellen Kontexten. Nicht mehr nur ‚was tut es?’ sondern ‚was bedeutet es?’. Und an diesem Punkt versagt die Naturwissenschaft praktisch vollständig. Bedeutungen kann man nicht sehen, sie sind nicht empirisch. Man kann sie weder mit einem Mikroskop, einem Teleskop, einer photographischen Platte usw. entdecken. Bedeutung, Wert, gegenseitiges Verstehen, Interpretation – all dies fällt durch das Netz der engen empirischen Wissenschaft hindurch. Dies ist die Domäne der linksseitigen Ansätze – Phänomenologie, Hermeneutik, gegenseitigem Verständnis, Introspektion, Interpretation, empathischer Resonanz. Was bedeutet es? Sowohl für mich als für den Anderen?
Weiterhin scheint es viele verschiedene Typen und sogar Ebenen der Interpretation zu geben. Wir haben hilfsweise das Modell von Spiral Dynamics verwendet (ohne die Nützlichkeit anderer Modelle zu verneinen). Verwenden wir Spiral Dynamics als ein Beispiel für ein mögliches interpretierendes Repertoire, dann gibt es für jedes gegebene sensomotorische Faktum eine rote Interpretation seiner Bedeutung, eine blaue Interpretation seiner Bedeutung, eine orange Interpretation seiner Bedeutung, eine grüne Interpretation seiner Bedeutung, eine gelbe Interpretation seiner Bedeutung, und so weiter. Dies bedeutet nicht, dass das sensomotorische Faktum nicht vorhanden wäre; es bedeutet lediglich, dass Bedeutung und Wertung des Faktums in der Stufe (der konkreten Struktur) des Bewusstseins zu Hause sind, welches das Faktum wahrnimmt. Eine integrale Historiografie würde all dies berücksichtigen – sie würde die gewaltige Ansammlung rechtsseitiger Fakten berücksichtigen, und ebenso das gesamte Spektrum linksseitiger Interpretationen – wie ich an verschiedenen Beispielen demonstrieren möchte – speziell am Sahlins-Obeyesekere Futterstreit. [...]

Beispiel Columbus

Beginnen wir mit einem sehr einfachen Beispiel, um zu zeigen worum es geht. Nehmen wir Christoph Kolumbus. Die Fakten sind wie folgt: Kolumbus wurde in Genua, Italien, 1451 geboren; Mitte der siebziger Jahre dieses Jahrhunderts war er auf seiner ersten Handelsreise in der Ägäis unterwegs. Er wandte sich an König Ferdinand den V. und Königin Isabella die I von Spanien, und erhielt von ihnen Unterstützung für eine Expedition über den atlantischen Ozean, um eine Westpassage nach China zu finden. Die Flotte aus drei Schiffen – der Nina, der Pinta und der Santa Maria – segelte an einem Datum, welches wir heute den 3. August 1492 nennen, von Palos in Spanien los. Land wurde erstmals am 12. Oktober gesichtet, und sie landeten auf Guananhani auf den Bahamas. Auf dieser und drei folgenden Reisen landete Kolumbus unter anderem auf Landflecken, die wir heute Kuba, Haiti, Panama und Trinidad nennen. Er starb in Spanien im Alter von 55 Jahren.
Es ist sehr wichtig, dass wir gleich zu Beginn feststellen, dass diese Fakten von beiden Schulen unbestritten sind. Diese empirischen Fakten, welche durch eine orange, historische Forschung entdeckt wurden, werden auch von den grünen Postmodernisten nicht bestritten. Natürlich verliert grün kein einziges Wort darüber, um eine riesige Nebelwand von Theorie, radikaler Hermeneutik und poststrukturellen Haltungen zu errichten, und um behaupten zu können, dass es keinerlei Fakten, sondern nur Interpretationen gibt. In Wirklichkeit jedoch werden diese grundlegenden Fakten, die durch einen orangen, wissenschaftlichen Ansatz gegenüber der Geschichte entdeckt wurden, alle akzeptiert. Grün möchte behaupten, dass Kolumbus ein Kultur-Krimineller war, doch diese Story kann nur beginnen, wenn die erwähnten Fakten akzeptiert werden. Diese Fakten werden also stillschweigend hingenommen, um dann die übliche Behauptung aufzustellen, dass es keine Fakten sondern nur Interpretationen gibt.
Dann wird diesen Fakten eine grüne – und oft gemeine grüne – Interpretation gegeben. Danach war Christoph Kolumbus ein Vertreter patriarchaler, analytisch-dissoziativer, marginalisierender, hierarchischer und vernichtend-unterdrückender Werte, welche auf eine brutale Weise das friedvolle, pluralistische, liebevolle Paradies der Eingeborenen störte, sie mit den Pocken, der Schuppenflechte und Zahnfäule infizierte, und Essgewohnheiten einführte, wie wir sie heute kennen, wenn wir im Flugzeug unterwegs sind.
Nun, ich denke, ihr versteht worum es geht. Ich bin deshalb so unnachsichtig gegenüber grün, weil grün ein sehr wichtiges Teil zum integralen Puzzle beiträgt. Halten wir an dieser Stelle zwei sehr wesentliche Punkte fest. Zum einen werden die grundlegenden orangen, historischen Fakten weder von orange noch von grün bestritten. Sie sind akzeptiert, und das ist gut so. Die Schwierigkeiten beginnen, wenn es um die Bedeutung und Interpretation dieser Fakten geht – in diesem Fall die Reise von Kolumbus; was sie wirklich für die ‚neue Welt’ brachte, ob es etwas Gutes oder etwas sehr Schreckliches war, und so weiter. An diesem Punkt trennen sich aggressiv die Wege von orange und grün. Orange besteht darauf, nur Fakten zu präsentieren (die rechtsseitigen Aspekte von Ereignissen) – was dazu führt, dass sich die orangen Interpretationen unbewusst in diese Fakten einschleichen. Grün hingegen besteht darauf, lediglich Interpretationen zu präsentieren (die linksseitigen Aspekte aller Ereignisse), doch indem es das tut, leugnet es nicht nur heuchlerisch die Existenz von Fakten, die von ihm selbst akzeptiert werden, sondern besteht darauf, dass seine spezielle Art der Interpretation die einzig erlaubte Interpretation ist. Das grüne Mem beginnt mit der unglaublich wichtigen Einsicht, dass Interpretation bei jedem Vorhaben unvermeidlich ist, rutscht dann aber sehr schnell ins GMG ab [gemeine grüne Mem] und Boomeritis macht sich sehr schnell in den meisten Schulen der postmodernen Anthropologie und Historiografie breit. Postmoderner Poststrukturalismus – PMS – dominiert sogleich die Stimmung der akademischen Historiografie, mit insgesamt sehr unglücklichen Ergebnissen. [...]

Noch einmal: Fakten und Interpretationen

Ich hoffe, man kann nun erkennen, warum derartige Ansätze sowohl teilweise richtig als auch teilweise falsch sind. Orange wissenschaftliche Historiografie arbeitet mit einer ausreichenden Objektivität um die empirischen, sensorimotorischen Fakten zu entdecken, so wie sie waren. Diese Fakten gibt es, diese objektiven Merkmale existieren. Dabei spielt es keine Rolle, dass die orange Wissenschaft, speziell zu Beginn – etwa zur Zeit der Aufklärung – die Vorstellung hatte, dass ein formal-rationaler Bericht sensomotorischer Fakten die einzige Wahrheit in der gesamten Welt sei; es spielt keine Rolle, dass orange Wissenschaft ihre eigenen Fähigkeiten, die Verlässlichkeit ihres Wissens oder die Bedeutung ihrer eigenen Existenz überschätzte. Jeder Heranwachsende tut dies. Die nachfolgende Wissenschaft wird sehr viel realistischer demgegenüber sein, was sie kann und was nicht. [...] Aber eines der Dinge, welche die Wissenschaft konnte, war, einen Menschen zum Mond zu bringen! – etwas, was die Poesie erst noch leisten muss. Der dumme Taschenspielertrick des postmodernen Poststrukturalismus, dieser griesgrämigen PMS Mentalität, welche behauptet, dass kein wirklicher Unterschied zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Geschichte und Mythos, Wissenschaft und Poesie besteht, ist nur eine weitere Heuchelei auf Seiten der extremen Postmodernisten. [...]
Worum es geht ist: orange Wissenschaft liefert ausreichend objektive Wahrheiten, und diese grundlegend sensorimotorischen Wahrheiten – Wasser setzt sich aus einem Sauerstoff- und zwei Wasserstoffatomen zusammen, die DNA hat Nukleotide, Äpfel fallen in allen Kulturen mit der gleichen Beschleunigung zu Boden, all diese Dinge, all diese Wahrheiten sind universell und kulturübergreifend. Ein Diamant schneidet Glas in jeder Kultur, die wir kennen. Dies sind die richtigen Aspekte einer orangen Wissenschaft, die ein jeder integrale Ansatz im Rahmen einer umfassenden Methodologie mit aufnimmt. Ich gebe gleich ein paar genauere Beispiele, speziell im Hinblick auf den armen Kapitän Cook, Beispiele die unbestritten sind, sowohl von oranger Wissenschaft wie auch vom grünen Pluralismus.
Das Problem jedoch ist – und das war ein großes Problem –, dass orange Wissenschaft nicht nur die sensomotorischen Fakten berichtet, so wie sie entdeckt wurden. Orange Wissenschaft versagte – praktisch vollständig – darin, zu erkennen, dass die Weltsicht, welche behauptet, dass es nur empirische Fakten gibt ihrerseits eine – nicht faktische – Interpretation ist; und darüber hinaus ist diese Interpretation nichts anderes als die Weltsicht der orangen Bewusstseinswelle. Kein anderes Mem, keine andere Stufe oder Welle des Bewusstseins – höher oder niedriger – glaubt, dass es ausschließlich nur empirische Fakten gibt.
Die nächsthöhere Welle war dann natürlich diejenige, der sofort diese repressive Einschränkung des Orangen auffiel. Die Welt ist nicht die Gesamtsumme aller Fakten; die Welt ist die Gesamtsumme von Fakten und Interpretationen. Doch sobald dies von grün aufgedeckt wurde, Schwang das Pendel zum anderen Extrem: es gibt kein Fakten, sondern nur Interpretationen. Der Sprung vom Regen in die Traufe war die Geburt von Boomeritis. Die Welt war nun nichts anderes mehr als dummes Wachs, eine plastische Masse, welche in jede Richtung interpretiert und geformt werden konnte durch ein Ego, das fordert ‚Niemand hat mir vorzuschreiben, was ich zu tun habe!’ Alle Fakten sind lediglich soziale Konstruktionen, und ab geht die Boomeritis Post...
Grün forderte auf heroische Weise die Einführung von Interpretationen in das Gewebe der Wirklichkeit und das ist völlig richtig. Aber es versagte darin, zu sehen, dass es ein Spektrum von Interpretationen gibt und dass seine eigenen Interpretationen lediglich eine Stufe der Bewusstseinsentwicklung repräsentieren. Dazu gehören Interpretationen wie „es gibt ausschließlich Interpretationen und keine Fakten“: „alle Wahrheiten sind kulturell relativ“; „es gibt nur eine Pluralität nicht reduzierbarer Endgültigkeiten“; „alle Hierarchien unterdrücken“; „nichts ist universell“. Grün versagte in der Erkenntnis, dass dies die Weltsicht lediglich einer Stufe der Bewusstseinsentwicklung ist. Kein anderes Mem, keine andere Stufe oder Welle der Entwicklung – höher oder niedriger – glaubt ausschließlich an den pluralistischen Relativismus. Keine andere Welle glaubt, dass es nur Interpretationen gibt.
Grün tat am Ende genau das,was auch orange tat – und was jedes Mem des ersten Ranges tut: sich vorzustellen, dass seine Sicht die einzig grundlegend richtige Sichtweise ist. Und so begann der Krieg der Kulturen in der Historiografie: soll ein historischer Text durch eine orange, moderne Wissenschaft dargestellt werden – universell, monologisch, faktisch, empirisch, die Dinge so erzählend wie sie wirklich waren – oder durch den grünen Postmodernismus – interpretativ, pluralistisch, relativistisch, lokal, multiple? Die Antwort eines Historiografen des zweiten Ranges wäre, dass beides notwendig ist, weil beide ein wichtiges Teil des Gesamtpuzzles haben. Aus diesem Grund tut sich eine wahrhaft integrale Historiografie in der akademischen Welt schwer, welche sich dem hässlichen Krieg zwischen diesen beiden Memen des ersten Ranges verschrieben hat, wo jede Partei nur über einen Teil der Wahrheit verfügt... und so wird die Interpretation der Geschichte durch diesen Krieg brutalisiert. [...]

Kapitän Cook – was geschah wirklich?

Die Debatte zwischen Sahlins und Obeyesekere dreht sich um die Bedeutung der Ereignisse, die Kapitän Cook widerfuhren, als er erstmals auf Hawaii landete. [...] Hier sind die Fakten: Januar 1779 landeten Kapitän Cook und seine Mannschaft in der Kealakekua Bucht. Cook wurde von den Eingeborenen begrüßt und wie jemand von hohem Rang behandelt – ein Herrscher oder vielleicht auch ein Gott. Er wurde zum Tempel geführt, wo ihm zeremonielle Huldigungen dargebracht wurden. Cook verließ die Insel im Februar, musste jedoch nach zehn Tagen wegen eines Mastbruches zurückkehren. Diesmal begrüßten ihn die Eingeborenen mit Frechheit und Gewalt: er wurde festgenommen, getötet, zerlegt und gegessen.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage, warum dies alles geschah. Wie können wir das verstehen und was bedeutet es? Sahlins und Obesyesekere haben zwei diametral entgegengesetzte Antworten darauf.
Bevor wir uns die gegensätzlichen Positionen anschauen, treffen wir folgende bedeutende Feststellung: beide Seiten akzeptieren die grundlegenden Fakten, so wie ich sie dargestellt habe. Auch Sahlins, der die postmoderne Seite repräsentiert, leugnet diese Fakten nicht (auch wenn, noch einmal, die postmoderne Seite sehr sehr zurückhaltend diesbezüglich ist). Das erste was eine integrale Historiografie feststellt, sind also die empirischen Fakten, so gut das mit Hilfe wissenschaftlicher Untersuchungen möglich ist – eine Darlegung der rechtsseitigen Quadranten, eine Darlegung des ausreichend-objektiven Hergangs, als das was sensomotorisch, wann und wo geschah.
Wenn wir nun die allgemeinen Fakten des Vorgangs akzeptieren – was beide Seiten implizit oder explizit tun –, dann kommen wir zu den Meinungsverschiedenheiten und die betreffen zuallererst die Frage, wie diese Fakten zu interpretieren sind. Was ging in den Köpfen der Eingeborenen vor, als sie sich derart verhalten haben? Wie können wir die Handlungen des Anderen verstehen? (Nebenbei bemerkt gibt es auch Meinungsunterschiede über einige der Fakten selbst, so z. B. die Frage, wann genau die Zeremonie mit dem Namen Makahiki begann und endete – eine Frage, die sich als sehr bedeutend herausstellen wird; doch diese Fakten, da sind sich beide Seiten einig, sind von weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen zu klären. Die eigentliche Auseinandersetzung betrifft die Bedeutung und Interpretation dieser Fakten.) [...]

Eingeschmuggelte Interpretationen und Szientismus

Was üblicherweise geschieht ist, dass die orange-wissenschaftliche Seite behauptet, dass sie nur die empirisch festgestellten Fakten des Vorgangs präsentieren würde, und die erforderlichen Interpretationen wären lediglich Interpretationen einer allgemeinen Vernunft, die praktisch jeder machen kann. Damit schmuggelt orange seine formal-rationalen Interpretationen in die Darstellung seiner Fakten hinein. Dies hat zu dem Vorwurf geführt, dass orange Rationalität eurozentrisch ist – eine Behauptung, die teilweise richtig und teilweise falsch ist. Orange rationale Wissenschaft ist universell in ihrer Fähigkeit genau deshalb, weil ein Diamant in einer jeden Kultur Glas schneidet. Daher kann die universelle empirische Wissenschaft von jedem in jeder Kultur, so wie es erforderlich ist, übernommen und angewandt werden, weil sie eine hinreichend gute universelle Beschreibung sensorimotorischer Fakten liefert. Die Behauptungen jedoch, welche um die Verwendung oranger Wissenschaftlichkeit herum gemacht werden, wie z.B. : „der wissenschaftliche Materialismus ist der einzig wahre Ansatz gegenüber der Welt“; oder „formal operationale Rationalität ist die höchste Entwicklungsebene“; oder „orange Werte sind die einzigen Werte, welche von der Welt akzeptiert werden sollten“ – diese Behauptungen sind nicht Teil einer universellen Wissenschaft sondern ein imperialer Szientismus. Dieser ist in der Tat überwiegend eurozentrisch, zumindest in der heutigen Zeit. Wir lehnen es jedoch ab, das Baby universeller Wissenschaft mit dem Badewasser des Szientismus auszuschütten; ersteres ist Teil einer jeden integralen Historiografie, letzteres ist eine Pathologie auf die wir verzichten). [...]
In der Praxis ist es so, dass auch wenn orange sagt, es würde ‚nur die Fakten’ präsentieren, die Fakten in Wahrheit auch interpretiert werden, und zwar durch einen gesunden Menschenverstand praktischer Rationalität, von dem angenommen wird, dass er ebenso universell ist, wie die Fakten, die er präsentiert. Die empirischen Fakten sind in der Tat universell, aber die orange Interpretation davon ist es nicht! Und die Eingeborenen wandten keine orange wissenschaftliche Rationalität an, als sie den armen alten Cook rösteten und in Stücke schnitten. Sie haben die Fakten nicht unter Verwendung oranger Rationalität interpretiert; sie haben die Fakten nicht durch die orange Brille betrachtet; sie haben auf die Fakten nicht mir orangen Werten reagiert. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass sie diese Fakten durch die Augen des roten Mem betrachteten. Wenn wir von dieser Annahme als einer Hilfs-Annahme ausgehen, dann ergeben die Handlungen der Eingeborenen einen Sinn. Es gibt eine innere ‚Logik’ oder ‚Rationalität’ ihrer Handlungen, aber es handelt sich dabei nicht um orange Rationalität (und auch nicht um die Rationalität orange-wissenschaftlicher Historiker, was wichtig ist festzuhalten), sondern um die ‚Logik’ von rot.

Wahrnehmung durch eine mythische Struktur

Und das ist – allgemein gesprochen – genau das, was Marshall Sahlins zu zeigen versucht, und zwar, dass die psychologische und kulturelle Innerlichkeit der Eingeborenen eine Art von mythischer Struktur hatte (oder, im Fall von Spiral Dynamics, eine rote Struktur). Diese Struktur führte dazu, dass die Eingeborenen die sensomotorischen Fakten innerhalb mythologischer Bedeutungsmuster wahrnahmen. Zuerst wurde Kapitän Cook von ihnen als eine Manifestation des Gottes Lono betrachtet, und er wurde als göttlich zu verehrt. Als Cook jedoch zurückkehrte, war die Zeit der Verehrung von Gott Lono vorbei, und der Kriegsgott Ku wurde gefeiert. Cook wurde daher brutal umgebracht, denn Lono stand im Schatten von Ku [...].
Sahlins Darstellung dieser These ist wirklich brillant. [...] Sahlins hat etwas von einem Genie, und Obeyesekere ist ein verdammt guter Historiker. Sahlins präsentiert seine Darstellung in zwei Büchern: Historical Metaphors and Mythical Realities: Structure in the Early History of the Sandwich Islands Kingdom und – zum Teil in Erwiderung auf Obeyesekere – How ‚Native’ Think: About Captain Cook, For Example. Ich persönlich stimme nicht mit allen Interpretationen von Sahlins überein. Alles in allem – und das erläutere ich gleich – glauben wir am IC nicht an eine zufällige Pluralität der Weltsichten, wie es Sahlins als guter Postmodernist tut –, es gibt zusätzlich eine Entwicklung der Entstehung und Entfaltung von Weltsichten, wobei jede neue Weltsicht auf ihren Vorgängern aufbaut, und dadurch Stufen im sozialen Lernen sichtbar werden. Wir glauben, dass Sahlins Darstellung überzeugender und genauer sein würde, wenn er Gebrauch vom gesamten Spektrum des Bewusstseins und der vollständigen Spirale der Entwicklung machen würde. Ich würde daher vielen der spezifischen interpretativen Details widersprechen – einige davon ergeben für keine der Weltsichten einen Sinn. Dennoch ist sein grundlegender Ansatz so richtig wie wichtig: Individuen sehen die Fakten durch ihre Interpretationsmuster. Wenn wir ihr Verhalten verstehen (linksseitig) und nicht nur beschreiben wollen (rechtsseitig), dann müssen wir den Versuch unternehmen, ihre Handlungen ‚von innen her’ zu sehen.

Strukturalismus

Diesbezüglich ermöglichte die Schule des Strukturalismus, auf die sich Sahlins bezieht, einen Durchbruch. Sie brachte uns neue Möglichkeiten, Kulturen sowohl von außen zu betrachten – und zwar durch kognitive Strukturen, die denen einer Grammatik oder eines Satzbaus der Wahrnehmung ähneln – als auch von innen her zu verstehen, und zwar über eine Hermeneutik,  welche von einem allgemeinen strukturellen Verständnis abgeleitet ist, und zwar, dass wir die Welt nicht nur wahrnehmen, sondern konstruieren. Wenn man den Fußspuren von Leuten wie Kant und Saussure folgt, war der Strukturalismus die erste große Schule eines soziologischen Konstruktivismus und sein Einfluss kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wenngleich auch die ursprünglichen Formulierungen des Strukturalismus – wie z.B. die von Levi-Strauss – sich in praktisch jeder Hinsicht als ungenügend herausstellten, war das doch der Beginn einer Reihe von Revolutionen, welche immer noch andauern. Insgesamt wurden auf der Grundlage der Entdeckungen dieser großen Strukturalisten die besseren neostrukturalistischen Ansätze errichtet – von Jean Piaget über Jürgen Habermas zu Clare Graves und Robert Kegan und Carol Gilligan. Auf der gleichen Grundlage entstand die gesamte Bewegung des postmodernen Poststrukturalismus: kurz gesagt gäbe es in einer Welt ohne Strukturalismus keinen Foucault, keinen Derrida und keinen Lyotard.
Tatsächlich ist vieles im Postmodernismus eigentlich Poststrukturalismus. Um zu verstehen warum, müssen wir einen weiteren Pionier des frühen Strukturalismus betrachten – den wahrscheinlich einflussreichsten überhaupt – Ferdinand de Saussure. Saussure, der um 1900 lebte und schrieb, war der erste, der darauf hinwies, dass Sprache selbst ein organisches Ganzes ist, ein holistisches System und keine Ansammlung getrennter Einzelteile, das ein stark miteinander verwobenes Muster von Beziehungen darstellt. Jedes Wort hat seine Bedeutung nur im Zusammenhang des Kontextes, in dem es steht. Der Tau auf einem Blatt und das Tau eines Schiffes sind offensichtlich zwei sehr unterschiedliche Dinge, auch wenn das gleiche Wort ‚Tau“ verwendet wird – der Kontext des Satzteils bestimmt die Bedeutung des Wortes. Ebenso bestimmt der Kontext des Satzes die Bedeutung des Satzteils; und der Kontext der gesamten Sprache bestimmt die Bedeutung des Satzes... und so weiter, ad infinitum. Dies war die wahre Bedeutung des Begriffes ‚Struktur’ – keine starre Schachtel, sondern ein sich dynamisch transformierendes Muster von Beziehungen in einem unendlichen, holistischen System. Eine wahrhaft ehrfurchtgebietende Idee.
Und das war die entscheidende Einsicht, die nicht nur den Strukturalismus sondern auch den Poststrukturalismus durchzog. Auch heute noch kann eine Autorität wie Jonathan Culler die gesamte Essenz von Derrida’s Dekonstruktion in zwei Sätzen zusammenfassen: ‚Alle Bedeutung ist kontextabhängig’, und ‚Kontexte sind unendlich’. Aus diesem Grund ist der Postmodernismus in der Tat ein PostStrukturalismus. Ohne die bahnbrechenden Einsichten des Strukturalismus (und der holistischen Natur aller Kontexte) gäbe es sozusagen keinen Poststrukturalismus, über den man reden könnte.
Aber Postmodernismus ist ebenso auch Poststrukturalismus, der sich darum bemüht, einige der Mängel der ursprünglichen strukturalistischen Formulierungen zu beheben. Wir werden auf diese Mängel gleich zurückkommen, und geben jetzt einen Überblick über die verschiedenen Ansätze die entwickelt wurden, um die Probleme in den Griff zu bekommen.
Halten wir für den Augenblick fest, dass das Beste des Strukturalismus (insbesondere des Neostrukturalismus) vor allem in einem Holismus des zweiten Rangs besteht. Der Strukturalismus in all seinen Erscheinungsformen wurde im Zuge der PMS-Aufstände und Dekonstruktionen vom grünen Mem übel missverstanden und angegriffen, was sehr unglücklich, aber vielleicht auch vorhersehbar war. Tatsache ist jedoch, dass der Strukturalismus die Welt als zusammengesetzt aus holistischen Mustern autopoietischer bzw. selbst-regulierender Beziehungssysteme sieht. Was Individuen und Kulturen angeht behauptet der Strukturalismus, dass ein jeder von uns kognitiv-linguistische Landkarten verinnerlicht hat, die Einfluss darauf nehmen, wie wir unsere Welt wahrnehmen und auch mit-erschaffen. Wir finden diesen wichtigen strukturalistischen Einfluss in praktisch jeder heutigen Entwicklungspsychologie, welche jede Entwicklungswelle verbunden mit einer strukturierten Ganzheit sieht, die Einfluss darauf nimmt, wie die Individuen einer Entwicklungswelle die Welt sehen. Die Meme von Spiral Dynamics z. B. sind Beispiele für Strukturen. Jean Gebser’s archaische, magische, mythische, rationale und integrale Weltsichten sind alles Strukturen - ebenso wie die Stufen von Jane Loevinger, Carol Gilligan, Jenny Wade, Patricia Arlin, Cheryl Armon und so weiter. Dies finden wir auch in der postmodernen Behauptung, dass, weil wir die Welt konstruieren, wir sie auch dekonstruieren können (auch wenn die postmodernen Poststrukturalisten an dieser Stelle zu weit gehen).
Wir erkennen hier vielleicht, dass in gewisser Weise die Bezeichnung ‚Strukturalismus’ sehr unglücklich ist, weil man sich darunter starre und klar umrissene Schubladen vorstellt, die vorschreiben, wie man zu denken hat. Kein Wunder, dass das grüne Mem darauf reagiert hat! Und kein Wunder, dass die aufständischen Pariser Studenten 1968 ‚Nieder mit dem Strukturalismus’ an die Wände schrieben. Statt ‚Strukturalismus’ hätte man vielleicht ‚strukturiert-relationaler Holismus’ sagen sollen, das hätte möglicherweise die Sache erleichtert!
Vielleicht aber auch nicht. Wie wir sagten, hatten die frühen Formen des Strukturalismus neben ihren wahren und beständigen Wahrheiten eine Reihe wirklich fataler Mängel. Zuallererst wurden die holistischen Muster selbst als a-historisch betrachtet. Das heißt, obgleich sie dynamisch transformierende Muster waren, welche die rohen Sinneseindrücke nahmen und diese geschmeidig in bedeutungsvolle Wahrnehmungen umwandelten, wurden die Muster selbst auf eine sehr unveränderliche Art und Weise betrachtet. Die ‚Tiefenstrukturen’ selbst, wenngleich fortwährend dynamisch, wurde als synchronisch angesehen, was bedeutet, dass die Regeln, welche sie steuern von der Geschichte nicht berührt werden und sich auch nicht mit der Zeit entwickeln, wohingegen die ‚Oberflächenstrukturen’ des Verhaltens der Individuen als diachronisch angesehen wurden, als innerhalb von zeitlichen Strömungen und Veränderungen existierend.

Strukturen entwickeln sich

Die frühen Strukturalisten hatten ihre Gründe für die Behauptung, dass die Tiefenstrukturen keine Berührungspunkte mit der Geschichte haben. [...] Wenn ihr jemals mit einem – sagen wir – blau-memischen christlichen Fundamentalisten eine Diskussion hattet, dann werdet ihr bemerkt haben, dass es praktisch unmöglich ist, seine Meinung zu ändern. Man kann tonnenweise wissenschaftliche Beweise vorlegen – Fossilien z.B. – und zeigen, dass das Universum nicht innerhalb von 6 Tagen erschaffen wurde, doch das würde ihn nicht beeindrucken. ‚Oh, die Fossilien; ja, die schuf der Herr am vierten Tag.’ [...] Die Strukturen dieser Wellen – blau, orange, grün..., - sie alle scheinen unberührt von äußeren Einflüssen zu sein. Diesist natürlich eine ihrer Stärken im Ablauf der Evolution – diese mentalen Strukturen sind beständige, erprobte Weisen, um unter bestimmten Lebensumständen zu überleben, und wenn sie sich einfach so bei jeder kleinen Straßenbiegung ändern würden, dann wäre die Menschheit wahrscheinlich nie über beige hinausgekommen. Nein, diese Strukturen – wie jede Struktur im menschlichen Organismus – die Struktur des Herzens, des Gehirns, der Nieren – sind schwerer zu ändern als die Meinung des Papstes [...] Oder sagen wir lieber, dass organische Strukturen schwerer zu verändern sind als das Fleckenmuster eines Leoparden. Aber natürlich kann sich das Fleckenmuster von Leoparden ändern – und es hat sich ja entwickelt – und das war das grundlegende Problem des ursprünglichen Strukturalismus: er passt nicht in ein evolutionäres Schema, da die Geschichte ja – so die Annahme – die holistischen Muster niemals berührt hatte. [...] Dieses a-historische Wesen der Strukturen führte diese frühen Ansätze ins Verderben. Kurz gesagt, alle heutigen Formen des Neostrukturalismus weisen klar und deutlich darauf hin, dass (1) die Tiefenstrukturen selbst holistische Muster sind, welche in Beziehung stehen mit anderen Strukturen/Mustern/Wellen auf allen Ebenen. Diese holistischen Strukturen sind Holons wie alles andere im Kosmos auch; sie stehen in vielfältigen Kontexten, durch die ihre eigene Bedeutung bestimmt werden kann. Und (2) haben sich dieses Tiefenstrukturen – und nicht nur die Oberflächenstrukturen – selbst entwickelt. Die holistisch-beziehungsmäßigen Muster der Wahrnehmung haben sich entwickelt – noch einmal: nicht nur deren Oberflächenstrukturen, sondern ihre Tiefenstrukturen wurden durch Zeit, Evolution und Geschichte geformt. In einem Satz: Weltsichten haben sich entwickelt, Meme haben sich entwickelt, Wellen haben sich entwickelt. Und viele der Schulen fügen noch hinzu, dass jede nachfolgende Struktur ihre(n) Vorgänger transzendiert und einschließt, sowie praktisch alle anderen Strukturen der natürlichen Evolution: Atome werden durch Moleküle transzendiert und eingeschlossen, welche ihrerseits von Zellen transzendiert und eingeschlossen werden, welche ihrerseits von Organismen transzendiert und eingeschlossen werden und so weiter. Jede ganze Welle der Entwicklung wird ein Teil des Ganzen der nächsten Welle. Jede Welle ist ein Holon, ein Ganzes/Teil, ohne Ende – und das bedeutet nichts anderes als: Bedeutung ist kontextgebunden und Kontexte sind grenzenlos: jedes Ganze ist auch Teil eines anderen Ganzen, ohne Ende.
Wenn man das einmal erkannt hat, dann ist es nur noch ein sehr kurzer Schritt zur Integration des Besten des Strukturalismus (jedes Ganze ist immer auch Teil: Bedeutung ist kontextabhängig) und des Poststrukturalismus (Kontexte sind grenzenlos und gleiten ohne Ende) [...]
OK, wir waren bei der Sahlins-Obeyesekere Debatte. Mit diesem Wissen können wir nun fortfahren. Sahlins hat einen allgemeinen strukturalistischen Hintergrund – er weiß daher, dass wir nicht nur einfach die Welt wahrnehmen, sondern sie mit-erschaffen. Auf der Basis einer sensomotorischen Welt konstruieren wir soziale Wirklichkeiten. (Wir erschaffen nicht die sensomotorischen Fakten, wenngleich diese Fakten sich gegenseitig erschaffen, da jedes Holon vier Quadranten hat, auch auf der sensomotorischen Ebene, und daher mit-erschaffen und interpretieren sich sogar Atome gegenseitig [...]. Für den Augenblick gehen wir von der Vorstellung aus, die John Searle in seinem kürzlich erschienenen Buch im Titel so zusammengefasst hat: Die Konstruktion der sozialen Wirklichkeit [The Construction of Social Reality] – und nicht ‚die soziale Konstruktion der Wirklichkeit’). Wie wir schon sagten, sind die sensomotorischen Fakten in einer gewissen fundamentalen Weise vorhanden und auf der Grundlage dieser Fakten werden unterschiedliche Weltsichten konstruiert, Weltsichten, welche ihrerseits andere Fakten enthalten, Werte, Bedeutungen und Tiefen, die in der sensomotorischen Welt nicht vorkommen: aber deshalb löst sich die sensomotorische Welt nicht einfach in Luft auf. Die sehr realen Schattenseiten sowohl des Strukturalismus und des Poststrukturalismus bestanden darin, dass aus dem klaren Verständnis heraus, dass die Welt eine soziale Konstruktion ist, beide sehr leicht in das Missverständnis abgleiten konnten, dass es keinerlei sensomotorische Fakten gibt. Diese Vorstellung wurde ins Extreme getrieben durch einen von Boomeritis angetriebenen postmodernen Poststrukturalismus, welcher verlangt dass ,niemand mir vorschreibt, was ich zu tun habe!’

Der performative Widerspruch

Sahlins ist ein Postmodernist im guten Sinn, – er hat die Bewegung vom Strukturalismus zu einem Poststrukturalismus gemacht – und er neigt daher zur Schule des ‚es gibt keine Fakten, sondern nur Interpretationen’. Er ist also ein guter Historiker des grünen Mem. Das mindert jedoch in keiner Weise die wahren Aspekte des postmodernen Poststrukturalismus, und zwar dass die kognitiven Landkarten, die wir in unseren Köpfen mit uns herumtragen, vieles von den sozialen Wirklichkeiten konstruieren, welche wir um uns herum ‚sehen’. Deshalb gibt Sahlins eine brillante und überzeugende Darstellung, wie eine mythische Landkarte einen hellhäutigen Typen sieht, der aus einem riesigen Schiff herauskommt, welches vor der eigenen Insel ankert. Und wie, ein paar Wochen später, dies alles ganz anderes gesehen werden kann und auf einen brutalen Mord und ein Aufessen derjenigen Person hinausläuft, welche vor kurzem noch als göttlich verehrt wurde. Das ist großartig.
Doch jetzt wird es eigenartig und kompliziert. Sahlins, als ein guter Historiker des grünen Mem, sagt, dass unterschiedliche Kulturen unterschiedliche Weltsichten haben, dass man jedoch nicht sagen kann, dass eine Weltsicht besser als eine andere ist, oder wahrer als eine andere, oder irgendeine Art von universeller Feststellung von besser oder schlechter. Sahlins glaubt nicht – im Gegensatz zu einem Historiker des zweiten Bewusstseinsranges –, dass zwischen Kulturen irgendeine Art von universeller Beurteilung getroffen werden kann. Wie wir gesehen haben behauptet ja der PMS Theoretiker, dass man zwischen Kulturen keine universellen Beurteilungen treffen kann, auch wenn die PMS Leute ihrerseits tonnenweise universelle Beurteilungen über die westliche Kultur abliefern, und über die Aufklärung, das Patriarchat usw. Was sie daher wirklich meinen sind keine universellen Beurteilungen außer ihrer eigenen Werte, eine raffinierte Boomeritis Wendung. Sahlins selbst unterläuft – wie wir sehen werden – dieser performative Widerspruch immer wieder.
Als ein sensitiver grüner Historiker sagt er, und ich zitiere: ‚Ich schlage vor, dass man keine gute Geschichtsforschung betreiben kann, nicht einmal die der gegenwärtigen Geschichte, ohne diejenigen Vorstellungen, Handlungen und Ontologien zu betrachten, die niemals die unseren waren und sein werden. Unterschiedliche Kulturen, unterschiedliche Rationalitäten’. Sahlins sieht seinen Versuch der Innenbetrachtung unterschiedlicher Rationalitäten der eingeborenen Hawaiianer als einen einfühlenden Versuch, den Anderen in seinen eigenen Begrifflichkeiten zu verstehen, und nicht in westlich eurozentrischen Begriffen. Er möchte nicht die westliche ‚Rationalität’ der ‚Rationalität’ der eingeborenen Hawaiianer aufoktroyieren. Er möchte nicht eurozentrisch und ethnozentrisch sein.

Die Auseinandersetzung

Aber genau das wirft ihm Obeyesekere vor. Obeyesekere sagt, dass Sahlins von Grund auf eurozentrisch, ethnozentrisch und rassistisch ist, speziell dann wenn er vorgibt, dies nicht zu sein. Obeyesekere behauptet, und begründet dies auch, dass die Vorstellung, die Hawaiianer würden Cook als einen Gott sehen, ihrerseits eine europäische Mythologie wäre, und die gottähnliche Annahme der Großartigkeit der europäischen Kultur widerspiegeln würde: die armen Eingeborenen waren so dumm, dass sie glaubten, dass wir Götter wären! Und was das ganze für Sahlins nochschlimmer machte war, dass Obeyesekere aus Sri-Lanka stammt und kein Europäer ist (was ihm in den Augen der PMS ein Trumpf-Ass in die Hand gibt), und Obeyesekere selbst sagt, dass er als Nicht-Europäer europäischen Mist sofort erkennt, und dass Sahlins Darstellung ziemlich komplett unter diese Kategorie fällt.
Wie ihr euch vorstellen könnt, drehte Sahlins daraufhin durch. Das was das grüne Mem am wenigsten als Vorwurf ertragen kann, ist ein Mangel an Sensitivität. Und los ging der Kampf mit Worten, ein offener Schlagabtausch, ausgetragen in den Medien vom New York Review of Books bis zur Literaturbeilage der Times, in der Tat ein klassischer Kampf zwischen zwei Historikern, wobei der eine dem grünen Mem und der andere dem orangen Mem zuzuordnen ist. Obwohl Obeyesekere aus Sri Lanka stammt, argumentierte er vom Standpunkt einer universellen praktischen Rationalität auf Seiten der Eingeborenen. Er stellte die begründete Behauptung auf, dass die Eingeborenen das taten, was eine allgemeine Vernunft und praktische Rationalität tun würden – die gleiche Art von praktischer Rationalität, welche du und ich verwenden könnten. Ein mit Obeyekere’s Historiografie des orangen Mem sympathisierender Theoretiker formulierte es folgendermaßen:
‚Die Handlungen der Inselbewohner gegenüber den Engländern können auf eine Art und Weise erklärt werden, welche in menschlichen Begriffen [d.h. universellen Begriffen] absolut nachvollziehbar ist, ohne Bezugnahme auf irgendeine strukturalistische [oder poststrukturalistische] Theorie. Am Anfang wurden die Engländer freundlich empfangen, aber ein Mord bei der ersten Begegnung zeigte den Inselbewohnern die Macht und die Bedrohung durch die Fremden. Als den Eingeborenen jedoch deutlich wurde, dass die Engländer nur Besucher und nicht Eroberer waren, verbesserte sich das Verhältnis bis zu dem Punkt, wo so etwas wie normale diplomatische Beziehungen zwischen Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen aufgenommen wurden [weil sie bis zu gewissen Graden die gleiche universelle Welt miteinander teilen]. Dies sagt schon die praktische Vernunft, über die sich [Sahlins, Denig, usw.] lustig machen, worauf jedoch die Fakten klar hinweisen. Warum zögern die Strukturalisten, dies zu akzeptieren?’
Mit ‚Strukturalisten’ meint er natürlich den Strukturalismus und speziell den Poststrukturalismus, die sich darin einig sind, dass die Welt nicht eine Summe von Fakten ist sondern die Summe von Fakten und Interpretationen (wenngleich sie Letztere gerne übersehen). Das orange Mem argumentiert für eine Welt gemeinsamer Fakten, die von wissenschaftlichen Historikern entdeckt werden können; das grüne Mem argumentiert für eine pluralistischen Welt nicht reduzierbarer Interpretationen, welche der postmoderne Historiker mit-erschaffen muss. (Der integrale Ansatz besteht auf beidem, wie wir gesehen haben, und hat eine spezifische Methodologie, die beides berücksichtigt).
Obeyesekere, als ein guter Historiker des orangen Mem, hat eine perfekt stimmige, allgemein vernünftige Erklärung dafür, warum die Inselbewohner den Besucher aufaßen: wie so viele andere Stämme hatten sie die Ökologie ihrer Umgebung ausgebeutet und zerstört und Kannibalismus war eine der wenigen Proteinquellen für sie. Sie reagierten auf ihre Lebensbedingungen absolut rational und alle anderen Erklärungen sind einfach nur herrschaftlicher, eurozentrischer, rassistischer Unfug. Die Behauptungen von ‚Andersheit’ und ‚Heterogenität’ der Kulturen, wie sie permanent von Postmodernisten von Edward Said bis zu Lyotard ausgesprochen wird, ist nichts anderes als eine nur dürftig verschleierte, neue Form von Imperialismus, sagen Obeyesekere und seine Unterstützer.

Fakten und …

Man kann erkennen, wo die Frontlinien verlaufen. Ich möchte noch einmal betonen, dass sowohl die orangen als auch die grünen Ansätze Wichtiges beizutragen haben, was in jeder wirklich integralen Historiografie berücksichtigt werden muss. Sie haben beide jeweils zu Hälfte recht und unrecht – etwas, was der Integralist vermeidet. [...]
Wie wir gesehen haben, hat der orange wissenschaftliche Historiker recht, wenn er sagt, dass es unabhängig vom menschlichen Geist eine Welt sensomotorischer Fakten gibt. (Der dritte Bewusstseinsrang würde sagen, dass sie, obwohl sie unabhängig vom menschlichen Geist sind, nicht unabhängig vom GEIST [spirit] sind, aber das ist ein anderes Thema!) Es gibt abermilliarden sensomotorischer Fakten, die bereits vor dem Erscheinen der Menschheit existierten – die Existenz von Atomen, Sternen, Molekülen, Planeten, Galaxien, den meisten Formen pflanzlichen und tierischen Lebens – und diese Dimensionen der Wirklichkeit existieren weiterhin mit oder ohne uns (wenngleich die Holons dieser Ebenen sich gegenseitig co-erschaffen). Menschen hinterlassen im sensomotorischen Raum Artefakte, welche ebenso faktischer Natur sind, auch wenn in diesen (Arte)Fakten Informationen stecken, die nur von einer höheren Ebene der Entwicklung aus gesehen werden können.
Wenn ich beispielsweise ein Buch schreibe, dann ist das Buch selbst ein materielles Objekt, welches wissenschaftlich untersucht werden kann. Es wiegt soundsoviel Gramm, wurde zu jenem Datum von einem bestimmten Verleger gedruckt, wurde von einer bestimmten Anzahl von Menschen gekauft und an diese verkauft. Der Autor starb an diesem Tag und wurde an jenem Ort begraben, 22 Menschen wohnten der Beerdigung bei, seine Asche wurde an jenem Ort verstreut, sein Buch verkaufte sich insgesamt 124.000 mal, es wurde in 14 Sprachen übersetzt, und so weiter und so weiter. Eine orange wissenschaftliche Historiografie hat sich immer darum bemüht, so dicht wie möglich bei diesen Fakten zu bleiben und das ist gut – und ein sehr wichtiger Teil des Ganzen.

… Interpretationen

Aber was ist die Bedeutung des Buches? Was ist die konkrete Bedeutung dessen, was der Autor geschrieben hat? [...] Keine noch so große Ansammlung von Wissenschaft wird oder kann das sagen. Es ist eine Sache der Interpretation, eine Angelegenheit der Hermeneutik, der kulturellen Hintergründe, linguistischer Praktiken, individueller und kultureller Bedeutungen, von Werten, Intentionen, Motivationen. Nichts davon existiert unabhängig von dem speziellen menschlichen Geist, der dies wahrnimmt. Das weiß ein Historiker des grünen Mem. Dieser Teil der Geschichte ist eine interpretative Angelegenheit, und wir entdecken Interpretationen nicht, wir machen bzw. mit-erschaffen sie [...]
Vieles in einer Kultur und daher auch in einer kulturellen Anthropologie, Ethnologie und Geschichte setzt sich – mit anderen Worten – aus Texten zusammen. Dies sind nicht nur Bücher sondern jegliche Kommunikation, die einer Interpretation bedarf, also jede Kommunikation: Symbole, Zeichen, Rituale, Festlichkeiten, Äußerungen, Sprachverhalten, Fantasien, Visionen, Rituale des Erwachsenwerdens, Alltagskommunikation, einfaches Sprechen, Geschichtenerzählung, Motivationen, Intentionen, und so weiter: so wie du den Mund aufmachst, muss jemand dasjenige interpretieren, was dort herauskommt. Linguistische Intersubjektivität ist ein wichtiger Träger dieser interpretativen Forderung, so sehr, dass Derrida hier ein bisschen zu weit ging und behauptete, ‚Es gibt nichts außerhalb des Textes!’ Nun, es gibt alles Mögliche außerhalb linguistischer Interpretation, aber nichts was völlig außerhalb einer Interpretation ist, weil linksseitige Quadranten bis ganz nach unten hinabreichen und sich sogar atomische Holons gegenseitig interpretieren. Dadurch wird jedoch nicht die Existenz rechtsseitiger Aspekte geleugnet, die objektiven Ereignisse in der Raumzeit, welche – mehr oder weniger – wissenschaftlichen Überprüfungen offen stehen.
Wissenschaftliche Untersuchungen sind allerdings nur die eine Hälfte der Geschichte. Die Frage ist daher nicht nur, was etwas tut, sondern was es bedeutet. Wissenschaftliche Historiografie kann viel vom Ersteren sagen, doch hermeneutischen Historiografie kümmert sich um das Letztere. Beide sind wichtig, keines von beiden darf abgewiesen werden. Die Hermeneutik ist eindeutig der schwierigere Teil der Übung, weil sie dialogisch ist und nicht nur monologisch. Dennoch – nur weil sie schwierig, schlüpfrig und gleitend ist, heißt das noch lange nicht, dass sie auf den Müllhaufen gehört. Interpretation ist ein wesenseigener Teil des Kosmos auf allen Ebenen und vor dieser Tatsache kann man sich nicht davonstehlen. Darüber hinaus werden unterschiedliche Geisteshaltungen das gleiche Ereignis unterschiedlich – und zum Teil diametral entgegengesetzt – interpretieren, und da liegt der Hund begraben.
Nehmen wir einmal an, dass Interpretationen in die Geschichte eingebaut sind, weil sie ein integraler Bestandteil des Kosmos auf allen Ebenen sind, dann gibt es von hier aus verschiedene Wege um fortzufahren. Müsste man die Einsichten des Postmodernismus in einem Satz zusammenfassen, dann könnte man sagen, dass wir die Welt nicht nur wahrnehmen, sondern sie interpretieren (und damit mit-erschaffen) – eine Einsicht, die zurückverfolgt werden kann zu Kierkegaard, Nietzsche, Dilthey, Heidegger – und bis in die heutige Zeit zu Foucault, Derrida, Lyotard. Darüber hinaus haben unterschiedliche Menschen zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten unterschiedliche Weltsichten erschaffen. Nehmen wir dies einmal als eine unausweichliche Gegebenheit an – wie geht es nun weiter? Wie fahren wir fort mit Wissenschaft, Philosophie, Historiografie, und so weiter? Ausgehend von dem verschiedenartigen Durcheinander, das wir Kultur nennen, und ausgehend von der wilden Pluralität der Weltsichten – wo können wir beginnen, das Andere oder die Anderen zu verstehen?

Wie können wir verstehen?

Die Aufklärung gab uns im Wesentlichen die orange Wissenschaft, Ökonomie, Liberalität und sie alle teilten in ihren frühen Formen den orangen Glauben an eine einfache, monologische, universelle Welt, eine Welt voller sensomotorischer Fakten. Das Themamultipler Weltsichten hatte dort keinen Raum. Was die orange Wissenschaft nach ihrem Erscheinen und der Befreiung von der mythischen Gruppenzugehörigkeit und dem blauen Mem tat, war: sie nahm ihre gerade erst entdeckte formale Rationalität und verwendete sie zur Untersuchung der sensomotorischen Welt. Die Grundlagen der sensomotorischen Welt, der Welt der empirischen Fakten, sind in der Tat universell. Diamant - schneidet - Glas. Die Aufklärung befreite die Welt durch sensorische Fakten vom mythischen Aberglauben und fürs erste war sie damit auf eine brillante Weise erfolgreich. Ihre positiven Beiträge können gar nicht hoch genug eingeschätzt und gewürdigt werden.
Aber wie viel verpasst diese orange Wissenschaft! Durch das Klebenbleiben an sensomotorischen, rechtsseitigen Ereignissen wurden alle inneren Bereiche ausgelassen – Bewusstsein, Introspektion, Interpretation, Weltsichten und so weiter. Es wäre in Ordnung gewesen, wenn die empirische Wissenschaft gesagt hätte ‚unsere Methoden können diese wichtigen Bereiche nicht erreichen und deswegen sagen wir darüber nichts’. Aber die Wissenschaft ging einen Schritt weiter und rutschte in den Szientismus ab, in dem sie sagte, ‚diese Bereiche existieren nicht, weil unsere begrenzten, partiellen, idiotisch engen Methoden sie nicht erreichen können’. Na ja, ganz so haben sie das natürlich nicht gesagt, oder? Aber genau darum geht es – die Existenz von Innerlichkeiten wurde insgesamt verneint. Und darin bestand die wirkliche Schattenseite der Aufklärung.

Pluralismus und Genealogie

Das grüne Mem erkannte diese Katastrophe zuerst und verstand erstmals, dass das Universum eine Welt der Interpretationen und nicht nur der Fakten ist. Also – wie geht es nun weiter?
Es gibt zwei Hauptwege, auf denen man die verschiedenartigen Interpretationen, die in der Tat unsere Welt konstituieren, verfolgen kann. Die postmoderne Welt ging beide Wege: Pluralismus und Genealogie. Ersterer war deskriptiv, letzterer entwicklungsorientiert. Pluralismus – oder pluralistischer Relativismus – bedeutet einfach, dass die Interpretationen, die irgendeine Person oder Kultur über die Welt machen, von deren eigenen Standards und Kriterien beurteilt werden sollten. Ein Meta-Text – etwas sehr Schlechtes – ist definiert als eine Beschreibung eines Anderen, die diesem Anderen etwas anderes zuschreibt, etwas, was dieses Andere sich selbst nicht zuschreiben würde. Alles klar? [...] Meta-Texte – mit anderen Worten – sind ‚schlecht’, weil wir mit ihnen unsere Interpretationen anderen auferlegen – d. h. dem Anderen. Betrachten wir ein Gemälde von Van Gogh, dann siehst du Engel von Licht, die zur Natur herabsteigen und ich sehe ein Kornfeld. Wie kannst du dir erlauben zu sagen, dass deine Interpretation richtig ist? Und – noch schlimmer – wenn du mir deine Interpretationen über die Welt reinwürgen willst, dann ist das so, als wenn du mit deinen verdammten Armeen mein Land überfällst. So etwas nennt man Imperialismus.
Und das meine ich ganz im Ernst. Wie kannst du behaupten, dass deine Interpretation besser ist als meine? Dies ist die Essenz des ersten Hauptweges durch die Postmoderne: Interpretationen sind unvermeidlich und alle Interpretationen haben die gleiche Existenzberechtigung. Pluralismus, Relativismus und Egalitarismus gehen auf dieser sehr bedeutenden Straße des Postmodernismus Hand in Hand. Es ist auch, wie ihr vielleicht bemerkt habt, die populärste postmoderne Wegstrecke. Namen wir Derrida, Lyotard, Aspekte des späten Wittgenstein, Michel de Certeau, Edward Said, Richard Rorty, Stanley Fish und so weiter sind mit diesem pluralistischen Relativismus verbunden.
Der zweite Hauptweg durch die post-aufgeklärte, postmoderne Welt – das heißt die Welt, in welcher sowohl Fakten als auch Interpretationen nicht aufeinander reduziert werden können – ist Genealogie. Der erste Hauptansatz, der pluralistische, ist im Wesentlichen eine Art von Hermeneutik über den gesamten Raum: man findet ein Anderes – einen anderen Text, eine andere Person, eine andere Kultur – und versucht dies von innen her zu beschreiben und zu verstehen, man behandelt es mit Respekt, Interesse und Sorgfalt. Man zwingt die eigenen Interpretationen oder Beurteilungen einem Anderen nicht auf.
Der zweite Hauptansatz gegenüber dem Postmodernismus tut all dies auch, aber er fügt noch etwas hinzu: er folgt dem Anderen nicht nur über den Raum sondern auch durch die Zeit hindurch. Er versucht das Andere als ein Anderes zu verstehen, welches sich geschichtlich entfaltet, und er versucht, in dieser zeitlichen Entfaltung Muster zu erkennen. Dies ist Genealogie im allgemeinsten Sinn. Es gibt in der Genealogie zwei große Untergruppen: Brüche und Entwicklung. Die Schule der Brüche, zu der Bachelard, Canguilhem, der frühe Kuhn und der frühe Foucault gehören, sieht die unterschiedlichen Entwicklungsstufen als beinahe vollständig zufällig, ohne eine verbindende Logik – nur Bruchstellen zwischen ihnen. Diese Veränderungen verdienen eigentlich nicht den Begriff ‚Stufen’ – sie sind lediglich wechselnde Episteme, ohne eine Verankerung in irgendeiner Wirklichkeit oder einem Entwicklungsmuster. Diese Genealogie der Brüche hat vieles gemeinsam mit dem ersten Weg des pluralistischen Relativismus, und beide Schulen kommen gut miteinander aus.

Entwicklung

Die zweite genealogische Untergruppe ist entwicklungsorientiert: sie folgt den verschiedenen Stufen oder Wellen des Anderen durch Raum und Zeit, und betrachtet diese sorgfältig im Hinblick auf Muster dieses Entfaltens. Wie mit jeder dieser Schulen kann man Entwicklungsgenealogie auf eine ‚gute’ und eine ‚schlechte’ Art betreiben. Der schlechte Weg, – den natürlich praktisch alle der ersten Genealogisten einschlugen – bestand darin, die eigenen Interpretationen der Welt zu nehmen, sich vorzustellen, dass sie die höchste Stufe der Entwicklung im gesamten Universum wären, und die historischen Entwicklung des Anderen dann als eine gewundene Wegstrecke hin zu der eigenen glorreichen Stufe zu lesen. Vor dem Hintergrund der Aufklärung wurde natürlich angenommen, dass die Wissenschaft der Gipfel des Fortschritts wäre, und daher tendierten die frühen entwicklungsorientierten Forscher zu einer Beurteilung des ‚Hoch’ oder ‚Niedrig’ von Kulturen auf der Basis der Entfernung zu Newton. Hinzu kam eine verdrehte Interpretation des Darwinismus, und so taten diese sozialen Evolutionisten praktisch alles, was man sich im Hinblick auf Entwicklungsstufen nicht wünscht. Sie standen außerhalb der Kulturen des Anderen, nahmen ihre eigenen Lieblingsinterpretationen des Welttextes (d. h. positivistisch, reduktionistisch, nur rechtsseitig, einen verrückten Flachland-Darwinismus, egoische Rationalität als höchste Stufe, keine bedeutenden, veränderten Zustände, usw.) und verwendeten diese lächerliche Messlatte als eine absolute, universelle Skala menschlicher Entwicklung für die Beurteilung aller Anderen. [...]
Nun, die heutigen postmodernen entwicklungsorientierten Forscher tun nichts dergleichen, auch wenn ihre Kritiker ihnen das immer wieder unterstellen. ‚Gute’ Genealogie versteht sich als ein Versuch, durch Hermeneutik die Weltsicht einer beliebigen Gruppe von Menschen in Begrifflichkeiten zu verstehen, denen diese Menschen selbst zustimmen würden. Der erste Schritt einer guten Genealogie ist ein interpretierendes Eintreten in die Weltsicht derjenigen, deren Geschichte und Abstammung behutsam verfolgt wird. Die Weltsicht oder Weltsichten werden dann hermeneutisch über die Zeit beschrieben, und jede Welle wird in Begrifflichkeiten gefasst, bei denen die Individuen selbst das Gefühl haben, dass ihre Wahrnehmungen einfühlend beschrieben werden (oder, wenn sie nicht mehr leben, dass sie damit wahrscheinlich einverstanden wären, soweit man das sagen kann). Dies ist keine Meta-Erzählung im Sinne Lyotards, weil es dem Anderen nichts Wesentliches zuschreibt, was dieses Andere sich selbst nicht auch zuschreiben würde. Das ist einer der vielen Gründe, warum gute Genealogie unter die Rubrik des Postmodernismus fällt.

Gute Genealogie – ein Beispiel

Gute genealogische Studien existieren nun seit etwa einem Jahrhundert. Was sie herausgefunden haben ist, dass in diesem pluralistischen Universum unterschiedlicher Weltsichten sich einige Weltsichten über die Zeit entwickeln, und dass diese Entwicklungen nachvollzogen werden können. Nicht alles im menschlichen Bewusstsein oder in menschlichen Kulturen entwickelt sich, aber einiges schon, und jeder Ansatz der Integralität beansprucht, wird natürlich diese entwicklungsorientierten und evolutionären Strömungen berücksichtigen.
Ich möchte ein Beispiel einer guten Genealogie geben. Carol Gilligan hat in einem wunderbaren Buch mit dem Titel In a Different Voice die Haltung von Frauen gegenüber Abtreibung und anderen Themen untersucht. Sie fand mittels einer sorgfältig durchgeführten, dialogischen Forschung auf der Grundlage gegenseitigen Verstehens – das heißt sie sprach mit den Individuen über deren Meinungen und registrierte deren Äußerungen in Begriffen, mit denen die Befragten selbst einverstanden waren – heraus, dass die meisten Frauen auf einer Stufe beginnen, die sich auf das Selbst und seine unmittelbaren Bedürfnisse konzentriert. Diese Weltsicht, wenn sie sich über die Zeit entwickelte, entwickelte sich zu einer Weltsicht, die sich darauf konzentrierte anderen, die der eigenen Person nahe stehen, zu helfen – Gilligan nannte dies die ‚fürsorgende’ Stufe. Wenn sich diese Weltsicht dann im Laufe der Zeit wieder veränderte, dann veränderte sie sich zu einer Weltsicht, die sich nicht nur um diejenigen sorgte, die der eigenen Person nahe stehen, sondern um alle Menschen die Hilfe brauchen – Gilligan nannte dies die Stufe der ‚universellen Fürsorge’. Jede Befragte dieser drei Stufen stimmte mit der jeweiligen Beschreibung überein. Den Frauen wurde dabei nichts aufoktroyiert; ihre eigenen Ansichten wurden lediglich dialogisch herausgearbeitet.
Als Gilligan sich die Ergebnisse insgesamt betrachtete, bemerkte sie, dass sich die moralischen Antworten der Frauen auf ihre Fragen in drei Wellen oder Stufen entwickelten bzw. entfalteten: von selbstbezogen zu fürsorgend zu universellem Mitgefühl.
Gilligan selbst bezeichnete dies als ‚hierarchische Stufen’. Warum ‚hierarchisch’? Weil jede Stufe ihre Vorgänger transzendiert und umfasst – aber nicht umgekehrt. Das heißt jede Stufe besitzt all die Eigenschaften ihrer Vorgänger und zusätzlich etwas Neues. Jede Stufe ist organisch-umfassend gewachsen und daher ist jede Stufe in der Tat tiefer bzw. höher in ihrer moralischen Fähigkeit. Wenn sich eine Frau von der selbstbezogenen zur fürsorgenden Stufe bewegt, dann sorgt sie sich um sich selbst und auch um andere: sie hat alles was man auf der selbstbezogenen Stufe vorfindet, plus eine weitere Fähigkeit, welche die selbstbezogene Stufe nicht hat. Gleichermaßen verhält es sich bei der Weiterentwicklung von der fürsorgenden Stufe zum universellen Mitgefühl – eine neue Fähigkeit kommt hinzu: sie kann für sich selbst sorgen, für diejenigen, die ihr nahe stehen, und für alle Menschen auf der Welt, die Hilfe brauchen.
Dies ist natürlich die große Hierarchie des Wachstums. Nach der Entdeckung dieses organischen Wachstumsmusters – zumindest für die untersuchte Gruppe – konnte Gilligan tatsächlich eine moralische Beurteilung hinsichtlich des Entwicklungsstandes von Individuen dieser Gruppe machen, aber diese Beurteilungen sind den Antworten der Gruppe inhärent, sie werden den Frauen nicht durch Gilligan aufoktroyiert – sie sind Bestandteil der Hermeneutik der Individuen und werden nicht von außen auferlegt. Das sich entfaltende Entwicklungsmuster muss – um authentisch zu sein – von innen her wachsen und auch von dort her aufgedeckt werden. Weitere Forschung kann dann feststellen, für wie viele unterschiedliche Gruppen von Frauen diese Wachstumsmuster zutreffen. In manchen Fällen stellt man fest, dass bestimmte Entwicklungen sich auf eine Sub-Kultur beschränken; andere treffen auf eine große Kultur mit vielen Untergruppen zu und in manchen Fällen scheinen die Entwicklungsmuster universell zu sein – aber diese Behauptung muss immer durch entsprechendes Forschungsmaterial belegt sein. Kein verantwortlicher Entwicklungsforscher hat jemals irgendeiner Kultur ein bestimmtes Entwicklungsmuster auferlegt, ohne die entsprechende innere hermeneutische Forschung dazu vorzulegen (wenngleich praktisch alle Kritiker dies behaupten, was uns einiges über die Kritiker sagt, aber nur wenig über die Entwicklungsforscher).
Schauen wir uns folgendes an: würde eine Frau auf der Stufe 1 - nachdem Gilligan diese drei Stufen moralischer Entwicklung herausgefunden hat - nicht ziemlich empört die Existenz höherer Stufen verneinen? Ist die Feststellung von Gilligan, dass diese Frau auf der Stufe 1 sich auf einer niedrigeren Ebene befindet als Stufe 2 und Stufe 3 nicht eine Meta-Erzählung im schlechten Sinn, weil die Frau selbst mit dieser Kategorisierung ihrer Erfahrung nicht einverstanden ist? Nein, Gilligans Beurteilung ist keine Meta-Erzählung: Gilligan hat lediglich darauf hingewiesen, dass wenn sich eine Antwort der Stufe 1 ändert, diese Änderung dann – in allen von ihr untersuchten Fällen – als eine Antwort der Stufe 2 erfolgt (von selbstbezogen zu fürsorglich). Die Frau der Stufe 1, die sich nicht zur Stufe 2 entwickelt hat, hat folglich auch nicht die Erfahrungen der Stufe 2, die es ihr ermöglichen, die Gültigkeit der Stufe 2 authentisch in Begriffen zu verneinen, die von denjenigen, die sich auf der Stufe 2 befinden, akzeptiert werden würden. Die Frau der Stufe 1 äußert – mit anderen Worten – eine ungültige Meta-Erzählung, indem sie der Stufe 2 etwas zuschreibt was die Stufe 2 sich selbst nicht zuschreiben würde. Andererseits hat jede Frau der Stufe 2 die Stufe 1 erfahren und daher kann die Frau der Stufe 2, – unter Vermeidung einer inauthentischen Meta-Erzählung – sagen, dass die Stufe 2 höher, weiter und tiefer ist als die Stufe 1. Die Verneinung hierarchischer Stufen ist daher – mit anderen Worten – selbst eine ungültige Meta-Erzählung. Von Ferrer zu Tarnas zu Hickman zu Delores zu Beliot kann man diese ungültigen und inauthentischen Meta-Erzählungen vorüberziehen sehen. Sie geben sich als einfühlende, mitfühlende, empathische Wiedergaben, sind jedoch eigentlich eine Form hermeneutischer Gewalt.

Wachstum durch Erkenntnis

Okay, so weit so gut – aber warum macht man überhaupt diese Art von Studien? Ich weiß nicht wie es euch damit geht, aber bei mir als einer Frau war es so: als ich das erste mal In a Different Voice las, überprüfte ich sofort meine eigenen Antworten, die ich auf die Fragen gegeben hätte. Was die Frauen sagten, leuchtete mir ein, und wie Gilligan das zusammenfasste auch – und ich wollte – um alles in der Welt – auf Stufe 3 sein! Ich wollte nicht auf Stufe 1 oder 2 sein. Ich freute mich darüber, dass viele, vielleicht sogar die meisten meiner Antworten zur Stufe des universellen Mitgefühls passten – Stufe 3 –, aber in einigen Fällen musste ich schockiert festzustellen, dass ich fürsorgende oder sogar selbstbezogene Antworten gegeben hätte. Durch die Analyse meiner Antworten mit der Entwicklungsskala, die Carol entdeckte, hatte ich einen kleinen Wachstumsschub, einfach durch das Lesen des Buches.
Das ist der Hauptgrund dafür, dass diese Entwicklungsstudien gemacht werden. Wenn man Transformation und Wachstum will, dann muss man wissen, wohin die Reise geht. Organische Entwicklungsstudien zeigen die Konturen der höheren Landschaften und helfen uns dabei, uns in Richtung unserer höheren Potentiale zu orientieren oder legen uns diese verschiedenen Typen höherer Potentiale zumindest nahe. Natürlich dürfen wir diese Landkarten nicht zu ernst nehmen – aber das ist ja nichts Neues. ‚Leicht nehmen’ bedeutet nicht ‚auf den Müll werfen’. Darüber hinaus gibt es für jede Regel und für jedes Schema Ausnahmen,und man muss kein Korinthenkacker sein und auch kein dogmatischer Kategorisierer, um nützliche Hinweise in diesen sorgfältig erstellten, organischen Landkarten zu finden. Wir nennen sie ‚organisch’ weil sie sich, wie alle natürlichen Organismen – von Amöben zu Rosen zu Rotkehlchen – entwickeln.
Doch es gibt noch einen weiteren Aspekt, etwas unglaublich Wichtiges, was eine organische Genealogie leistet: sie führt uns aus der Sackgasse des Pluralismus und extremen Postmodernismus. Genealogie rettet uns vor dem pluralistischen Relativismus, vor dem Flachland der Gleichmacherei, vor dem dekonstruktiven Postmodernismus, der Epidemie unseres Zeitalters. Genealogie kuriert den postmodernen Alptraum, der nicht nur das akademische Leben ruiniert hat sondern große Bereiche der Kultur insgesamt. Genealogie heilt - kurz gesagt – den Pluralismus. [...]

Pluralismus geheilt

Nehmen wir Gilligans Beispiel. Der pluralistische Postmodernist würde behaupten, dass – abgesehen von offensichtlichen Regeln wie ‚verletze niemanden’ – alle individuellen und kulturellen Perspektiven im Wesentlichen gleich sind und die Antworten der Frauen daher gleichermaßen Gültigkeit haben, denn wer sind wir, dass wir uns herausnehmen zu beurteilen, was höher und was niedriger ist? Wer sind wir, dass wir uns anmaßen, diesen Frauen einen abstrakten Standard aufzuerlegen, in dem wir sagen, dass einige ihrer Antworten niedriger oder höher als andere sind? Vergessen wir doch alle diese wild wuchernden Stufen und respektieren wir alle Antworten gleichermaßen in dieser herrlich egalitären Welt.
Nun, wir hatten bereits drei Jahrzehnte dieser wild wuchernden, selbstbezogenen Stufe, nicht wahr? Boomeritis ist ein Ergebnis davon. Der Grund dafür, warum Genealogie den Pluralismus kuriert ist, dass eine sorgfältige Forschung über die zeitliche Entfaltung kultureller Muster verschiedene organische Muster nahe legt, welche die Kultur selbst verkündet (was der Grund dafür ist, dass es sich nicht um eine von außen auferlegten Meta-Erzählung handelt). Diese fließenden Muster weisen auf Beurteilungen hin, die der kulturellen Entfaltung innewohnen (und daher auch den unterschiedlichen Mustern sozialen Lernens innewohnen), Muster welche nicht von außen auferlegt werden. Diese natürlichen, innewohnenden, organischen Muster helfen uns dabei, einen moralischen Kompass inmitten des uns umgebenden Flachlandes zu errichten, inmitten der Führungslosigkeit des pluralistischen Relativismus. Darüber hinaus zeigen uns diese holistisch sich entfaltenden Muster konkret, wie man zu einer Bewusstseinswelle des Postmodernismus gelangt, wo alle Standpunkte als gleichwertig, unparteiisch und weltzentrisch angesehen werden.

Interpretationen und Zeitverlauf

Okay – wo stehen wir jetzt? Wir sind dabei, die historischen Reaktionen der orangen Aufklärung zu betrachten, und speziell deren unglückliche Schattenseiten. Wir sind an dem Punkt, wo das grüne Mem zu emergieren beginnt, und bemerkt, dass Interpretationen und die subjektive Komponente der Wirklichkeit (bzw. Bewusstsein an sich) gleichermaßen wichtig und manchmal sogar wichtiger als die objektiv-faktische Welt sind. Grün wird natürlich auch das ‚subjektivistische Selbst’ genannt, eben weil es so sensitiv gegenüber diesen inneren Dimensionen ist.
Diese post-Aufklärung, diese post-orange, post-moderne Welt fand heraus, dass es anstelle einer einzigen, universellen Welt sensomotorischer Fakten (ebenso) eine Vielfalt von Welten unterschiedlicher Interpretationen gibt. Angesichts dieser auch schockierenden Erkenntnis wurden zwei Hauptantworten formuliert: nimm die unterschiedlichen Interpretationen als gegeben und nicht weiter reduzierbar an, ohne dass eine davon anderen überlegen wäre. Dies war der grundsätzliche Ansatz des grünen Mem (also die Weltsicht, so wie sie sich innerhalb der grünen Struktur entwickelte) – ein Ansatz, den wir pluralistischen Relativismus nennen, und ein Ansatz, der bald den Postmodernismus definierte. Dieser Ansatz wurde dann auch die Heimat vom GGM [gemeinen grünen Mem] und Boomerits, und all den Alpträumen, die dazu gehören. Dabei sollen jedoch all die positiven und gesunden Aspekte nicht vergessen oder ignoriert werden.
Der zweite Ansatz stimmte mit dem ersten dahingehend überein, dass es keine einzige, vorgegebene Welt gibt sondern eine Vielfalt pluralistischer Interpretationen. Aber dann ging dieser Ansatz noch einen Schritt darüber hinaus und verfolgte diese Interpretationen organisch über die Zeit. Und was dabei in vielen Fällen herausgefunden wurde war, dass diese Interpretationen sich in einer holarchischen Hierarchie des Wachstums organisierten, einer organischen, sich entwickelnden Entfaltung zunehmend umfassender Wellen. Mit anderen Worten: Einige (nicht alle) Aspekte von Weltsichten entwickelten sich organisch über die Zeit, wobei übergeordnete Weltsichten ihre ‚Junioren’ transzendierten und umfassten – so wie Organismen Zellen transzendieren und umfassen, welche ihrerseits Moleküle transzendieren und umfassen, welche ihrerseits Atome transzendieren und umfassen.
Diese organischen Wachstumshierarchien sind immer noch in bedeutender Hinsicht pluralistisch, weil jede Stufe oder Welle als ein entscheidender Bestandteil der gesamten Spirale der Entwicklung gesehen wurde. All die pluralistischen Weltsichten wurden innerhalb der gesamten Entfaltung als grundlegend wichtig angesehen und sie alle spielen weiterhin eine entscheidende Rolle für jede weitere, sich nachfolgend entwickelnde Stufe. Im Unterschied zu den frühen Entwicklungsforschern, die der Meinung waren, dass jede ‚höhere’ Welle sich der schlechten ‚niedrigeren’ Wellen entledigt, entdeckte die gute Genealogie, dass alle Wellen entscheidend wichtig bleiben für die Gesamtentwicklung und ihre Funktion voll beibehalten. Jede Welle wurde daher vollständig gewürdigt und einbezogen, so wie sie war und manche Wellen wurden als umfassender und mitfühlender als andere angesehen: von selbstbezogen zu fürsorgend zu universellem Mitgefühl, zum Beispiel. Die Wellen der Entwicklung waren Wellen zunehmender Fürsorge und Bewusstheit.
Dieser zweite Ansatz war eine organische Genealogie in ihren vielen Formen. Organische Genealogie war nicht nur ein Ausweg aus dem Pluralismus, sie war im Wesentlichen ein Ansatz des zweiten Ranges gegenüber dem Postmodernismus, der gelb-türkise Weg durch die postmoderne Welt (und war daher zu Beginn wesentlich seltener anzutreffen als der Weg des grünen Mem). Es war ein konstruktiver Postmodernismus, der grün transzendierte und beinhaltete. Der Pluralismus, der durch grün auf eine wunderbare Weise befreit wurde, dieser Pluralismus konnte nun akzeptiert und umfangen werden. Doch anstatt die Fragmente in einer wütenden Verzweiflung sich austoben zu lassen, wurden sie in einem integralen Bewusstseinsspektrum zusammengewoben – auf der Grundlage einer innerlichen Hermeneutik, mit der sie selber übereinstimmten – einer aufeinander aufbauenden Holarchie des Wachstums und des Beinhaltens, welche jede einzelne Weltsicht in ihren eigenen Begriffen aufnahm, zusammengewebt in einem Teppich zunehmender Fürsorge und Bewusstheit.
Der zweite Rang bzw. der integrale Postmodernismus konnte dabei erfolgreich sein, weil Entwicklung selbst zunehmend als eine atemberaubend komplexe Angelegenheit verstanden wurde. Es war nicht so, dass lediglich eine Entwicklungslinie sich Stufe für Stufe auf einer Leiter linear hocharbeitete und dabei alle vorhergehenden Stufen verurteilte und von sich warf wie eine alte Haut. Es gibt unterschiedliche Entwicklungslinien oder Ströme, welche durch die verschiedenen Ebenen oder Wellen der Entwicklung hindurchlaufen, so dass Individuen und Kulturen immer eine komplexe Mischung von hochentwickelten Fähigkeiten, mittleren Fähigkeiten und wenig bis gar nicht entwickelten Fähigkeiten darstellen – ganz abgesehen von den authentischen, veränderten Bewusstseinszuständen, welche auf praktisch jeder Stufe zur Verfügung stehen (siehe unten). Folglich ist das ‚Einordnen’ eines Menschen oder einer Kultur als ’höher’ oder ‚niedriger’ auf einer einzelnen, monolithischen Skala der krasse, wenn auch pionierhafte Fehler, der praktisch allen frühen Entwicklungsforschern unterlief, von Joachim von Fiore bin zu Auguste Comte. Dies bedeutet ebenso, dass, nur weil eine Kultur zeitlich später existiert als eine andere, die spätere Kultur deshalb nicht automatisch in allen Belangen ‚höher’ ist. Frühere Kulturen konnten in einzelnen Linien und Zuständen hervorragend entwickelt sein (es gibt dafür reichlich Belege) – doch man sollte deshalb nicht die vielen positiven Errungenschaften der Aufklärung in Bausch und Bogen verdammen – wie das die PMS gerne tut.

Pioniere

Historisch betrachtet sehen wir diesen Weg des zweiten Bewusstseins-Ranges durch die postmoderne Welt in Gelehrten wie Schelling, James Mark Baldwin (Amerikas größter Psychologe), den bemerkenswerten Jean Gebser (ein Pionier einer Genealogie der Weltsichten), Jürgen Habermas (der größte derzeit lebende Philosoph), Aspekten des späten Foucault (als er begann, sich von einer Genealogie der Brüche zu einer organischen Genealogie zu bewegen), Aurobindo (der größte Philosoph-Weise der Welt), [...] bis hin zu unserer heutigen Zeit, mit Robert Kegan, Carol Gilligan, Bill Torbert, Jane Loevinger, Jan Sinnott, Jenny Wade, Susanne Cook-Greuter, Clare Graves (SpiralnDynamics), und vielen vielen anderen.

Der Streit

Kehren wir nun zurück zu Sahlins und Obeyesekere. Erinnert ihr euch noch? Die Eingeborenen, James Cook, und ein Freitagabend Festmahl, mit der Leber des Kapitän als Höhepunkt? Ich hoffe allen ist klar, dass diese Debatte fürchterlich komplex und anspruchsvoll ist, und dass ich hier nur sehr verallgemeinernd etwas sagen kann, also kurz und bündig: Obeysekere repräsentiert im Wesentlichen die Historiografie einer orangen Wissenschaft, und Sahlins eine Historiografie eines grünen Pluralismus. Da beides Meme des ersten Ranges sind, können beide nicht erkennen,dass sie im Wesentlichen recht haben, oder, wie wir sagen, beide haben zur Hälfte recht und zur Hälfte unrecht. Natürlich gibt es dabei eine Reihe sensomotorischer Fakten, welche als Fakten für eine Interpretation nicht sehr viel hergeben – so wie sie beschrieben wurden, gab es sie oder es gab sie nicht (z. B. an genau welchem Datum begannen und endeten die Festivitäten für Lono und Ku? Wie viele Personen nahmen an dem Fest teil in der Nacht, als Cook ermordet wurde? Wo geschah es? Wer tat es und womit? Es stellt sich heraus, dass Obeyesekere durch eine sehr sorgfältige und eindrucksvolle Darstellung dieser Art von sensomotorischer Fakten – Fakten, die in den meisten Fällen von keinem von beiden bestritten werden – die spezifischen Interpretationen von Sahlins durchlöchern konnte, ohne dass Sahlins dies überzeugend widerlegt. Sahlins generelle Position jedoch, – dass sie Eingeborenen eine andere Weltsichten hatten, als die einer praktischen Rationalität der Europäer, ist so überzeugend, dass er in dieser Hinsicht eindeutig der überzeugendste Historiker ist, und die Mehrheit derjenigen, die der Debatte folgen, scheint dem zuzustimmen.

Integrale Historiografie

Offenbar tragen beide ein wichtiges Puzzlestück zum Gesamtbild bei. Sahlins, als ein guter grüner Postmodernist, schmuggelt tonnenweise universell-orange wissenschaftliche Fakten hinein, bei gleichzeitiger Leugnung der Gültigkeit einer universal-orangen Wissenschaft; und Obeyesekere argumentiert für die Unverzichtbarkeit interpretativer Weltsichten eines Anderen, sogar auch dann, wenn sich seine eigenen orangen Interpretationen in das Denken der Eingeborenen einschleichen. Doch wir müssen das nicht alles aufrollen: jede wirklich integrale Historiografie des zweiten Ranges würde bewusst, offenlegend und transparent eine kluge Verbindung von Fakten und Interpretationen verwenden, zusammengebracht durch eine integrale Methodologie, die jedem einen eigenen Platz zuordnet und die spezifischen Interaktionen berücksichtigt.
In dieser einfachen Übersicht habe ich kurz das Interpretationsschema von Spiral Dynamics aufgezeigt. Wir haben den Eindruck, dass wenn Sahlins die Interpretationen des roten Mem für die meisten Handlungen der Eingeborenen verwendet hätte, dies sehr viel mehr Sinn ergeben hätte. Sahlins versucht, eine Art von altmodischer, strukturalistischer Mythologie zu rekonstruieren, die einfach nicht mit den sensomotorischen Fakten übereinstimmt – und, erinnern wir uns, Interpretationen sind nicht vollständig gebunden an und auch nicht reduzierbar auf sensomotorische Fakten, aber sie müssen insgesamt zu ihnen passen, sonst wird niemand die Interpretationen akzeptieren. Keine Mythologie behauptet, dass im irdischen Bereich die Äpfel nach oben fallen und die Männer Kinder gebären. Einige der Interpretationen von Sahlins fallen in diese Kategorie, die die Fakten ad absurdum führen, was Obeyesekere kompetent aufzeigt und worauf Sahlins nicht adäquat reagiert.
Wir am IC sind der Meinung, dass ein Spektrum von anspruchsvollen, genealogischen Interpretationsrahmen zur Anwendung kommen sollte, wie z. B. die Arbeit von Clare Graves und Spiral Dynamics. Aber wir bestehen keinesfalls auf diesem speziellen Modell! Einem Historiker stehen viele Möglichkeiten zur Verfügung. Wenn jedoch ein Historiker den unüberwindlichen Schwierigkeiten und Widersprüchen eines ausschließlich orangen-wissenschaftlichen Historikers oder denen eines ausschließlich grün-pluralistischen Historikers entkommen will, dann besteht der nach bisherigen Erkenntnissen einzig machbare Weg darin, zusätzlich zu orangen Fakten und grünen Interpretationen eine Genealogie des zweiten Ranges heranzuziehen.
In einem Buch mit dem Titel Integrale Psychologie hat einer unserer Kollegen hier am IC über 100 genealogische Landkarten der Bewusstseinsentfaltung zusammengestellt, aus prämodernen, modernen und postmodernen Quellen (einschließlich derer von Spiral Dynamics, Bob Kegan, Jane Loevinger, Plotinus, Aurobindo, Lady Tsogyal, Heilige Teresa). Was so erstaunlich daran ist, ist die allgemeine Übereinstimmung in den Grundrissen der Bewusstseinsentfaltung, speziell wenn wir diese Betrachtungen nicht zu eng sehen und die sich entfaltenden Wellen lediglich als Orientierungsverallgemeinerungen betrachten, in einem sich entfaltenden, erblühenden, absolut verwirrenden Etwas, was wir Welt nennen. Zumindest bieten diese 100 Landkarten den Historikern ein reichhaltiges Buffet von Interpretationsschemata an, welche sie dabei unterstützen, die unterschiedlichen Anderen in Raum und Zeit besser zu verstehen, so lange die Landkarten als Vorschläge verstanden werden und nicht als starre Kategorisierungen.

Eine Vorgehensweise

OK, ich stelle jetzt zum Schluss noch unsere allgemeinen Vorschläge für eine integrale Historiografie vor. Wir bezeichnen diesen Ansatz, wie viele von euch wissen, als einen ‚alle Quadranten, alle Ebenen, alle Linien, alle Zustände, alle Typen’ Ansatz. Und wir empfehlen, dass Menschen diese Merkmale in etwa in dieser Reihenfolge durchgehen. Das heißt, man beginnt mit ‚alle Quadranten’ und schaut, ob das Sinne macht. Dann fügt dann ‚alle Ebenen’ hinzu – fügt die genealogischen Hauptebenen bzw. Bewusstseinswellen hinzu (welche ebenso einige der Hauptmöglichkeiten darstellen, wie Menschen die Welt interpretieren), und schaut ob das Sinn macht. Wenn es Sinn macht, dann kommt der ‚alle Linien’ Aspekt hinzu – und zwar die Vorstellung, dass es nicht nur eine einzige Linie einer genealogischen Entfaltung gibt, sondern unterschiedliche Entwicklungslinien bzw. Ströme, die sich durch die verschiedenen Ebenen oder Wellen hindurchbewegen. Und dann, wenn man möchte, fügt man ‚alle Zustände’ hinzu – ein Mensch kann auf praktisch jeder Entwicklungsstufe eine Gipfelerfahrung bzw. einen veränderten Bewusstseinszustand haben (wenngleich diese Zustände durch die Brille der jeweils gegenwärtigen Entwicklungsstufe interpretiert werden). Was dann noch hinzugefügt werden kann, sich ‚alle Typen’ nicht im Sinn einer starren Kategorisierung von Menschen durch einen Typus vorzustellen, sondern dergestalt, dass bei der Verwendung von Typologien eine große Bandbreite sichergestellt ist und Marginalisierungen vermieden werden.

Quadranten als Beispiel

Ein bisschen viel auf einmal? Dann beginnen wir einfach bei den Quadranten. Machen wir einen schnellen Rundgang durch die Quadranten mit Beispielen, um zu zeigen worum es bei den konkreten Methodologien geht. Wie viele von euch wissen, sind die vier Quadranten (das Innere und das Äußere des Individuellen und des Kollektiven) einfach nur einen Variation der ‚Großen Drei’ – bzw. der drei Dimensionen der Wirklichkeit, wie sie von praktisch allen bekannten Kulturen beschrieben wurden. Dies sind das Schöne, das Gute und das Wahre – das heißt eine subjektiv-ästhetische Dimension des ‚Ich’, eine moralische Dimension des ‚Wir’ und eine objektive Dimension des ‚Es’ – Kunst, Moral und Wissenschaft zum Beispiel. Diese drei Dimensionen sind der Bereiche der 1ten Person, der 2ten Person und der 3ten Person – Ich, Wir und Es. (Wir fassen ‚wir’ und ‚du’ innerhalb der zweiten Person zusammen, um die Gegenseitigkeit zu betonen.) Die vier Quadranten weisen einfach nur darauf hin, dass die Dimension des ‚Es’ oder der 3ten Person eine singuläre wie auch eine plurale Form hat – also Es [it] und Sie [its] (und so erhalten wir einen Ich, Wir, Es und Sie Quadranten). [....]
Die meisten traditionellen westlichen Historiografien seit der Aufklärung wurden durch das orange Mem vorgenommen, welches sich aufgrund seiner wissenschaftlichen Neigungen überwiegend auf die Darstellung ,der Fakten’ konzentrierte, so wie sie sich historisch entfalteten. Für die auch bei diesem Vorgehen notwendige Interpretation verwendeten diese Historiker einfach ihre Interpretationen des orangen Mem (einer ‚praktischen Rationalität’ – z. B. Obeyesekere) ohne zu erkennen, dass dies lediglich Interpretationen waren, und dass es noch andere, manchmal sogar legitimere bzw. angemessenere Interpretationen dieser Fakten gab.
Dennoch hat dieser allgemeine Ansatz seinen Platz und Wert, weil er sich auf die rechtsseitigen Quadranten konzentriert, d. h. die objektiven, sensomotorischen Aspekte aller Ereignisse (und die rechtsseitigen Quadranten sind ein entscheidender Bestandteil eines jeden integralen Ansatzes). Im oberen rechten Quadranten konzentriert sich dieser Ansatz auf die bestmögliche und genaueste Beschreibung des Verhaltens von Individuen und jeglicher objektiver Faktoren, die sich auf dieses individuelle Verhalten auswirken. Im unteren rechten Quadranten konzentriert man sich auf das Verhalten objektiver Systeme – von sozialen Systemen über Ökosysteme zu techno-ökonomischen Produktionsgrundlagen bis hin zu konkreten Kommunikationsweisen. Dies ist das klassische Feld der objektiven Sozialwissenschaften, wie physikalische Anthropologie, Archäologie und so weiter, Ansätze, die auf die dynamische Systemtheorie, die Chaostheorie, die Komplexitätstheorien und die Erhebung sozialer Daten zurückgreifen. Dieses Ansätze versuchen ‚einfach nur die Fakten’ im Hinblick auf soziale Systeme und deren Interaktionen mit Individuen, Ökosystemen, geophysikalischen Systemen und anderen objektiven Wirklichkeiten darzustellen. Hinsichtlich der Historiografie versuchen diese rechtsseitigen Ansätze, individuelles und kollektives Verhalten über die Zeit auf eine empirische Weise – soweit dies möglich ist – zu beschreiben.

Die rechtsseitigen Quadranten

Klassische rechtsseitige Ansätze gegenüber der Anthropologie und Geschichte haben beispielsweise entdeckt, dass im unteren rechten Quadranten sich die Menschheit allgemein vom Jagen und Sammeln über den Ackerbau zur Industrie- und weiter zur Informationsgesellschaft entwickelt hat. Diese grundlegenden, anthropologischen Fakten und ihre historische Abfolge ist unbestritten (sogar auch bei grünen Pluralisten, wenngleich diese das Wort ‚Entwicklung’ nicht verwenden würden, sondern davon ausgehen, dass es sich dabei um gleichwertige Produktionsmethoden handelt, auch wenn sie im gleichen Atemzug das Industrielle abwerten). Der Punkt dabei ist, dass im unteren rechten Quadranten diese sich entfaltenden Produktionsmethoden ein entscheidender Bestandteil der Menschheitswanderung durch die Zeit sind, mit einer so herausragenden Bedeutung, dass die verschiedenen Formen des historischen Materialismus (Marxismus und Neomarxismus) den unteren rechten Quadranten zum herausragenden Bestimmungsfaktor für alle anderen geschichtlichen Merkmale (und damit der Menschheit insgesamt) erklärt haben. Betrachtet man die aktuellen statistischen Analysen, von, sagen wir, den Prozentzahlen einer jeden dieser sozialen Formen – Frühzeit, Gartenbau, Herdenhaltung, Maritim, Ackerbau, industriell, informationell – und deren unterschiedliche kulturelle Praktiken (vom Brautpreis bis zur Kriegsführung, vom Glücksspiel bis zur Beschneidung, von weiblichen Gottheiten zu männlichen Gottheiten), dann ist es erstaunlich, wie machtvoll der untere rechte Quadrant das Bewusstsein der Kultur und der Individuen beeinflusst. Es wird deutlich, warum Marx zu der Annahme kam, dass nicht das Bewusstsein der Individuen deren sozial-ökonomische Bedingungen bestimmt, sondern warum die sozialen Bedingungen das Bewusstsein bestimmen. Noch einmal, Marx geht darin zu weit. Dennoch, auch wenn wir am IC dem unteren rechten Quadranten keine derartig privilegierte Stellung geben, ist er dennoch - sozusagen - ‚ein Viertel’ der ganzen Geschichte und muss in einem jeden integralen Ansatz voll gewürdigt und aufgenommen werden. Der Einfluss der ‚Basis’ – des unteren rechten Quadranten – ist wirklich erstaunlich. Er ist vielleicht der herausragende einzelne Bestimmungsfaktor hinsichtlich des durchschnittlichen Bewusstseins einer jeden Gesellschaft. Die klassischen Ansätze des unteren rechten Quadranten umfassen u.a. Comte, Feuerbach, Marx und Lenski.
Viele Historiker geben uns immer wieder wunderbare Beschreibungen dieses Quadranten und seiner bedeutenden Rolle in der Geschichte (auch wenn sie ihn meistens überbewerten) – beispielsweise die Rolle von Waffen, Seuchen und Stahl. Das ist der untere rechte Quadrant.
Erinnern wir uns aber auch an die Bedeutung des oberen rechten Quadranten für die Historiografie: wusstet ihr, dass die Aufklärung ohne den hohen Koffeingehalt im Kaffee, der damals populär wurde, vielleicht niemals stattgefunden hätte?

Die linksseitigen Quadranten

So wichtig wie die rechtsseitigen Wege und Methoden auch sind, es gab immer schon Ansätze zum Verständnis des Kosmos – und dem Platz der Menschheit darin –, die nicht nur das Äußere und das Verhalten untersucht haben sondern auch das Innere und dessen Bedeutung. Diese linksseitigen Ansätze versuchen Innerlichkeiten zu verstehen: Bewusstsein, Bedeutung, Interpretation, Tiefe, das Innen, Werte, Intentionen... Dies ist im Allgemeinen das Betätigungsfeld der interpretierenden, introspektiven, hermeneutischen und phänomenologischen kulturellen Studien. Wie wir gesehen haben, waren die Hauptansätze dabei der pluralistische Relativismus und die organische Genealogie. Beide Ansätze teilen eine pluralistische Orientierung und stimmen darin überein, dass es keine für sich stehende, vorgegebene Welt eindeutiger Interpretationen gibt, welche gleichermaßen wahr für alle Menschen ist. Der pluralistische Relativismus sagt, dass es eine Vielzahl pluralistischer Endgültigkeiten gibt, von denen jede mehr oder weniger gültig ist, ohne dass es dafür universelle oder kulturübergreifende Meta-Beschreibungen und Werturteile gäbe. Eine entwicklungsorientierte bzw. organische Genealogie stimmt insoweit zu, dass dies zumindest oft der Fall ist. Sie weist jedoch auch darauf hin, dass umfangreiche Forschungen den Schluss nahe legen, dass sich viele dieser Weltsichten selbst über die Zeit hin entwickelt haben, und dass innerhalb des hermeneutischen Horizontes der Weltsichten diese selbst darin übereinstimmen oder den Schluss nahe legen, dass manche Weltsichten weniger und manche mehr entwickelt sind. D. h. sie treffen normative Beurteilungen hinsichtlich ihrer weniger entwickelten Vorgänger. Dies gibt uns eine Beurteilungsskala – nicht alle Weltsichten sind unter unterschiedlichen Gegebenheiten gleichwertig – und damit können wir dem performativen Widerspruch entkommen, welcher alle Schulen des relativistischen Pluralismus verfolgt.
Doch man kann die vier Quadranten in jedem Fall verwenden, ob man nun ein pluralistischer Relativist oder ein entwicklungsorientierter Genealogist ist, weil die vier Quadranten vier gleichwertige Dimensionen darstellen, die in allen Ereignissen gegenwärtig sind. Zwischen den Quadranten selbst gibt es keine Hierarchie oder Rangfolge, weil sie alle nicht vernachlässigbare und wesentliche Bestandteile eines jeden Ereignisses sind. Alle Kulturen haben Zugang zu Wirklichkeiten der ersten, zweiten und dritten Person, und die vier Quadranten erinnern uns einfach nur daran, dass wir alle diese Dimensionen berücksichtigen sollten, wenn es um das Verständnis irgendeines Ereignisses geht, sei es ein menschliches oder ein anderes Ereignis. Aus diesem Grund verwenden die grünen Postmodernisten gerne die Quadranten, was sehr gut ist - es ist ein Schritt in Richtung eines integraleren Ansatzes.
Kehren wir zu den linksseitigen Ansätzen gegenüber einer Historiografie zurück. Diese Ansätze unterstreichen die Bedeutung der Berücksichtigung von Innerlichkeiten, selbst wenn sie, wie auch ihre rechtsseitigen Gegenspieler, dabei oft zu weit gehen und die Bedeutung ihres Quadranten überbetonen. Manchmal gehen die linksseitigen Ansätze sogar so weit, die Existenz der rechtsseitigen Wirklichkeiten insgesamt zu leugnen! Wie wir gesehen haben, behaupten die meisten Formen des (extremen) Postmodernismus, dass es ‚keine Fakten, sondern nur Interpretationen’ gibt – also keine rechtsseitigen Dimensionen, sondern nur linksseitige. Die klassische, postmoderne Bewegung leugnet tatsächlich alle Quadranten mit Ausnahme des unteren linken Quadranten. Sie leugnet alle Wirklichkeiten mit Ausnahme kultureller Interpretationen (‚die soziale Konstruktion der Wirklichkeit’). Sie versucht sogar, das individuelle subjektive Bewusstsein (der ‚Tod des Subjektes’) auf nichts anderes als ein Spiel riesiger, unpersönlicher, kultureller Systeme, sozial-linguistischer Signifikanten und/oder nichtdiskursiver Machtformen zu reduzieren (ein Ansatz, der auf eine bizarre Weise in eine Art kollektiv äußeren Ansatz des unteren rechten Quadranten abgleitet – aber das ist eine andere Geschichte).
Natürlich haben diese Postmodernisten – wie auch ihre Gegenspieler des unteren rechten Quadranten, die historischen Materialisten – gute Gründe dafür, sich über die Rolle ihres speziellen Quadranten zu begeistern. Der untere linke Quadrant (der kulturelle Hintergrund) ist extrem wichtig, unvermeidbar und eine auf nichts anderes zu reduzierende Dimension eines jeden Ereignisses. Er hat einen tiefgreifenden Einfluss auf Individuen, auf den Geschichtsverlauf und unser Verständnis darüber. Doch um diese bedeutende Erkenntnis aufzunehmen, müssen wir nicht in einen Extremismus verfallen und die Existenz der anderen Quadranten leugnen, indem wir sie alle auf kulturelle Interpretationen reduzieren. Was wir lediglich tun müssen, ist zu erkennen, dass die Welt nicht einfach nur die Gesamtsumme äußerer Faktoren ist, sondern dass sie ebenso inneres Bewusstsein enthält, Intersubjektivität, Bedeutung, Werte und Intentionen – und auf ihre Art und Weise ist deren Existenz ebenso ‚faktisch’, ontologisch real und nicht-reduzierbar wie die äußeren Fakten. Diese ‚subjektiven Fakten’ müssen neben die ‚objektiven Fakten’ gestellt werden, als nicht-reduzierbare Wirklichkeiten des Kosmos.

Methodiken

Klassische Untersuchungen des oberen rechten Quadranten (dem Inneren des Individuums, bzw. dem Spektrum des Bewusstseins, wie es sich in Individuen zeigt) wurden von Plotin, Augustinus, Freud, Jung, Buddha, Asanga und Vasubandhu, William James, Clare Graves, Abraham Maslow u. a. unternommen.
Beispielgebende Untersuchungen des unteren linken Quadranten (kulturelle Kontexte, Hintergründe, Gruppenidentitäten, Hermeneutik, Interpretation) sind die von z. B. Nietzsche, Dilthey, Heidegger, Gebser, Taylor Kuhn u.a.
Eine Historiografie ‚aller Quadranten’ ist daher der bewusste Versuch, die Wirklichkeit in allen vier Quadranten der Existenz anzuerkennen, zu untersuchen und aufzudecken: dem Intentionalen, dem Verhaltensorientierten, dem Kulturellen und dem Sozialen, unter Verwendung von Techniken und Methoden, welche überwiegend von den Spezialisten der jeweiligen Quadranten bereits entwickelt worden sind. Für die rechtsseitigen Quadranten sind dies: die individuellen und sozialen Wissenschaften – Verhaltensforschung, empirisch-analytische Messungen, monologische Beobachtungen, statistische Analysen, und die große Bandbreite der evolutionären Wissenschaften und der Systemwissenschaften (einschließlich der Chaos- und der Komplexitätstheorien); für die linksseitigen Quadranten: die hermeneutischen, introspektiven, phänomenologischen, intersubjektiven, dialogischen, interpretierenden und genealogischen Methoden.

Entwicklung

Das ist der ‚alle Quadranten’ Teil. Für wen das Sinn macht, der kann dann noch den ‚alle Ebenen’ Teil hinzufügen. Dies bedeutet die Hinzufügung der Genealogie bzw. der organischen Entwicklungsaspekte zu den Quadranten. Das muss man natürlich nicht machen – man kann einen pluralistischen Relativismus und eine lokale Hermeneutik für die interpretierenden Dimensionen verwenden – man kann ‚alle Quadranten’ ohne ‚alle Ebenen’ sein. Wir haben jedoch den Eindruck, dass eine große Menge von Forschungsmaterial die Hinzufügung einer Entwicklungskomponente zu den Quadranten dringend nahe legt – wir glauben, dass sich alle vier Quadranten entwickeln (sie ‚tetra-evolvieren’ gemeinsam in gegenseitiger Interaktion) und dass die Würdigung dieser organischen Muster die historiografischen Interpretationen enorm bereichert.
Der Schritt von ‚alle Quadranten’ zu ‚alle Quadranten, alle Ebenen’ ist für viele oft der schwierigste Teil, und wir gehen sehr vorsichtig bei der Empfehlung dieses Schrittes vor. Die Quadranten machen praktisch niemandem Probleme; die meisten Menschen erkennen sofort deren Bedeutung und verwenden sie augenblicklich. Bei den Ebenen oder Wellen ist es schwieriger – und, offen gesagt, üblicherweise hat grün Widerstände gegen die Vorstellung von Ebenen, wohingegen gelb sie von Anfang an intuitiv begrüßt. (Erinnern wir uns, dass Forschungen nahe legen, dass das intuitive Verständnis der hierarchischen Spirale eines der definierenden Charakteristiken von gelb und dem zweiten Rang im allgemeinen ist).
Auf der Grundlage aktueller Forschung ist es ziemlich sicher, dass einige Entwicklungsebenen universell sind. In der kognitiven Entwicklungslinie beispielsweise entwickeln Kinder – soweit wir das sagen können – zuerst Bilder, dann Wortsymbole, dann Konzepte, und dann Regeln. Von dieser allgemeinen Abfolge kennen wir keine einzige Ausnahme (sie ist kulturübergreifend und universell). Diese Abfolge emergiert in einer Reihenfolge, welche weder durch soziale Konditionierungen noch durch Umweltumstände verändert werden kann (weil jede höhere Ebene als Elemente die vorangegangenen Ebenen beinhaltet, was der Grund dafür ist, warum keine Stufen übersprungen werden können – ebenso wenig wie man, wenn man von Atomen zu Zellen gelangen will, die Moleküle überspringen kann).

Moralische Entwicklung

Ähnlich verhält es sich mit der moralischen Entwicklungslinie. Säuglinge beginnen ihre moralische Entwicklung auf einer Art prä-konventionellen Stufe, was bedeutet, dass sie von ihrer jeweiligen Kultur noch nicht sozialisiert wurden. Es bedeutet nicht, dass Säuglinge keinerlei moralische Fähigkeiten haben, sondern lediglich, dass diese noch nicht von der jeweiligen Kultur geformt und strukturiert wurden. Wenn das beginnt, entwickeln sich die Kinder vom Präkonventionellen zum Konventionellen: sie werden sozialisiert und konventionalisiert, was dann oft zu einer Art konformistischen oder gruppengebundenen Ethik führt. Wenn sie sich weiter entwickeln (was nicht alle tun), dann können sie sich über einige der vorherrschenden kulturellen Normen und Gebräuche hinausentwickeln und werden postkonventionell – sie können die Normen nun normieren, die Ethik ihrer Kultur reflektieren und darüber entscheiden, ob es sie es wert sind, angenommen zu werden.
Wenn wir sagen, dass es universelle Merkmale z. B. bei der kognitiven und der moralischen Entwicklungslinie gibt, dann meinen wir damit diese sehr allgemeinen Reihenfolgen und Wellen, wie ich sie gerade beschrieben habe. Wir meinen damit nicht notwendigerweise die spezifischen Details dieser Linien, wie sie von den jeweiligen Forschern wie Piaget und Kohlberg beschrieben wurden (es gibt in der Tat Probleme bei einigen ihrer Formulierungen, aber eine fortdauernde Forschung zeigt auch sehr deutlich, dass vieles von dieser Arbeit nach wie vor gültig ist). Ich glaube, dass es von allergrößter Wichtigkeit für eine ‚gute Genealogie’ ist, dass man sich auf einen sehr allgemeinen und verallgemeinerndem Ansatz gegenüber den Ebenen und Wellen des Bewusstseins bezieht. Trifft man universelle Einschätzungen und Beurteilungen - und es bleibt einem gar nichts anderes übrig (sogar der anti-hierarchische Pluralist stellt zahlreiche universelle Gültigkeitsbehauptungen auf, wie wir gesehen haben, auch wenn er diese zu verbergen versucht) – wenn man also universelle Beurteilungen aufstellt, dann sollte der Standard dafür so hoch wie möglich sein, weil der Preis für mögliche Fehleinschätzungen außerordentlich hoch ist.

Entwicklungsforschung

Aus diesem Grund empfehlen wir am IC (1) die Fortsetzung der Forschungsarbeit hinsichtlich der detaillierten,spezifischen Entwicklungsmodelle, wie z.B. derjenigen von Clare Graves, Jane Loevinger, Susanne Cook-Greuter, Jenny Wades, Robert Kegan, William Torbert, James Mark Baldwin, Jan Sinnott, Carol Gilligan, Patricia Arlin, Cheryl Armon, und so weiter. Wenn man dann (2) Historiografie betreibt, oder wenn man universell gültige Übersichten jedweder Art anbietet, dann sollte man so allgemein wie möglich gehaltene Entwicklungsschemata anwenden – wie beispielsweise egozentrisch zu ethnozentrisch zu weltzentrisch, oder impulsiv zu konformistisch zu autonom, oder prä-konventionell zu konventionell zu post-konventionell, und so weiter. (Natürlich kann man in einer bestimmten Kultur detailliertere Stufenbeschreibungen verwenden, aber nur dann, wenn ausreichend genealogische Material vorliegt, welches einem erlaubt dies zu tun). Wenn man sich dann noch klar macht, dass ein Mensch auf irgendeiner Entwicklungsstufe Zustandsänderungen oder Gipfelerfahren von jedem der transpersonal-spirituellen Bereiche haben kann, dann gibt es keinen Hinweis, welcher der Annahme widerspricht, dass sich einige Bewusstseinsaspekte in einer genealogischen Abfolge entwickeln.
Diese einfache Abfolge – sagen wir prä-konventionell zu konventionell zu post-konventionell – reicht aus, um von ‚alle Quadranten’ zu ‚alle Quadranten, alle Ebenen’ zu gelangen, weil man nun diese Genealogie verwenden kann, um zu erkennen, dass jede der Grundwellen eine sehr unterschiedliche Weltsicht hat mit unterschiedlichen Werten, unterschiedlichen Bedürfnissen, einer unterschiedlichen Wahrnehmung, unterschiedlichen Antrieben usw. Dadurch erhält man etwas, was reine Hermeneutik und reiner Pluralismus nicht vorgeben können: eine Tiefenskala. Dies reicht bereits aus, um den gesamten Ansatz vor den Widersprüchen des pluralistischen Relativismus zu retten.
Hat man einmal mit der Anwendung von Entwicklungsebenen begonnen – und dies hilft dabei, wie wir glauben, sich selbst bewusstseinsmäßig von grün nach gelb zu entwickeln –, dann wird man auch offener für denjenigen Teil der Forschungen, welcher nahe legt, dass es Entwicklungsabfolgen gibt, die universell sind, und dass es andere Entwicklungsabfolgen gibt, welche an eine bestimmte Kultur gebunden sind. Manche dieser Skalen sind eindeutig universell, sie werden von allen Menschen durchlaufen – ich habe zwei Beispiele dafür gegeben; andere werden von Menschen in einer bestimmten Kultur durchlaufen; andere wiederum nur in einer bestimmten Subkultur. Integrale Psychologie enthält Abbildungen mit über 100 Entwicklungsabfolgen von prä-modernen, modernen und postmodernen Quellen. Unser Eindruck ist, dass die allgemeinen Übereinstimmungen in so vielen dieser Landkarten eine ausreichende, universelle Strömung der Entwicklung nahe legen, welche durch die Menschheit hindurchströmt – ein großer Fluss des Lebens sozusagen –, und die verschiedenen Entwicklungsmodelle sind jeweils einfach nur ungefähre Schnappschüsse dieses großen Flusses. Alle Entwicklungsmodelle sind begrenzt, weil keines von ihnen den ganzen Fluss in all seiner schäumenden, dynamischen Herrlichkeit erfassen kann. Aber viele von ihnen sind nützlich, weil sie auf viele unterschiedliche Eigenschaften des Flusses hinweisen, die universell erkannt werden können. Welche Merkmale genau dieser Modelle universell sind, hängt letztendlich von der konkreten genealogischen Forschung ab, und aus diesem Grund stellen wir keine universellen Behauptungen auf, es sei denn sie sind auf Forschung gegründet. Die zwei (sehr allgemeinen) universellen Genealogien die ich bereits genannt habe – für die kognitive und die moralischen Entwicklung – sind von einer derart allgemeinen Art, dass wir sie bei dem hermeneutischen Versuch, den Anderen zu verstehen, verwenden können - und zwar eines jeden Anderen, zumindest auf diesem Planeten!
Ich persönlich glaube, dass die 8 Hauptwellen des Bewusstseins, wie sie von Clare Graves aufgezeigt wurden, nach dem derzeitigen Erkenntnisstand universell zu sein scheinen, und daher verwenden wir sie auch häufig (zusammen mit Spiral Dynamics) für eine genealogische Hermeneutik. Aber vergessen wir dabei nicht, dass dies lediglich ein Entwicklungsindex ist, daneben gibt es Duzende oder sogar Hunderte anderer nützlicher Modelle, von denen jedes einzelne uns etwas Wichtiges über den großen Fluss erzählen kann. Die vorliegenden Daten legen jedoch den Schluss nahe, dass die von Graves entdeckten allgemeinen Wellen sich sowohl phylogenetisch wie auch ontogenetisch entfalten. Solange wir uns bei jeder Verwendung dieser Konzeption immer auch eine bewusste und kritische Haltung bewahren, können wir berechtigterweise mit unserer genealogischen Hermeneutik fortfahren.
Einige Gelehrte sind der Meinung, dass alle 8 Grave’schen Ebenen (noch) nicht evident genug sind, um als ein Werkzeug für eine solide universelle Hermeneutik und Historiografie zur Anwendung zu kommen. Sie verwenden lieber Jean Gebser’s einfachere Genealogie: archaisch, magisch, mythisch, rational, integral. Andere wiederum verwenden bevorzugt nur drei sehr allgemeine Wellen: prä-konventionell, konventionell, post-konventionell. All das ist für mich völlig in Ordnung. Worum es dabei geht ist, dass, weil nur die organische Genealogie den Pluralismus überwinden kann, ein jedes der gerade erwähnten Modelle den Zweck einer integraleren, umfassenderen und ausgedehnteren Historiografie erfüllen kann.

Entwicklungslinien

Hat man sich einmal mit den Ebenen vertraut gemacht, ist es ein Leichtes die Linien hinzuzufügen (und den Schritt von ‚alle Quadranten, alle Ebenen’ hin zu ‚alle Quadranten, alle Ebenen, alle Linien’ zu machen). Erkennt man die Existenz von Ebenen an, dann ist der Schritt zu den Linien nicht schwer. Worum es dabei geht ist, dass es keine lineare, monolithische und universelle Entwicklungsleiter gibt – als eine einzige Skala, gegenüber der alle Individuen und alle Kulturen monologisch eingeordnet werden können im Sinne von ‚höher’ oder ‚niedriger’. Genau dies ist das Wesen einer schlechten Genealogie, mit all dem, was es zu vermeiden gilt. Bitte schaut euch diese schlechten Ansätze sehr genau an, denn sie sind dasjenige, was man nicht haben möchte, wenn es um Wachstum geht.
Der konstruktive, postmoderne, genealogische Ansatz basiert auf der Erkenntnis, dass es zahlreiche Entwicklungsströme gibt, welche sich durch die allgemeinen Entwicklungsebenen auf eine relativ unabhängige Art und Weise hindurchbewegen. Nach dem derzeitigen Wissensstand haben wir für mindestens zwei Duzend Entwicklungslinien eine Art von empirischer Evidenz [siehe Das Wahre, Schöne, Gute und Integrale Psychologie]. Dementsprechend kann ein Mensch bei bestimmten Linien relativ weit entwickelt sein, durchschnittlich in anderen Linien, und in wieder anderen Linien aber auch unterdurchschnittlich entwickelt sein – und das alles gleichzeitig. Die Gesamtentwicklung ist daher eine sehr wild-individuelle und eigenwillige Angelegenheit, und so gut wie nichts ist dabei linear.

Bewusstseinszustände

Fügen wir nun noch die Vorstellung von ‚alle Zustände’ hinzu, dann wird deutlich, wie sehr die Gesamtentwicklung nicht-linear ist. Ein Mensch auf praktisch jeder Ebene/Welle/Stufe der Entwicklung kann Zustandsveränderungen oder Gipfelerfahrungen erleben. Diese Gipfelerfahrungen passieren nicht nur Menschen irgendwann in ihrem Leben, sie waren oft auch ein entscheidender Auslöser vieler großer historischer Augenblicke. Ob man sie nun als ‚bloße Halluzinationen’ oder als kurze Einblick in ‚höhere Bereiche’ (oder beides) betrachtet, ohne ihre Berücksichtigung kann Geschichte nicht wirklich verstanden werden. Von Jeanne d’Arc zu Rasputin, von Martin Luther King Jr. zu Moses, veränderte Bewusstseinszustände waren immer schon ein bedeutender Motivationsfaktor für die Menschheit.

Typen

Zum Schluss noch – ganz kurz –,’alle Typen’. Einige Typologien sind vertikal und haben daher oft einen Entwicklungsaspekt. Wenn das so ist, dann übernehmen wir sie beim ‚alle Ebenen’ Teil. Viele Typologien sind jedoch ‚horizontal’ und beschreiben nützliche Klassifikationen von Charaktertypen, geschlechtlichen Orientierungen, Stilen, Neigungen usw., sowohl von Männern als auch von Frauen. Und natürlich achten wir wieder darauf, dass es nicht darum geht, Leute irgendwo in Schubladen einzuordnen. Gleichzeitig kann eine gute Typologie sehr viel zu einem guten Selbstverständnis beitragen. Denken wir nur an die vielen Anwendungsmöglichkeiten der Myers-Briggs Klassifikation, welche auf Jung’s 4 Haupttypen basiert (Denken, Fühlen, Empfinden, Intuieren). In jüngster Zeit findet das Enneagramm als eine nützliche Typologie mehr und mehr Verbreitung. In seiner horizontalen Form enthält es 9 Typen, welche auf jeder Entwicklungsstufe vorkommen können, so dass man beispielsweise kognitiv gelb 5 und moralisch orange 9 sein kann und so weiter [siehe dazu auch Ganzheitlich Handeln, Ken Wilber.]
Eine der bedeutsamsten Typologien in der Diskussion sind die von Carol Gilligan. Sie schlägt - zusätzlich dazu, dass sie 3 allgemeine Stufen einer hierarchischen weiblichen Entwicklung aufgezeigt hat -, vor, dass Männer und Frauen sich auf unterschiedliche Weise oder mit unterschiedlichen Stimmen durch die hierarchische Stufen hindurchentwickeln: Männer tendieren zu Agenz, unter Anwendung einer Logik von Recht und Gerechtigkeit; wohingegen Frauen beziehungsorientierter sind, unter Anwendung einer Logik von Fürsorge und Verantwortung. Wenngleich die Forschung klar ihre 3 hierarchischen Stufen unterstützt, so sind doch ihre Aussagen hinsichtlich männlich/weiblicher Typologien auf jeder Stufe (autonom versus beziehungsorientiert) noch recht lückenhaft. (Aktuelle Forschung z.B. sagt, dass ‚hinsichtlich einer moralischen Vernunft Männer Begriffe wie Fürsorge und Verantwortung ebenso oft oder öfter wie Frauen verwenden’ – also so ziemlich das Gegenteil von Gilligans Behauptung); andere Forschungsergebnisse hingegen unterstützen ihre These wieder. Da unser Motto lautet: Folge der Evidenz!, überlassen wir die Entscheidungsfindung den Forschungsergebnissen. Unser Tun besteht darin, dass wir sicherstellen, dass unsere Modelle die Forschungsergebnisse abbilden können. Sollte die Behauptung von Gilligan bestätigt werden, dann übernehmen wir die Gilligan’sche Typologie als gültig für praktisch jede Hauptebene der Entwicklung: d. h. Männer tendieren im allgemeinen bei der Entwicklung durch die hierarchischen Ebenen oder Wellen des Bewusstseins zu mehr agentischen, moralischen Antworten, wohingegen Frauen sich im allgemeinen durch die gleichen Ebene mit mehr beziehungsorientierten Antworten hindurchbewegen. Wie so oft sind die intra-geschlechtlichen Variationen größer als die inter-geschlechtlichen Variationen, es gibt hier einen hohen Grad an Variabilität. Viele Theoretiker jedoch – von Deborah Tannen zu Lesa Powell zu Belencki und anderen – haben überzeugende Beweise dafür gefunden, dass Männer und Frauen mit unterschiedlichen Stimmen sprechen, auch wenn sie sich durch dieselben grundlegenden und geschlechtsneutralen Ebenen entwickeln. Das Verfolgen dieser unterschiedlichen Stimmen durch die Geschichte hindurch ist vor diesem Hintergrund eine gute Idee, nicht wahr?
Okay, Leute, soweit dieser Überblick über ein integrales, historiografisches Modell mit ‚allen Quadranten, allen Ebenen, allen Linien, allen Zuständen, allen Typen.’“

(aus: Online Journal Nr. 51)

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