Kommunikation braucht einen gemeinsamen Erfahrungsraum

Ken Wilber über vertikale und horizontale Solidarität

Es gibt zwei Typen von Solidarität – horizontal und vertikal. Das allgemeine Verständnis von Solidarität ist das einer horizontalen Solidarität, wo zwei „Ich’s“ zu einem „Wir“ werden, innerhalb eines gleichen Horizontes von Tiefe. Doch es ist klar, dass wenn zwei Menschen zu irgendeiner Art von gegenseitigem Verständnis gelangen wollen, sie nicht nur kulturelle Solidarität miteinander teilen müssen, sondern auch eine gleiche Ebene kultureller Solidarität.

Es funktioniert nicht, wenn du und ich im gleichen sozialen System oder Ökosystem leben, und ich bin konventionell und du bist postkonventionell bzw. ich bin blau und du bist gelb [A. d. Ü.: Die Farbbezeichnungen der Entwicklungsstufen sind die von Spiral Dynamics.]. Unter diesen Umständen werden wir niemals ein gegenseitiges Verständnis über deine gelben Ideen, Wünsche und Bedürfnisse erreichen. Ich bin buchstäblich nicht in der Lage, diese als gelbe phänomenologische Wirklichkeiten zu erkennen und wahrzunehmen, sie sind mir „zu hoch“ und sie „kommen mir spanisch vor“. Auch wenn wir die gleiche Sprache mit der gleichen Syntax miteinander teilen, können einige der semantischen Wirklichkeiten wie gelbe Gedanken und Ideen, welche die Sprache transportiert, mich nicht erreichen, sondern erscheinen mir wie eine fremde Sprache.

Andererseits, wenn du dich auf der gelben Entwicklungsstufe befindest und ich mich auf der blauen und wir blaue Symbole, Worte und Zeichen (blaue Signifikanten) miteinander austauschen, dann kommen wir in den meisten Fällen  zu einem gegenseitigen Verständnis auf der blauen Entwicklungsstufe, weil wir beide Zugang haben zu der blauen Wahrscheinlichkeitswelle im AQAL-Ozean. (Wir können vertikal und horizontal miteinander in Resonanz sein.)

Wenn wir dann über blaue Werte sprechen (bzw. über Phänomene, die innerhalb dieses Ereignishorizontes auftauchen) wie die Bedeutung von Familienwerten, die Notwendigkeit einer nationalen Verteidigung oder die Bedeutung einer religiösen Tradition, werden wir uns verstehen, auch wenn wir dabei nicht einer Meinung sind. Wir beide können zumindest sehen, worüber wir sprechen (wohingegen ich keine der gelben Phänomene sehe und ihnen daher auch nicht zustimmen oder sie ablehnen kann).

Auch wenn Blau Gelb nicht versteht, versteht Gelb Blau (das typische, asymmetrische Gefälle in allen Holarchien). Wir können beide Mitglieder einer blauen Kultur sein, doch nur du kannst auch ein Mitglied einer gelben Kultur sein. Weil ich den gelben Erfahrungsraum nicht in meinem Ich-Bewusstsein realisieren kann, habe ich keinerlei Zugang zum gelben Erfahrungsraum und damit zur gelben Welt – in dieser Welt können wir uns nicht begegnen.

Vertikale Solidarität bedeutet daher, dass zwei Menschen eine gleiche Tiefe miteinander teilen, eine gleiche Bewusstseinsebene, und diese Ebene ist dann ein Teil ihrer kulturellen oder horizontalen Solidarität als Voraussetzung für ein gegenseitiges Verständnis. Damit Menschen sich gegenseitig innerlich begegnen können, müssen sie sich in einem konkreten phänomenologischen Raum begegnen können.

Horizontale Solidarität bezieht sich auf eine kulturelle Solidarität, die sich auf gleicher Tiefe entfaltet – sie bezieht sich auf alle Dinge, die sich „horizontal“ oder „translativ“ kulturell auf einer bestimmten Entwicklungsstufe ereignen.

Echtes gegenseitiges Verständnis erfordert beides, vertikale Solidarität (oder gemeinsam geteilte Tiefe) und horizontale Solidarität (oder gemeinsam geteilte Horizonte).In der AQAL-Matrix der ursprünglichen Perspektiven geht es nicht nur um das miteinander Teilen von Perspektiven, sondern um die gleiche Höhe oder Tiefe dieser Perspektiven – sonst gibt es keinen phänomenologischen Raum, in dem wir uns begegnen können.

(aus: Excerpt C, Ken Wilber – Übersetzung: Michael Habecker)
[A. d. Ü.: Der technische Begriff „Holon“ wurde in dieser Übersetzung durch den Begriff „Mensch“ ersetzt.]

(aus: IP 18, 2011)

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