Auszug aus dem Telefoninterview mit Ken Wilber auf der Tagung des Integralen Forum e.V. in Frankfurt 2005.

Transkription und Übersetzung: Editha Salisbury

Monika Frühwirt: Es ist mir aufgefallen, dass Sie in einem der neueren Texte eine andere Farbsymbolik verwenden – z. B. „Bernstein“ an Stelle von „Blau“. Was war der Auslöser dafür?
Ken Wilber: Ausgelöst wurde es durch den Linien-Absolutismus von Leuten, die mit Spiral Dynamics arbeiten. Die Sache ist völlig außer Kontrolle geraten.

Don (Beck) und Chris Cowan haben beide großartige Arbeit geleistet, indem sie Clare Graves sog. „Wertesysteme“ einem breiteren Publikum zugänglich und verständlich gemacht haben. Als ein einfaches Modell zur Einführung, hat mir Spiral Dynamics wirklich gut gefallen. (Deswegen habe ich in „Ganzheitlich Handeln“ auch darüber geschrieben – was Spiral Dynamics enorm bekannt gemacht hat.) Don und Chris meinen jedoch, Spiral Dynamics sei das einzig zutreffende Modell – und das stimmt nun einfach nicht!
Man muss sich darüber im Klaren sein, was es mit Entwicklungsmodellen auf sich hat: Da ist ein Lawrence Kohlberg, der die Leute fragt, „Welches Verhalten ist das Richtige?“, „Was sollte ich tun?“ - und damit Fragen nach der Moral stellt; da ist eine Jane Loevinger, die die Leute fragt „Wer bist du?“, „Beschreibe dein Selbst-Konzept“, “Was würde dein Selbst in einer solchen Situation tun?“; da ist ein Abraham Maslow, der fragt, „Was sind deine Bedürfnisse?“, „Was glaubst du, was du brauchst, um zu überleben?“; ... und da sind Leute wie Clare Graves, die sagen: „Beschreibe, wie sich eingesundes Individuum verhalten würde“ „Was für Werte hat es?“ Die Entwicklungslinien, die diese Psychologen herausgearbeitet haben, beschreiben nichts Gegenständliches, wie etwa die Stufen einer Treppe. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Entwicklungsstufen oder –phasen keine diskreten Dinge sind, sondern bestenfalls Wahrscheinlichkeitsverteilungen darstellen. Es handelt sich ganz einfach um die Wahrscheinlichkeit, ein bestimmtes Verhalten an den Tag zu legen. Ich benutze immer folgendes Beispiel: Die beiden Modelle, die das Konzept der Entwicklungsstufen am stringentesten anwenden, sind die von Piaget und Kohlberg. Aber selbst bei Kohlberg bedeutet mitten in der vierten Stufe zu sein lediglich, dass 50 % des Verhaltens gemäß Stufe 4, 25% gemäß Stufe 5 und 25% entsprechend Stufe 3 ausfallen wird. Es geht also um die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Verhalten auftritt und nicht um etwas Starres. Entwicklungsstufen an sich gibt es nicht. Sie sind einfach nur der konzeptuelle Rahmen, dessen Psychologen sich bedienen, um das Antwortverhalten von Menschen auf die Fragen der Psychologen zu beschreiben. Deshalb ist es eine grausige Verdinglichung, wenn man behauptet, dass es so etwas wie ein vMeme tatsächlich gibt.

Und nicht nur das, all diese Entwicklungslinien werden inzwischen von den Psychologen als multiple Intelligenzen erkannt. Und wie diese [Linien] alle miteinander zusammenhängen, ist eine sehr, sehr komplexe Angelegenheit. Eins ist jedoch absolut sicher: ein vMeme imSpiral Dynamics Modell beinhaltet weder die Strukturen von Piaget, noch die von Kohlberg und auch nicht die Stufen der Ich-Entwicklung von Loevinger..... Eine Integrale Psychologie würde alle diese Linien enthalten, ohne sie auf eine einzige reduzieren zu wollen. Leider ist letzteres, meiner Ansicht nach, bei Spiral Dynamics der Fall und deshalb ist hier große Vorsicht geboten.

Was ich gemacht habe, indem ich nun allgemeine Farben verwende, ist dass ich mich damit nur auf die Höhe [auf der y-Achse] beziehe. Höhe ist ein Maß für den Grad der Entwicklung, den Grad der Komplexität und den Grad des Bewusstseins in jeglicher Entwicklungslinie – sei es die Linie von Kohlberg, Piaget, Loevinger, Robert Kegan, William Torbert, Susanne Cook-Greuter, Clare Graves oder Don Beck. Alle müssen einbezogen werden. Alle! Und genau das leistet eine Integrale Psychologie und Spiral Dynamics tut das nicht. Wir verwenden Spiral Dynamics als ein Teilelement und nur als ein solches.

Die Weisheitstraditionen verwenden die Farben des Regenbogens, wie er in der Natur vorkommt. Das sind nicht die Farben, die Spiral Dynamics benutzt. Ich wollte nunmehr die natürlichen Spektralfarben einsetzen, weil die Traditionen es seit mehr als zweitausend Jahren so gehalten haben. Ich wollte keine Farben verwenden, die zu Verwechslungen führen würden, wenn man mit Spiral Dynamics arbeitet.

In den Traditionen wird z. B. Blau als sehr hoch angesetzt; Blau und Indigo symbolisieren die höchsten Ebenen. Ich wollte Blau nicht verwenden, um Verwechslungen mit Spiral Dynamics zu vermeiden. Zufällig stimmen die Farben Türkis, Grün, Orange und Rot mit denen des natürlichen Regenbogens überein; sie befinden sich jeweils an der richtigen Stelle. Blau, Gelb, und Purpur/Lila tun dies jedoch nicht. Deshalb musste ich andere Farben finden, um sie den entsprechenden Stufen zuzuordnen.

Anstatt Blau – Blau, wie es von Spiral Dynamics verwendet wird – musste ich eine andere Farbe finden, die einer Farbe entspricht, wie sie im Spektrum des Regenbogens an dieser Stelle vorkommen würde. Da gibt es keine große Auswahl. All die Farben zwischen Rot und Orange sind Töne wie Ziegelrot, Burgunderrot, usw. Bernstein war die einzige Farbe, die in etwa passt. Deshalb entschied ich mich für Bernstein. Und zwischen Grün und Türkis gibt es kein Gelb – es gibt auch nicht viele andere Farbtöne. Ich habe Petrol genommen. Es gibt nichts jenseits von Rot, das nicht Lila ist. Magenta ist keine natürlich vorkommende Farbe, sie ist eine künstliche Mischung aus Rot und Lila. Ich habe sie ausgewählt, einfach weil sie irgendwie ungewohnt und interessant ist.

Aber alle anderen Farben, abgesehen von Magenta, entsprechen wenigstens der Reihenfolge im Spektrum und sie stehen nicht im Konflikt mit den Farben von Spiral Dynamics. Aus diesem Grund habe ich mich für Bernstein und Petrol entschieden.

Monika Frühwirth: Wenn wir diese Farben verwenden, befinden wir uns dann auf dem Boden von Wilber und dem AQAL-Modell?

Ken Wilber: Richtig. Alles was wir damit bezwecken wollen ist, den Leuten abzugewöhnen, Dinge zu sagen wie „Oh, er hat ein blaues Moralempfinden… einen blauen oder einen orangen Schwerpunkt des Selbst“. Das stimmt einfach nicht. Darauf müssen wir sehr aufpassen. In erster Linie geht es einfach darum, der schlimmen Zweckentfremdung, die durch den Linien-Absolutismus von Spiral Dynamics entsteht, konsequent etwas entgegenzusetzen.

Quelle: AK-Ken Wilber Rundbrief 23, 2005

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