Der Integrale Methodologische Pluralismus (IMP)

(aus: Michael Habecker Ken Wilber – die integrale (R)evolution, info3 Verlag, 2. Auflage, S. 249)

Wilhelm von Humboldt war vielleicht der erste, der auf die Universalität der Pronomen in den Sprachen der Welt hingewiesen hat. Daran anknüpfend erläutert Wilber, dass durch die Pronomen Perspektiven, bzw. Wahrnehmungs- und Erfahrungsbereiche und Horizonte (Zonen) durch Menschen in ihren jeweiligen Sprachen zum Ausdruck kommen. Eine, aber natürlich nicht die einzige Möglichkeit dies zusammenzufassen, ist das Modell der vier Quadranten.

Abb. Die 4 Quadranten als Perspektiven/Wahrnehmungsräume/Horizonte[1]

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Dieser Quadrant bzw. diese Perspektive steht für alle Erkenntnisse, die in Ich-Sprache zum Ausdruck gebracht werden, die Gesamtsumme aller subjektiven menschlichen Erfahrungen. Typische Methodiken zur Erfahrung dieses Daseinsbereiches sind Meditation, Introspektion, Kontemplation, Innenschau, Vision, autogenes Training usw. Die Wissenschaften, die diesen Raum untersuchen, können unter dem Oberbegriff „Phänomenologie“ zusammengefasst werden. Die große Stärke dieser Perspektive liegt in der Wahrnehmung und Gestaltung der individuellen Subjektivität eines jeden Menschen, ja eines jeden empfindenden Wesens. Es ist ein Wissen durch eine intime Vertrautheit mit dem eigenen Innenleben. Neben dem Erfahren und Erforschen dieses Bewusstseinsraumes hat jedoch, wie für die anderen Räume auch, die Gestaltung eine wesentliche Bedeutung, und hierfür hat die Menschheit ebenso eine Vielzahl von Techniken und Methodiken entwickelt, von der Psychodynamik über den Umgang mit schwierigen Emotionen bis zu Gebet und Mantra. Wichtig dabei ist auch die Frage, womit, d.h. mit welchen Inhalten wir diesen Raum in uns füllen und nähren (Gedanken, Emotionen, Bücher, Zeitschriften, Fernesehsendungen usw.).   

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Psychologie als „Behaviorismus“ – das war die Absage an die Methoden der damals [1900] herrschenden Bewusstseinspsychologie (structuralism), war die krasse Abwendung vor allem von der Selbstbeobachtung (Introspektion)und ihren immer deutlicher werdenden Fehlerquellen und Täuschungen

(aus dem Vorwort zu John Broadus Watson, Behaviorismus)

Betont Introspektion die individuelle Innenseite, so betonen und erkunden Verhaltensforschung und Behaviorismus unsere individuelle objektive Außenseite, die ebenso real ist. Wir sind nicht nur empfindende Subjekte, sondern auch in der Welt agierende Objekte, deren Physiologie und deren Verhalten untersucht und beschrieben werden kann, z. B. durch die Physik, Chemie, Biologie, Anatomie oder eben auch Verhaltensforschung und Behaviorismus. Auch hier gibt es eine Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten, von Wissenschaft allgemein zu Technik zu Medizin zu Ernährung zu (Verhaltens)Training zum outfit und einer „Arbeit“ am eigenen Körper.  

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Der Mensch wird zum Ich durch ein Du

Martin Buber

In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben.

Hans-Georg Gadamer

Niemand ist eine Insel, und kein Individuum tritt isoliert auf, sondern es gibt „uns“ nur in Populationen und Gemeinschaften. Jedes Ich-Erleben findet immer schon vor dem Hintergrund gemeinschaftlicher kultureller Gegebenheiten und Kontexte statt. Wir verstehen uns, auch jetzt beim Lesen dieser Worte und Symbole. Wir existieren in Familien, Freundeskreisen, Arbeitsverhältnissen, Liebesbeziehungen, Gemeinden und Nationen, und bewohnen diese Wir-Räume unseres in-der-Welt-seins. Diese wichtige Erkenntnis hat eine lange Tradition, von Aristoteles über Wilhelm Dilthey zu Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer, und die grundlegende Untersuchungsmethode, bei der es darum geht zu verstehen, warum wir uns überhaupt verstehen, bezeichnen wir als Hermeneutik. Und auch hier können wir wieder – aus dem Erfahrungsschatz der Menschheit – auf eine Fülle bewährter Gestaltungsmethoden und Entwicklungstechniken für diese Wir-Räume zurückgreifen, von einem erfüllten Familien- und Beziehungsleben über dir Gestaltung von Arbeitsgemeinschaften bis zu den friedensstiftenden Maßnahmen zwischen Nationen mit unterschiedlichem Wertehintergrund, oder – aktuell – einem „nationbuilding“ wie es in Afghanistan angestrebt wird, der Formung einer nationalen Identität aus einer Stammesgesellschaft heraus.   

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Das (materiell techno-ökonomische) Sein bestimmt das Bewusstsein

Karl Marx

So wie ein Individuum eine Innen- und eine Außenseite hat, haben dies auch Gemeinschaften. Die Innenseite ist das Kulturelle, die Außenseite das Soziale, d.h. die Strukturen und Systeme, die eine Gemeinschaft ausmachen, von einer Ökologie der ersten Lebewesen auf dieser Erde bis zu einer modernen Informationsgesellschaft. Untersuchungs- und Gestaltungsgegenstand sind hier nicht die „Bäume“ (oben rechts), sondern die „Wälder“, und die systemische Perspektive ist eine eigene Form der Wahrnehmung, welche ebenso unverzichtbar ist die anderen Perspektiven. Wie interagiert ein gegebenes System mit seiner Außenwelt? Von Verkehrssystemen zu Ökosystemen zu Finanz-, Gesellschafts-, Steuer- und Sozialsystemen wurden und werden eine Reihe von Erkenntnismethodiken (z. B. Systemtheorie, Chaostheorie) und Politiken (z. B. Liberalismus, Sozialismus, Ökologie) und Steuerungstechniken entwickelt, um zu einem besseren Verständnis darüber zu gelangen, was in diesen Erfahrungsbereichen geschieht.  

Verfeinerungen

In seinem neueren Werk („Wilber 5“) differenziert Wilber die 4 Quadranten in 8 Perspektiven (Horizonte, Zonen) aus, in dem er in jedem Quadranten eine Unterscheidung in innen und außen trifft[2] .

 

 

Abb.: 8 Hauptperspektiven des in-der-Welt-seins, eingeteilt in Wahrnehmungshorizonte oder Zonen[3]

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Machen wir uns den Unterschied zwischen der Innenwahrnehmung und der Außenwahrnehmung an einem Beispiel klar. Sigmund Freud hat u.a. durch die Methodik der Assoziation auf der berühmten Couch eine große Menge von phänomenologischen Material seiner Patienten gesammelt (Berichte und „Daten“ von der Innenseite des Ich-Erlebens). Gleichzeitig hat er aber auch diese Ergebnisse aus vielen Einzelsitzungen mit Abstand „von außen“ betrachtet, und kam so zu einer Landkarte, einer allgemeinen modellhaften Abbildung der menschlichen Psyche, mit den Instanzen Es, Ich und Über-Ich, gebildet und geformt durch Umweltreize und die Vorstellungen von Eltern, Freunden und Institutionen wie z. B. Kirchen. Diese Landkarten sind Versuche, die Innenseite des Ich-Erlebens von außen modellhaft zu beschreiben. Ein anderes Beispiel wären die spirituellen Landkarten innerer Welten der Traditionen und Visionäre, von den ersten Schamanen bis zu Eckhart Tolle. Diese Landkarten zur Beschreibung der Strukturen von Innerlichkeit sind eine große Hilfe bei der Orientierung im Gelände der eigenen Psychodynamik.

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Die Außenseite eines (äußeren) Objektes ist das Verhalten dieses Objektes. Ich kann jedoch auch mein Augenmerk auf das richten, was sich (äußerlich beobachtbar) im Inneren dieses Objektes abspielt, im Hinblick darauf was dieses Objekt wahrnimmt, und das tun beispielsweise die Neurobiologie und die Kognitionswissenschaften, die untersuchen, wie Wahrnehmung und Reizleitung zusammenhängen. Der Mensch ist danach ein autopoietisches, sich selbst ständig neu erschaffendes System. Dies ist ein nicht zu vernachlässigender Teil der gesamten „Kuchens“ der Erkenntnis, der uns Menschen als „Krone der Schöpfung“ an unsere lebendigen biologischen Wurzeln erinnert, mit ihrem unvermeidbaren Einfluss auf das was wir wahrnehmen, und wie wir es wahrnehmen. Im deutschsprachigen Raum hat der Autor und Publizist Hoimar von Dithfurt zwischen 1970 und 1990 in Buchklassikern wie Der Geist viel nicht von Himmel und seiner legendären Fernsehreihe Querschnitte (nicht nur) über diese Perspektive berichtet, und sie einem breiten Publikum vorgestellt. 

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Es gibt Gewohnheiten im Aktuellsten. Die Gewohnheiten bezeichnet, sie sortiert zu Recht oder zu Unrecht: ein Linguist wie R. Jakobson; ein Soziologe wie C. Lévi-Strauss; ein Psychoanalytiker wie J. Lacan; ein Philosoph, der die Epistemologie erneuert, wie M. Foucault; ein marxistischer Philosoph, der das Problem der Interpretation des Marxismus wieder aufgreift, wie L. Althusser; ein Literaturkritiker wie R. Barthes ... Also wandelt sich die Frage „Was ist Strukturalismus?“ noch weiter – man sollte besser fragen: Woran erkennt man jene, die man Strukturalisten nennt? Und was erkennen sie selbst?

Gilles Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus?

Wie sehen kulturelle Strukturen aus (Beziehungen, Familien, Nationen), und wie entfalten sie sich über die Zeit? Die Antwort auf diese Frage liefern die Strukturalisten der Wir-Räume, also diejenigen die gemeinschaftlich geteiltes Erleben von außen betrachten und beschreiben. Ein zur Zeit viel diskutiertes Beispiel einer kulturellen Struktur wäre Spiral Dynamics, begründet von Clare Graves, ein Modell welches bestimmten, sich entwickelnden kollektiven Bewusstseinsstrukturen („vMeme“) Farben zuordnet. Ein anderes bekanntes Beispiel wäre Jean Gebser, mit seiner Ebenenunterscheidung von archaisch, magisch, mythisch, rational und integral. Dies sind Modelle von Außenansichten von Gemeinschaften, gewonnen und wissenschaftlich aufbereitet aus einer Vielzahl phänomenologischer Aussagen, oder abgeleitet aus historischen Quellen.

Was wir in uns wahrnehmen an Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen interpretieren wir durch unsere (individuellen und kollektiven) Bewusstseinsstrukturen hindurch, meist ohne uns dessen bewusst zu sein. Die Innenansicht betrachtet die inneren Phänomene unmittelbar, die Außenansicht nimmt Anstand und erkennt und beschreibt Strukturen, Muster und Gewohnheiten. Das Innen und Außen gemeinschaftlich geteilter Innerlichkeit, von einer Zweierbeziehung bis zur einer (inter)nationalen Identität.

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Beschreibt die Systemtheorie das Verhalten eines Systems als Ganzes, so z. B. das Verhalten einer Gesellschaft bei einer Steuererhöhung, so gibt es auch hier eine Innenansicht, die von Außen in das Innere von sozialen Systemen schaut, und einer ihrer herausragenden Vertreter ist Niklas Luhmann. Dabei geht es um den Mechanismus sich selbst reproduzierender Systeme, deren Autopoiesie, und die Frage, was Systeme letztendlich in ihrem „Inneren“ zusammenhält, und wodurch sie sich immer wieder neu erschaffen und weiter entwickeln können. Der Bobachter setzt sich gewissermaßen „in“ das System hinein, und beobachtet die dort stattfindenden (objektiven) Prozesse und Anläufe. Wie und durch welche Mechanismen tragen z. B. Kunst, Politik, Wissenschaft, Moral, Recht, Bildung und Erziehung zum Zusammenhalt (oder Auseinanderfallen) einer Gemeinschaft bei?    

Fazit und Ausblick

So weit ein Abriss über dasjenige, was Wilber als ein Rahmenmodell zur Gegenüberstellung und Würdigung aller Erkenntnismethodiken der Menschheit vorschlägt. Natürlich existieren diese Perspektiven nicht, wie aus praktischen Gründen vorgestellt, nebeneinander, sondern in wechselseitiger Beziehung miteinander und füreinander. Ein phänomenologisch wahrgenommener Gedanke (Zone 1) entsteht vor dem Hintergrund psychologischer individueller (Zone 2) und kollektiver Strukturen (Zone 4), hat materielle Spuren in der Autopoiese des Gehirns (Zone 5), und „äußert“ sich in individuellem Verhalten (Zone 6). Eine systemische Maßnahme verändert sowohl das Systemverhalten (Zone 8) sowie auch die Autopoiese der Systeme (Zone 7), und wirkt zurück sowohl auf das kulturelle Wir-Erleben (Zone 3) und auf die kulturellen Strukturen (Zone 4), usw. usw., eine Verflechtung unendlicher Rückbezüge und eines aufeinander Einwirkens.   

Wenn es gelänge, durch einen Rahmen wie den gerade beschriebenen alle Erkenntnis- und Gestaltungsmethodiken der Menschheit in einen Sinnzusammenhang zu stellen, und ihre Wechselbeziehungen miteinander, und ihre jeweiligen Größen und Grenzen aufzuzeigen, dann wäre dies ein enormer Fortschritt für die Menschheit.

So kompliziert diese Zusammenstellung vielleicht auf den ersten Blick ausschauen mag, alles was man dazu benötigt ist eine Unterscheidung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, individuell und kollektiv, und die jeweilige Betrachtung von innen und von außen. 

Was bringt das einem Menschen persönlich? Ich kann mir mein Leben daraufhin betrachten, wie weit ich diese Perspektiven für mich entwickelt habe und sie lebe – allgemein und in jedem Augenblick. Wie weit bin ich mir meiner eigenen Innerlichkeit bewusst, und der psychologischen Strukturen durch die ich sie wahrnehme? Wie ist die Erlebensqualität und Zustand meiner Beziehungen, und in welche kollektiven Geistesstrukturen bin ich eingebunden? Was verhalte ich mich in der Welt und gegenüber anderen in meinem Tun, und in welchen äußeren Systemen (Wohnen, Arbeit, Infrastruktur, Besitz, Geld, Gesellschaft) lebe ich? Einem Nachgehen dieser Fragen kann dem eigenen Leben mehr Bewusstheit, Fülle und Erfülltheit schenken. 

Das Ende der (perspektivischen) Absolutismen?

Alle aufgeführten Hauptperspektiven bzw. Methodiken haben ihren jeweiligen Erkenntnisbereich, der sich durch keine der anderen Methodiken erschließen lässt. Dies ist jedoch immer wieder versucht worden[4], und diese „Absolutismen“ wie Wilber sie nennt, d.h. der Versuch, den Erkenntnisbereich einer Methodik zu überdehnen, hat – neben einem seit Jahrtausenden andauernden Wissenschaftsstreit – zu sehr viel Leid geführt. Die Subjektivisten oder Idealisten (Zonen 1,2,3,4, das Bewusstsein bestimmte das Sein) gegen die Objektivisten oder Materialisten (Zonen 5,6,7,8, das Sein bestimmt das Bewusstseins), diejenigen die nur Einzeldinge anerkennen (Zone 1,2,5,6) gegen diejenigen, für die nur Systeme existieren (Zone 3,4,7,8). Diejenigen welche die Phänomene an sich über alles stellen (Zone 1,2) gegen diejenigen die innere Strukturen betrachten, vor deren Hintergrund Phänomene auftauchen und interpretiert werden (Zone 2,4). Diejenigen, die mit dem Verhalten von „black boxes“ alles erklären wollen (Zone 6,8) gegen diejenigen, die (nur) in die black boxes hineinschauen (Zone 5,7) usw. Die Erkenntnisgeschichte der Menschheit ist auch eine Geschichte der Übertreibung und Unterdrückung bestimmter Perspektiven und Wahrnehmungshorizonte.

Zur Illustration noch ein paar typische Zitate von herausragenden Vertretern bestimmter Disziplinen/Perspektiven, die, für sich genommen, zu Verabsolutierungen dieser Perspektiven führen können:

Wir (Einzelne und Gemeinschaft) sollen es sein, in deren Bewusstseinsleben die reale Welt, die für uns vorhanden ist, als solche Sinn und Geltung gewinnt

Edmund Husserl (Zone 1,3)

Nicht durch Introspektion, sondern nur durch Geschichte können wir uns selbst erkennen

Wilhelm Dilthey (Zone 4)

Göttlichem Geist bleibt es vorbehalten, frei über den Wassern zu schweben. Das, was wir unseren Geist nennen, erweist sich als gebunden an die Struktur unseres Gehirns. Damit aber ist dieser unser Geist auch bestimmten Bedingungen materieller Existenz unterworfen

Hoimar von Ditfurth (Zone 5)

Mit aller Wahrscheinlichkeit kann man die restlichen Probleme [der Psychologie] noch so umformulieren, dass feinere Methoden der Verhaltensforschung (die sicher kommen müssen) zu ihrer Lösung führen.

John B.Watson, Behaviorismus (Zone 6)

Man muss nicht vom Bewusstseins des Menschen ausgehen, auch nicht von der Intersubjektivität, sondern von einem gegenseitigen Konstitutionszusammenhang autopoietischer Systeme

Niklas Luhmann (Zone 7,8)

Eine (technische) Zusammenfassung der 8 Zonen/ Perspektiven/ Ereignishorizonte[5] 

Jede dieser acht Betrachtungsweisen ist in Wirklichkeit ein „Ereignishorizont“ oder eine phänomenologische Welt, welche innerhalb dieser Perspektive hervorgerbacht wird. Wir haben sie Ereignishorizonte, oder Horizonte [hori-zones] oder einfach Zonen genannt. Alle acht Perspektiven erzeugen phänomenologische Zonen bzw. Ereignishorizonte. Wir werden die wichtigsten von ihnen betrachten, welche in Abb. 8 nummeriert sind. Diese 8 Zonensind nicht dasselbe wie die 4 Quadranten, sondern repräsentieren einfach einen weiteren nützlichen Weg zur Gruppierung der acht wesenseigenen Perspektiven (und zwar das Innen und das Außen von Innerlichkeiten und Äußerlichkeiten). Diese Zonen lassen sich wie folgt beschreiben:  

Zone Nr. 1, 3

Innerliche Holons (ein „ich“ oder „wir“) werden innerhalb ihrer eigenen Grenzen betrachtet. Dies ist ein Ansatz der ersten Person gegenüber Wirklichkeiten der ersten Person (1p x 1p), sowohl im Singular (Zone 1) als auch im Plural (Zone 3). Die Singular-Form ist das Innen eines „Ich“ (klassische Paradigmen oder Injunktionen, welche diese Dimensionen der ersten Person Singular des In-der-Welt-Seins hervorbringen, inszenieren und enthüllen, sind Phänomenologie, Introspektion, Meditation). Die Plural-Form ist das Innen eines „wir“ (welches durch Methodologien wie Hermeneutik, gemeinschaftliche Untersuchungen und partizipatorische Epistemologie hervorgebracht, hervorgebracht und enthüllt werden kann).

Zone Nr. 2, 4

Innerliche Holons (ein „ich“ oder „wir“) werden von außerhalb ihrer eigenen Grenzen betrachtet. Dies ist ein Ansatz der dritten Person gegenüber Wirklichkeiten der ersten Person (3p x 1p), sowohl im Singular (Zone 2) als auch im Plural (Zone 4). Die Singular-Form ist das Außen eines „Ich“ (dem man sich durch Methodologien wie dem Entwicklungsstrukturalismus nähern kann). Die Plural-Form ist das Außen eines „Wir“ (dem man sich durch Methodologien wie beispielsweise kultureller Anthropologie, Neostrukturalismus, Archäologie und Genealogie nähern kann).

Zone Nr. 5,7

Äußerliche Holons (ein „es“ oder „es“ [plural]) werden innerhalb ihrer eigenen Grenzen betrachtet. Dies ist ein Ansatz der ersten Person auf Wirklichkeiten der dritten Person (1p x 3p), sowohl im Singular (Zone 5) als auch im Plural (Zone 7). Die Singular-Form ist das Innen eines „Es“ (dem man sich durch Methodologien, wie beispielsweise biologischer Phänomenologie und Autopoiesis, nähern kann). Die Plural-Form ist das Innen eines „Es“ [plural] (dem man sich durch Methodologien wie beispielsweise der sozialen Autopoiesis nähern kann).

Zone Nr. 6,8

Äußerliche Holons (ein „es“ oder „es“ [plural]) werden von außerhalb ihrer eigenen Grenzen aus betrachtet. Dies ist ein Ansatz der dritten Person auf Wirklichkeiten der dritten Person (3p x 3p), sowohl im Singular (Zone 6) als auch im Plural (Zone 8). Die Singular-Form ist das Außen eines „Es“ (dem man sich durch Methodologien wie beispielsweise Behaviorismus, Positivismus und Empirizismus nähern kann). Die Plural-Form ist das Außen eines „Es“ [plural] (dem man sich durch Methodologien, wie beispielsweise der Systemtheorie und der Chaos- und Komplexitätstheorie, annähern kann).

Wie Wilber die Perspektiven „entdeckte“[6]

Wie ist Wilber auf die Idee der 8 Hauptperspektiven gekommen, als einer Möglichkeit, alle  Erkenntnismethodiken der Menschheit zu unterscheiden, und in ihrer jeweiligen Größe und Grenze zu würdigen? Er äußert sich dazu während eines Seminars.

Diese neue Wendung hin zu den Perspektiven unterscheidet sich sehr von allem was ich bis dahin geschrieben hatte - auch wenn darin eine Menge Neues enthalten ist. Ich habe mich immer auf Giganten bezogen und mit ihnen gearbeitet - Plotin, Aurobindo, Hegel, Plato usw., doch es gibt bisher nichts über Perspektiven, nirgendwo. Das war schockierend, als ich mich damit beschäftigte… Diese Art des Schreibens war in gewisser Weise für mich sehr schwierig, ich arbeitete praktisch rund um die Uhr, das war sehr intensiv, speziell als ich mit der integralen Mathematik begann – was einen schon verrückt machen kann wenn man 23 Jahre alt ist, ganz zu schweigen davon, wenn man einalter Mann ist.

Ich habe mich also hingesetzt und das alles gemacht, und ich hatte für 2 Monate das Gefühl psychotisch zu werden, ich hatte keinen Bezug zu irgendeiner konkreten Realität mehr, und verlor mich in diesem platonischen Bereich eines Salvatore Dali – ohne dass Land in Sicht war. Ich wusste nicht, ob das irgendwo hinführen würde. Ich begann damit, die Quadranten – z. B. den oberen rechten Quadranten - als eine Sicht der dritten Person einer dritten Person zu erklären, der obere linke Quadrant wäre eine Perspektive der ersten Person einer Wirklichkeit ersten Person – all das war noch einfach, aber es funktionierte nicht. Man braucht noch mehr Termini um das zu erklären. Ich habe es daher auf drei Termini erweitert: die Ansicht einer ersten Person einer ersten Person einer ersten Person wäre dann z. B. Introspektion, usw. Wenn man damit beginnt, dann wird klar dass man dabei sehr schnell verrückt werden kann. Ich kannte die grundlegenden Methodologien wie Strukturalismus, Empirizismus, Positivismus und Hermeneutik, und mir war klar dass wenn ich dorthin gelangen könnte, dann wieder Boden unter den Füssen hätte. [Lachen]. Also begab ich mich weiter auf diese psychotische Reise, und das war wirklich sehr ungemütlich…

Hier ein kurzes Beispiel: Francisco Varela beschrieb Autopoiese als die Innenansicht der Biologie, die phänomenologische Sicht der Biologie, das was der Organismus - von innen her betrachtet - sieht. Schaut man sich jedoch an was er und andere machten, dann war all das in Begriffen der dritten Person beschrieben. Sie versuchten zu rekonstruieren was z. B. ein Frosch sieht – ohne jedoch auf die Systemtheorie zurückzugreifen, welche den Frosch in ein größeres Gesamtbild stellt. Sie verneinten explizit die Relevanz von Systemtheorie für die Wahrnehmung eines Frosches. Das schockierte jeden, weil die Systemtheorie in der Biologie so etwas wie das vorherrschende Dogma war. Was er und andere jedoch sagten war, dass wenn ein Frosch eine Fliege wahrnimmt, der Frosch dann keinerlei Vorstellung von Systemtheorie dabei hat – Systemtheorie ist nicht Teil seiner Kognition, was diese Forscher interessierte war die Innenansicht der Kognition eines Frosches beim Wahrnehmen einer Fliege… Warum nannte man das die Innenansicht? Ich stellte das der Beschreibung von Alfred North Whitehead einer Innenansicht eines Ereignisses gegenüber – und das ist ein Gefühl, eine gefühltes Erleben einer ersten Person einer ersten Person, und Whitehead beschreibt in Begriffen der ersten Person, wie sich das anfühlt (und gibt dann manchmal auch noch einen Überblick in Begriffen der dritten Person). Und so begann das ganze für mich mit der Frage: Wo liegt der Unterschied zwischen Whitehead und Varela. Beide behaupten, sie würden die Innenansicht beschreiben. Ich las zu dieser Zeit eine ganze Serie von Bücher die behaupteten, den Konsens in der Sozialtheorie gefunden zu haben… „Endlich haben wir die Theorie der Theorien gefunden“, aber das sind alles wieder nur Beschreibungen in der dritten Person. Die Innenansichten wurden Varela’s und Maturana’s Ansicht der Autopoiesis zugeschrieben, weil das die Innenansicht des biologischen Organismus ist – aber die Innerlichkeit wird dabei übersehen! Es gibt keinen einzigen Terminus der ersten oder der zweiten Person in diesen Büchern – ganz zu schweigen von einer Methodologie, die sich damit beschäftigen würde. Ich bemühte mich also um eine Notation, die den Unterschied beschreiben würde zwischen dem was Whitehead tut, und dem was Varela tut.

Um eine lange Geschichte kurz zu machen – sogar mit drei Termini reicht es immer noch nicht… Ich schrieb also etwa 150 Notizseiten  voll – etwas was ich bisher nur drei mal in meinem Leben tun musste, (und ich glaube ich habe jedes Mal einen beträchtlichen Schaden davon getragen [Lachen]), als ich das letztmalig tat, habe ich mich hier in diesem Raum für drei Jahre lang eingeschlossen, und Eros, Kosmos, Logos geschrieben, und als das mit den Notizseiten wieder anfing, dachte ich „oh nein, ich will nicht noch einmal für drei Jahre hier eingeschlossen werden“ [Lachen]. Das ging einige Monate lang – ich wachte jeden Morgen auf und machte mich an diese Arbeit, schrieb immer mehr Symbole auf um herauszufinden, ob ich damit den Unterschied zwischen Whitehead und Varela erklären könnte. Ich war nahe dran aufzugeben… Schließlich führt ich einen vierten Terminus ein; ein 123 eines 123 eines 123 eines 123[7] – und das erklärte nicht nur die 4 Quadranten, sondern auch die 8 Methodologien – und ich sah auf einmal Land. Am Ende der Seite die ich gerade beschrieb, notierte ich das Wort „rosetta“, nach dem Rosetta-Stein[8], und hörte mit dem Schreiben auf. Am nächsten Tag schaute ich mir das wieder an, und konnte nun die 8 Methodologien herleiten, mit der Innenseite und der Außenseite der Innerlichkeiten und der Äußerlichkeiten. Diese komplizierte Reise führt zu den sehr konkreten Methodologien in der realen Welt. Im Verlauf dieses Prozesses fand ich die Architektur, die den Methodologien zugrunde liegt. Und es ist eine Architektur von Perspektiven – nicht Wahrnehmungen -, was bedeutet dass das Universum aus Perspektiven zusammengesetzt ist, und nicht aus Wahrnehmungen…

Diese Ideen beziehen sich auf Wirklichkeiten in jedem Menschen – es sind keine Wilber-Ideen oder Erfindungen, ich habe sie lediglich kodifiziert (ebenso wenig wie Newton die Gravitation erfunden hat). Am integralen Institut werden diese Ideen nun von Leuten mit praktischer Erfahrung angewendet, sie führen es viel weiter, als ich das gemacht habe…

Ich halte das für eine radikal neue Philosophie…


[1] siehe dazu auch: Ken Wilber, excerpt C.

[2] bei den linksseitigen Quadranten geht es dabei um das Innere und Äußere (die „Struktur“) von Innerlichkeiten. Bei den rechtsseitigen Quadranten jeweils um eine objektive Innen- und Außenbetrachtung von äußerlich Sichtbarem.

[3] Aus: Excerpt D. Zu diesen Ober- und Sammelbegriffen (Phänomenologie, Strukturalismus, Hermeneutik usw. ist zu sagen, dass sie sich auf Forschungsrichtungen beziehen, die sich schwerpunktmäßig, jedoch keineswegs ausschließlich mit den Quadranten beschäftigen, denen sie zugeordnet sind. So lassen sich z. B. auch Gedanken systemtheoretisch betrachten, Hermeneutik kann auch auf äußere Objekte angewendet werden, objektive Dinge lassen sich meditativ anschauen usw.

[4] Ein Beispiel zur Aufdeckung von Absolutismen ist das in der Zeitschrift Info3 Nr.05/06 in dem Beitrag Wider den Subjektivismus auf S. 54 besprochene Buch Die Informationslücke. Auf dem Umschlagtext steht: „Leider zeigen vermehrte psychische Erkrankungen, Sucht- und Gewalttendenzen, dass im Welt- und Menschenbild der systemischen Theorie der wesentliche Faktor dessen, was der Mensch eigentlich ist, verloren geht... Der Leser bekommt die Chance, die durch die Denkdressur von Gesellschaft und Schule erworbenen Vorurteile abzubauen und sich der Kraft seines Menschseins bewusst zu werden.“ Auf S. 44 schreibt der Autor F. Frey: „Die Frage ist allein diejenige, wo und wie die Wirklichkeit gefasst und erfasst werden kann. Dazu müssen wir uns auf der Grundlage der Selbstbeobachtung, der Resultate der Gehirnforschung und Forschungen der Entwicklungspsychologie eine Basis schaffen, von der aus wir die Wirklichkeit der Welt in ihren mannigfaltigen Ausprägungen erkennen und verstehen können.“

Mit den Begriffen der Perspektiven könnten wir sagen: Wir können die Errungenschaften der Systemtheorie  (Zone 7,8) würdigen, ohne uns ihre absolutistischen Tendenzen zu eigen zu machen. Was die Systemtheorie nicht zu leisten vermag ist z. B. die Bewusstmachung intersubjektiver Strukturen („Denkdressur“, Zone 4) ebenso wie Introspektion („Selbstbeobachtung“, Zone 1), Gehirnforschung (Zone 5) und die Forschungen der Entwicklungspsychologie (Zone 2,4).  

[5] aus excerpt D, p.11. Die Benennungen der Zonen erfolgt entsprechend der Bezifferung von Wilber in Integral Spirituality

[6] Aus: Ken’s current interest in perspectives, ein Audiomitschnitt von einem Seminarwochenende 2003 mit Ken Wilber, http://www.formlessmountain.com/audio1/audio.html  

[7] AdÜ: Zur Beschreibung dieses sich wechselseitigen perspektivischen Wahrnehmens hat Wilber eine „integrale Mathematik“ entwickelt. Dabei ist 1 eine erste Person, 2 eine zweite Person, und 3 eine dritte Person, als konkrete, aber nicht-spezifische Personen. „Integrale Mathematik ist einfach das Verfolgen dessen was geschieht, wenn empfindenden Wesen empfindende Wesen berühren: es gibt eine Perspektive der ersten, der zweiten oder der dritten Person; auf erste, zweite und dritte Personen – ohne Ende; ein 123 eines 123 eines 123 eines 123 eines 123..., was der Grund dafür ist, warum der Kosmos aus Perspektiven zusammengesetzt ist, und nicht aus Wahrnehmungen [perceptions] oder Ereignissen, Prozessen, Geweben, Systemen – weil alles dies bereits Perspektiven sind, bevor sie irgend etwas anderes sind.“ [Aus: excerpt C Appendix B. An Integral Mathematics of Prinmordial Perspectives.  

[8] AdÜ: Der Stein von Rosette oder Rosettastein ist eine Stele aus schwarzem Granit mit einem in drei Sprachen eingemeißelten Text, der maßgeblich zur Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen beitrug. Der Stein befindet sich seit 1802 im Britischen Museum in London.  

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