Auszug aus: "Eine Übersicht integraler Theorie - Ein allumfassendes Bezugssystem für das 21. Jahrhundert" (Download des gesamten PDF)

von Sean Esbjörn-Hargens

Alle Quadranten: Die grundlegenden Dimensions-Perspektiven 

Gemäß der integralen Theorie existieren mindestens vier nicht reduzierbare Perspektiven (subjektiv, intersubjektiv, objektiv und interobjektiv), die in Betracht gezogen werden müssen, wenn man irgend einen Sachverhalt oder Aspekt der Realität zu verstehen versucht. Folglich sind die Quadranten Ausdruck der einfachen Erkenntnis, dass alles aus zwei grundlegenden Unterscheidungen betrachtet werden kann: 1) einer  Innen- und einer Außenperspektive und 2) einer Singular- und einer Pluralperspektive. Ein kurzes Beispiel kann helfen, dies zu verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, Sie wollten die Komponenten einer erfolgreichen Arbeitssitzung verstehen. Sie würden auf psychologische Erkenntnisse und auf kulturelle Überzeugungen zurückgreifen (das Innere von Einzelpersonen und Gruppen), genauso wie auf Verhaltensbeobachtungen und Organisationsdynamiken (das Äußere von Einzelpersonen und Gruppen), um vollständig zu verstehen, was für die Leitung lohnenswerter Treffen erforderlich ist.




Abb. 1 Die vier Quadranten

Diese vier Quadranten repräsentieren auch Dimensionen der Realität. Diese Dimensionen sind tatsächliche Aspekte der Welt, die immer in jedem Moment gegenwärtig sind. Zum Beispiel verfügen alle Individuen (einschließlich der Tiere) über irgendeine Form subjektiver Erfahrung und Intentionalität oder Innenräume ebenso wie verschiedene Verhaltensweisen und physiologische Komponenten oder Außenräume. Zusätzlich sind Individuen nie nur allein, sondern sie sind Mitglieder von Gruppen und Kollektiven. Die Innenräume von Kollektiven sind im Allgemeinen bekannt als intersubjektive, kulturelle Realitäten, wohingegen ihre Außenräume als ökologische und soziale Systeme bekannt und durch interobjektive Dynamiken gekennzeichnet sind. Diese vier Dimensionen werden von vier grundlegenden Pronomina repräsentiert: „ich“, „wir“, „es“ und „ese“ (Engl. „its“ eine Wortschöpfung Wilbers). Jedes Pronomen repräsentiert eine Domäne im Quadrantenmodell: „ich“ repräsentiert die Oben Links (OL), „wir“ repräsentiert die Unten Links (UL), „es“ repräsentiert die Oben Rechts (OR) und „ese“ repräsentiert die Unten Rechts (UR) Domäne. (siehe Abb. 1).

Da beide rechtsseitigen Quadranten (OR und UR) durch Objektivität charakterisiert sind, wird von den vier Quadranten auch als den drei Wertebereichen von Subjektivität (OL), Intersubjektivität (UL) und Objektivität (OR und UR) gesprochen. Diese drei Domänen der Realität lassen sich in allen Sprachen durch Pronomina feststellen, die Perspektiven der ersten, zweiten und dritten Person repräsentieren und von Wilber als „die Großen Drei“ bezeichnet werden: Ich, Wir, Es/Ese. Diese drei Bereiche können auch als Ästhetik, Moral und Wissenschaft oder Bewusstsein, Kultur und Natur charakterisiert werden. (Siehe Abb. 2).



Abb. 2 Die Großen Drei

Integrale Theorie besteht darauf, dass keine dieser Realitäten (jeder Quadrant oder die Großen Drei) durch das Objektiv einer der anderen verstanden werden kann. Zum Beispiel verzerrt das vorwiegende Betrachten subjektiver psychologischer Realitäten durch ein objektiv empirisches Objektiv viel von dem, was an diesen psychologischen Dynamiken wertvoll ist. In der Tat wurde die Nichtreduzierbarkeit dieser drei Bereiche in der Geschichte der westlichen Philosophie durchgehend anerkannt: von Platos das Wahre, das Gute und das Schöne zu Immanuel Kants berühmten Kritiken der reinen Vernunft, der Urteilskraft und der praktischen Vernunft, zu Habermas Geltungsansprüchen an Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit (Abb. 2). Wilber ist ein eiserner Verfechter des Vermeidens einen dieser Bereiche auf die anderen zu reduzieren. Insbesondere warnt davor, was er als Flachland bezeichnet: den Versuch die Innenräume auf ihre äußeren Korrelate zu reduzieren (d.h. subjektive und intersubjektive Realitäten in ihre objektiven Aspekte zu kollabieren). Das kann man oft bei systemischen Ansätzen der Naturerforschung beobachten, die Bewusstsein durch Diagramme von Rückkopplungsschleifen repräsentieren und dabei die Beschaffenheit und das Gefühl von Erfahrungen der ersten und zweiten Person außer Acht lassen.

Einer der Gründe dafür, warum integrale Theorie so aufschlußreich und nützlich ist, besteht darin, dass sie die Komplexität der Realität auf eine Weise einschließt, wie es nur wenige andere Bezugssysteme und Modelle tun. Im Gegensatz zu anderen Ansätzen, die ausdrücklich oder unabsichtlich einen Quadranten auf einen anderen reduzieren, betrachtet integrale Theorie jeden Quadranten als gleichzeitig auftauchend. Um die Gleichzeitigkeit aller Quadranten zu illustrieren, werde ich ein einfaches Beispiel mit Abbildung 1 im Hinterkopf geben. Sagen wir, ich beschließe einige Blumen für den Garten zu kaufen und denke dabei „Ich möchte zur Gärtnerei gehen“. Das integrale Bezugssystem demonstriert, dass dieser Gedanke und die damit zusammen hängende Handlung (z.B. zum Gartengeschäft zu fahren und Rosen zu kaufen) über mindestens vier Dimensionen verfügt, die sich nicht voneinander trennen lassen, weil sie zusammen auftauchen (oder tetra-verweben)(Engl. „tetra-mesh“ eine Wilber Wortschöpfung) und sich gegenseitig bedingen. Da ist zuerst der individuelle Gedanke und wie ich ihn erlebe (z.B. das Kalkulieren der Fahrtzeit, die Erfahrung von Freude am Einkaufen oder die Angst davor, wie ich meinen Einkauf bezahlen werde). Diese Erfahrungen sind von mit dem OL-Quadranten verknüpften psychologischen Strukturen und somatischen Gefühlen geprägt. Gleichzeitig existiert die einzigartige Kombination von neuronaler Aktivität, chemischen Gehirnreaktionen und Körperzuständen, die diesen Gedanken begleiten, ebenso wie  jegliches Verhalten (z.B. einen Mantel anziehen, ins Auto steigen). Diese Verhaltensweisen sind mit vielfältigen, mit dem OR-Quadranten verknüpften Vorgängen in unserem Gehirn und physiologischen Körperaktivitäten verbunden. Zugleich existieren ökologische, ökonomische, politische und soziale Systeme, die die Gärtnerei mit den Verkaufsgegenständen versorgen, den Blumenpreis bestimmen und so weiter. Diese Systeme sind über mit dem UR-Quadranten verknüpfte globale Märkte, nationale Gesetze und Umweltforschungen miteinander verbunden. Es gibt auch einen kulturellen Kontext der bestimmt, ob ich „Gärtnerei“ mit einem Freiluftmarkt, einem großen Einkaufszentrum oder einem kleinen Verkaufsstand in einer Gasse assoziiere und der ebenfalls die vielfältigen Bedeutungen und kulturgemäßen Interaktionen bestimmt, die zwischen den Leuten in der Gärtnerei ablaufen. Diese kulturellen Aspekte sind mit den Weltanschauungen des UL-Quadranten verknüpft.

Daher kann man, um das Zustandekommens des Gedankens „Ich gehe zur Gärtnerei“ vollständig verstehen und einschätzen zu können, diesen weder ausschließlich in der Terminologie der Psychologie (OL), noch der Neurobiologie und Physiologie (OR), der sozialen und ökonomischen Dynamiken  (UR) oder der kulturellen Bedeutungen (UL) erklären. Um die vollständigste Sichtweise zu erhalten sollte man, wie wir sehen werden, alle diese Bereiche in Betracht ziehen (und ihre entsprechenden Komplexitätsebenen).

 

Abb. 3 Die vier Quadranten eines Individuums             

Warum ist das praktisch? Nun ja, versuchten wir diese einfache Situation zusammenzufassen indem wir eine oder mehrere Perspektiven auslassen, ginge ein fundamentaler Aspekt des integralen Ganzen verloren und unsere Fähigkeit es zu verstehen und anzugehen wäre gefährdet. Deshalb nutzen integrale Praktiker die Quadranten oft als ersten Schritt, um eine Situation oder eine Problemstellung zu erfassen und multiple Perspektiven in der anstehenden Untersuchung oder Erforschung zum Tragen zu bringen.

Quadranten und Quadrivia

Wie weiter oben erwähnt, gibt es mindestens zwei Wege das Quadranten-Modell darzustellen und zu verwenden: als Dimensionen oder als Perspektiven. Der erste, ein quadratischer Ansatz, stellt ein sich im Zentrum der Quadranten befindendes Individuum dar (siehe Abb. 3). Die Pfeile zielen vom Individuum in Richtung der verschiedenen Realitäten, die es aufgrund seines eigenen verkörperten Gewahrseins wahrnehmen kann. Durch den Gebrauch verschiedener Aspekte seines eigenen Gewahrseins oder durch formale, auf diesen Gewahrseinsdimensionen beruhende Methoden, kann es diesen verschiedenen Realitäten auf unmittelbare und erkennende Weise begegnen. Kurz gesagt besitzt es unmittelbaren Zugang zu Erfahrungs-, Verhaltens-, kulturellen und sozial/systemischen Aspekten der Realität, weil diese tatsächliche Dimensionen seiner eigenen Existenz sind. Das ist nützlich, weil das ein Individuum befähigt, seine Welt wahrzunehmen, anzuerkennen und effektiver mit ihr in Austausch zu treten. Kurzum, je mehr dieser „Kanäle“ ein Individuum geöffnet hat, umso mehr Informationen wird es über die Geschehnisse in seinem Umfeld erhalten und es wird fähig sein auf eine Weise zu fühlen und zu handeln, die rechtzeitig und verständnisvoll ist. Beobachten Sie, wie Sie in diesem Moment mit allen drei Perspektiven beschäftigt sind: erste Person (z.B. indem Sie Ihre eigenen Gedanken wahrnehmen, während Sie das lesen), zweite Person (z.B. indem Sie meine Worte lesen und interpretieren, was ich zu vermitteln versuche) und dritte Person (z.B. indem Sie sitzend, sich des Sie umgebenden Lichts, der Geräusche und der Lufttemperatur gewahr sind). Sehen Sie, wie Sie die Welt immer aus allen vier Quadranten erfahren – genau hier, genau jetzt ? So einfach ist das.



Abb. 4 Die vier Quadrivia eines Sees

Eine andere Art das Quadrantenmodell darzustellen ist als Quadrivia. Quadrivia bezieht sich auf vier Sichtweisen (Einzahl: Quadrivium). In diesem Ansatz werden die verschiedenen, mit jedem Quadranten verknüpften Perspektiven auf eine bestimmte, sich im Zentrum des Diagramms befindende Realität gerichtet. Angenommen es sterben hunderte von Fischen in einem See. Der Tod der Fische wird zum Schwerpunkt oder Gegenstand unserer Untersuchung und Analyse, wobei Sachkenntnisse aus jeder der quadratischen Dimensionen in die Bewertung der Situation einfließen. Die auf das Zentrum zielenden Pfeile kennzeichnen die Methodologien, mit denen verschiedene (mit jedem Quadranten assoziierte) Experten die sterbenden Fische untersuchen. In einem integralen Ansatz schließen diese das Erforschen der Emotionen, Selbst-Identitäten und Meinungen der an dem See lebenden Menschen durch psychologische Befragung und Erfahrungsberichte ein; das Erforschen der zu dem Fischsterben beitragenden empirischen, chemischen und biologischen Faktoren durch physiologische und Verhaltensanalysen; das Erforschen der philosophischen, ethischen und religiösen Gesichtspunkte der um den See wohnenden Bevölkerung durch kulturelle und Weltanschauungsuntersuchungen; und das Erforschen der politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, Bildungs- und Umweltfaktoren der Situation durch ökologische und soziale Datenerhebungen. (siehe Abb. 4) 

Kurz gesagt kennzeichnen die Quadranten vier nicht reduzierbare Dimensionen, die allen Individuen zu eigen sind und Quadrivia beziehen sich auf die vier grundlegenden Perspektiven, die man gegenüber allen Phänomenen einnehmen kann. In jedem Fall sind die vier Quadranten oder Quadrivia ko-naszierend – im wörtlichen Sinne „zusammen geboren“ und wechselseitig ineinander impliziert. Mit anderen Worten, sie tauchen zusammen auf und tetra-verwebensich. Dieses Verständnis ist nützlich, weil es die Komplexität der Realität auf eine Weise akzeptiert, die dem Praktiker erlaubt, Probleme auf geschicktere und nuanciertere Weise in Angriff zu nehmen. Des weiteren repräsentieren die Quadranten die uns angeborenen Weisen, in denen wir Realität in jedem Moment erfahren und Quadrivia repräsentieren die geläufigsten Weisen, durch die wir Realität betrachten können und es oft auch tun, um sie zu verstehen.        

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