Ausgangspunkt dieses Beitrags ist eine ebenso aussagekräftige wie inspirierende Veröffentlichung von Beena Sharma & Dr. Suzann Cook-Greuter mit dem Titel: Polarities and Ego Development: Polarity Thinking In Ego Development Theory And Developmental Coaching
(Veröffentlicht unter: http://www.cook-greuter.com/Sharma%20Cook-Greuter%20paper%20EAIF%20SUNY.pdf )
- Ein Pol kann hervorgehoben und der andere unterdrückt werden, in einem Kontinuum von einer leichten Bevorzugung bis hin zur Vergötterung, bei gleichzeitiger Verleugnung und Bekämpfung des anderen Pols.
- Beide Pole können – neutral – als gleichwertig aber unterschiedlich betrachtet werden, wie bei vorne-hinten (was jedoch nicht bedeutet, dass alle Menschen oder Kulturen dies so sehen).
- Beide Pole können undifferenziert in einen „alles ist eins“ Topf geworfen werden.
- Beide Pole können als unterschiedlich, sich jedoch gegenseitig bedingend erkannt und gewürdigt werden.
Sie unterscheiden dann wertneutrale und wertgeladen Gegensätze, wobei sich genau hier ein großes Spannungsfeld auftut, denn das was jeweils neutral und was in welcher Werterangordnungen wie steht, ist von Mensch zu Mensch und Kultur zu Kultur unterschiedlich, mit oft dramatischen Konsequenzen. Dies kann man sich selbst an folgendem Erfahrungsbeispiel bewusst machen:
a) In einem Verhältnis „alternativ“ oder „anders“ zueinander oder
b) In einem Verhältnis „besser/schlechter“ oder umfassender/weniger umfassend oder
c) lässt sich das ohne eine Kontextualisierung nicht sagen?
modern – traditionell
hierarchisch – Heterarchisch
progressiv – konservativ
maskulin – feminin
links – rechts
Sklaverei – Selbstbestimmung
demokratisch – autokratisch
dunkelhäutig – hellhäutig
Nachhaltigkeit – nicht-Nachhaltigkeit
autonom – konform
Ökonomie – Ökologie
Apartheid – keine Rassentrennung
individuell – kollektiv
Egoismus – Solidarität
Mensch – Tier
liberal – sozial
Rechte – Pflichten
Keine Nachhaltigkeit – Nachhaltigkeit
Beschneidung – Nicht-Beschneidung (von Jungen)
Beschneidung – Nicht-Beschneidung (von Mädchen)
Abtreibung – keine Abtreibung
Konflikt – Frieden
Mobbing – Mitgefühl
Die Polaritätendynamik erläutern die Autorinnen an folgender Darstellung:
Jeder Pol in einer Polarität beinhaltet eine Weisheit bzw. einen Wert (nach oben). In der Polarität von standhaft und nachgebend sind Bestimmtheit und Stärke positive Eigenschaften von Standhaftigkeit und Kooperationsfähigkeit und Flexibilität positive Eigenschaften von Nachgiebigkeit. Wird Standhaftigkeit jedoch auf Kosten von Nachgiebigkeit überbetont, kommen wir zu den Schattenseiten von Standhaftigkeit wie Sturheit und Starrheit. Wird hingegen Nachgiebigkeit auf Kosten von Standhaftigkeit überbetont, kommen wir zu den Schattenseiten von Nachgiebigkeit als Unentschlossenheit und ein Fehlen eigener Positionen. Wird ein Pol eines Paars bevorzugt, dann wird leicht sein Gegenpart ausgeschlossen, verneint oder verworfen. Wir tendieren dann dazu, den entgegengesetzten Pol lediglich in seinen Schattenaspekten zu beschreiben ... Mit der Zeit verfestigen sich so unserer entweder-oder Beurteilungen und Präferenzen auf subtile Weisen in der Art, wie wir unsere Erfahrungen beschreiben. Dies können wir durch sorgfältiges Zuhören und mittels auf der Grundlage von auf Sprache basierenden Instrumenten wie dem MAP aufdecken.
Diese Oszillation zwischen den Polen, mit ihren jeweiligen Licht- und Schattenaspekten, stellen die Autorinnen wie folgt dar:
Macht man lediglich einen Pol oder einen Gesichtspunkt zum Gesamtbild oder zur „ganzen Wahrheit“, dann führt das zu einer Unfähigkeit, unsere gegenwärtige Position zu transzendieren und begrenzt unsere weitere Entwicklung. Daher lautet unsere Empfehlung, sich zu einem „sowohl-als auch“ Denken hinzubewegen, zurUnterstützung der eigenen Entwicklung.
Die erwähnte alles umspannende Polarität ist die von Differenzierung und Integration. Dies erläutern die Autorinnen an dem Entwicklungsmodell von Dr. Cook-Greuter.
Mit dem Erreichen der postkonventionellen Stufen sehen wir eine Perspektiverweiterung und eine Orientierung zum Ganzen, wo Menschen verstehen, dass sie nicht nur getrennt und teilhaft, sondern auch Teil eines größeren Ganzen sind. Ist dieser Schritt in Richtung auf ein Ganzes auf der pluralistischen Stufe vollzogen, erleben wir oft eine Zurückweisung der Orientierung zum Teil hin und eine Bevorzugung von Ganzheiten. Auch dies ist symptomatisch für eine entweder-oder Einstellung der konventionellen Stufe von Bedeutungsfindung ... Erst bei weiterer Entwicklung kann diese frühere Perspektive integriert werden, einschließlich der darausgewonnenen Erkenntnisse. Das Erkennen der Bedeutung sowohl von Teilen wie auch einem Ganzen hilft uns beim Verstehen von Wirklichkeit und ist ein notwendiger Schritt bei der Ich-Entwicklung.
Tabelle 1: Hervorgehobene und vernachlässigte Pole auf unterschiedlichen Ich-Entwicklungsstufen
Mit dem Übergang von Konventionell zu Postkonventionell erhöht sich die Fähigkeit zur Einnahme von sowohl-als-auch Positionen deutlich. Dabei bleiben Präferenzen, welche jedoch immer subtiler werden.
Tabelle 2 Postkonventionelle Polaritäten
Die Frage, welche die Autorinnen dann stellen, lautet: Wie hat sich das Konzept von Polaritäten oder Gegensätzlichkeit selbst entwickelt?
Mit dieser Abbildung geben die Autorinnen eine Zusammenfassung eines Verständnisses von Gegensätzlichkeit auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Auf der rechten und der linken Seite finden wir die Entwicklungsstufen in unterschiedlichen Bezeichnungen und in der Mitte Beschreibungen der Wahrnehmung von Polaritäten.
Als typische Beispiele aus MAP Tests führen die Autorinnen auf:
Kinder großziehen … „ist angenehm“ — “ist ein Kampf”
(jeweils nur eine der beiden Positionen wird gesehen und formuliert)
Wenn ich kritisiert werde … “tut das weh, doch ich lerne”
(der Beginn der Bereitschaft, gegensätzliche Aspekte innerhalb des eigenen mentalen Modells über sich selbst und die Welt anzuerkennen)
Kinder großziehen … „ist ein Balanceakt zwischen der Arbeit und dem Familienleben“
Wenn ich kritisiert werde … „versuche ich das entweder zu ignorieren oder ich setzte mich mit der Person irgendwie auseinander“
(hier beginnt eine Wertschätzung von Gegensätzen mit der Tendenz zum „Ausgleich“ unterschiedlicher Wahrnehmungsaspekte.)
Kinder großziehen … “erfordert, dass Frauen viele Eigenschaften haben müssen: Hausfrau, Vertraute, spirituelle Führerin und die Fähigkeit zur Anpassung“
Wenn ich kritisiert werde … „akzeptiere ich das manchmal, weise es aber manchmal auch zurück, abhängig von der Person und der Art von Kritik.“
(unterschiedliche Perspektiven werden gesehen und eingenommen, und es entsteht eine Bewusstheit hinsichtlich der eigenen Wertungen und Interpretationen. Sowohl-als-auch erscheint nun angemessener als entweder-oder.)
Ein guter Vorgesetzter – eine gute Vorgesetzte … „weiß was zu tun ist, tut dies und bezieht andere in Verbesserungen für alle Ebenen und Bereiche der Organisation ein“
(hier erweitert sich das sowohl-als-auch Denken auf unterschiedliche Ebenen verbundener Systeme und Teil-Ganzes Beziehungen. Spannungen werden als ein unvermeidlicher Teil des Lebens verstanden.)
Regeln sind … „künstliche Konstruktionen, die wir manchmal verwenden, um Wirklichkeit (weg zu) erklären oder um (den Ereignisfluss) zu kontrollieren. Als unsere Schöpfungen existieren sie, verändern sich oder existieren auch nicht – entsprechend unseren Wünschen/Bedürfnissen.“
(ein neues Bewusstsein entsteht darüber, wie Sprache die eigene Wirklichkeit formt. Erstmals können die eigenen Unterscheidungslinien als das gesehen werden was sie sind, willkürliche wenn auch nützliche Unterscheidungen. Das Bedürfnis Gegensätze zu manipulieren, um sie verschwinden zu lassen, wird hier überwunden.)
Zusammensein mit anderen Menschen … „ist nicht notwendigerweise abhängig von Nähe, Distanz oder Zeit, man kann jemandem räumlich nahe sein ohne mit ihm oder ihr zu ‚sein‘. Zusammensein ist mehr das Erkennen, dass der/die Andere auf eine Weise ein Teil von ‚dir‘ ist, und dass ‚du‘ ein Teil von ihm/ihr bist – wenn auch nur für einen Augenblick.“
die Weisheit dessen zu untersuchen, die in etwas Unerwünschtem liegen kann,
die möglichen Schattenseiten von etwas Wünschenswertem zu untersuchen,
diejenigen Aspekte von Wirklichkeit zu erfassen, welche bei der Bevorzugung eines Poles ausgeschlossen, verleugnet oder nicht voll anerkannt wurden,
zu erkennen, dass die Schattenseite eines bevorzugten Poles ein Ergebnis der Verneinung seines Gegenteils ist,
zu erkennen, dass beide Pole notwendig sind, um den vollen Nutzen aus einem jeden zu erhalten, im Dienst eines gedeihlichen und nachhaltigen Systems.
Im Allgemeinen kann die Arbeit mit Polaritäten in einem entwicklungsunterstützenden Coaching
- zur Konsolidierung einer Entwicklungsstufe beitragen
- die Weiterentwicklung zur nächsten Stufe unterstützen
- bei der Re-Integration Aspekte früherer Stufen helfen
- die Bewusstheit und den Raum schaffen für weitere Entwicklungen
Wir sind der Meinung, dass eine kontinuierliche Praxis, die dabei hilft ein immer „vollständigeres“ Bild zu sehen, ganz grundlegend ist, um integral zu sein. Einer der Wege dazu besteht im Erlernen, Identifizieren und Integrieren der Polaritäten in uns, in der Beziehung zu anderen und innerhalb des ganzen Systems. Ein Verständnis der tieferen Dynamiken innerhalb der Polaritäten wird bei den Praktizierenden des integralen Modells zu tiefen Einsichten führen und wird ebenso Einfluss nehmen auf die Zukunft der integralen Theorie.
Die Abhandlung schließt mit einem Wilber-Zitat aus Wege zum Selbst:
Wenn die Gegensätze als Eins erkennt werden, werden Missklang zu Einklang, Kämpfe zu Tänzen und alte Feinde werden zu Liebenden. Wir sind dann in der Lage, uns mit dem gesamten Universum anzufreunden und nicht nur mit einer seiner Hälften.
2 Siehe hierzu die Ausgabe 14 des Online Journals.
3 Diese und die folgenden Abbildungen entstammen ebenfalls dem eingangs erwähnten Text.
4 Der MAP als Leadership Maturity Assessment Instrument ist ein Satzvervollständigungstest zur Entwicklungsmessung. Informationen dazu finden sich hier: http://www.cook-greuter.com/SCTi-MAPForm.htm
5 Bei diesen Beispielen werden, wie beim frühen Werk Wilbers, Zustandsentwicklung und Strukturentwicklung nicht voneinander unterschieden (wie Wilber das in seinem späteren Werk tut – Wilber V), sondern typische höheren Zustandserfahrungen von Einheit treten in den höheren Strukturstufen auf.
(aus: Online Journal Nr. 49)