Oder: die Notwendigkeit eines integralen Weltbildes
von Dennis WittrockWo die Not groß ist, da – so sprach schon Hölderlin – „wächst das Rettende schon“. Was könnte das Not-Wendende sein angesichts von Finanzkrise, Klimawandel, Terrorismus, Fundamentalismus, drohender Ressourcenknappheit und achselzuckender Hoffnungslosigkeit?
Wenn die äußeren Lebensbedingungen tatsächlich die Frage darstellen, auf die die menschliche Intelligenz immer neue Antworten hervorbringt – was ist dann die Antwort auf Problemlagen, die so komplex sind, dass sie nationalstaatlichen Gebilden mehr und mehr entgleiten?
Man stelle sich vor, dass alle bisherigen Stationen der Menschwerdung (mit allen ihren spezifischen Stärken und Schwächen in unterschiedlichen Bereichen) in diesem Augenblick Krieg miteinander führen- verstärkt durch ein multidimensionales Informationsgeflecht. Perspektiven, die vor einigen Jahrhunderten noch aufgrund räumlicher und zeitlicher Distanzen niemals miteinander in Berührung gekommen wären, prallen im Zeitalter von Massenmedien, modernem Transportwesen und Internet brutal aufeinander, so dass es splittert und die Fetzen fliegen – die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Wem soll man noch Glauben schenken? Was ist richtig und was falsch? Macht es Sinn an dem Begriff „Wahrheit“ festzuhalten, oder ist alles ohnehin nur Produkt kultureller Konstruktion? Ist Gott tot - und falls nicht, was soll das ganze Spielchen auf diesem Staubkorn irgendwo im Universum?
Ken Wilber ist circa 1,90 m groß, glatzköpfig, durchtrainert und hat eine absurde Vorliebe für Red Bull, die so ganz und gar nicht zu seiner langjährigen meditativen Praxis oder zu seiner vegetarischen Ernährung passen will. Er ist Amerikaner, Philosoph und Autor von über zwanzig Büchern, die in über 25 Sprachen übersetzt wurden. Fast im Alleingang hat er eine wahrhaft umfassende Welt-Philosophie geschaffen – ein Rahmen, der weit genug ist, um die zentralen Erkenntnisse der Prä-Moderne, der Moderne und der Post-Moderne zu umarmen, weit genug, dass Spiritualität und Wissenschaft koexistieren können, weit genug, das jede Perspektive ein bisschen Recht haben kann, ohne dass sie andere Perspektiven notwendigerweise ausschließen muss. Weit genug für Zen und Muskelshirts. So sehen Helden aus.
Zen-Meister Shunryu Suzuki sagte einmal sinngemäß: „Wenn du eine Ziege unter Kontrolle haben willst, dann gib ihr eine große Weide zum Grasen. Dann hast du sie umfassend unter Kontrolle“. Suzuki meinte dies in Bezug auf den wandernden Geist in der Meditation, doch Ken Wilber scheint das gleiche Prinzip mit Erfolg auf das Feld der Erkenntnisgewinnung angewandt zu haben. Sein bahnbrechendes (weil so überaus elegantes und schlichtes) Modell der „Vier Quadranten“ ist ein Eckpfeiler seiner „Integralen Theorie“ (oft abgekürzt mit dem Akronym ‚AQAL’). Um in obigen Bild zu bleiben könnte man sagen: Wilber hat eine Weide abgesteckt, die groß genug ist, so dass eine bunte Herde von Ziegen darauf Platz findet und umfassend unter Kontrolle ist. Wissenschaftliche oder meditative Schulen sind zwar keine Ziegen, zicken einander aber trotzdem gerne mal an, wie wohl bekannt sein dürfte.
Die Vier Quadranten stattdessen helfen uns, die Puzzlestücke der Wirklichkeit zu integrieren. Da es im Bereich der relativen Wirklichkeit nichts gibt, das ausserhalb der Kombination der zwei grundlegenden Unterscheidungen „innerlich“ /„äußerlich“, bzw. „individuell“/ „kollektiv“ liegt, fällt alles was gewusst werden kann, notwendig in einen der Vier Quadranten. Verschiedene Disziplinen befassen sich bevorzugt mit verschiedenen Quadranten, und häufen darin soviel Spezialwissen ab, dass sie der Versuchung von Absolutheitsansprüchen erliegen und ihr kosmisches Kuchenstückkurzerhand zur einzig existierenden Torte umdeuten.
Das Not-Wendende des Integralen Ansatzes von Ken Wilber besteht darin, dass er jedem Vertreter einer Spezial-Perspektive auf die Finger klopft, ihren Charakter einer Teil-Wahrheit würdigt und respektvoll in einen kohärenten Rahmen mit anderen Teil-Wahrheiten anderer Disziplinen integriert. Denn, wie Wilber gerne sagt, „Niemand ist so clever sich ständig nur zu irren“. Aus diesem Impuls liest er (buchstäblich) die Perspektiven-Bruchstück auf, ordnet sie anhand eines übergeordneten Gefüges (wovon die vier Quadranten nur ein Aspekt sind) und erstellt daraus ein neues Bild, das einen tieferen Raum der Selbst- / Fremd- und Problemwahrnehmung inszeniert.
Freud schrieb über das „Unbehagen in der Kultur“ der Moderne. Ich möchte das Unbehagen in der Kultur der Post-Moderne charakterisieren: es besteht in der Verflüssigung ehemals für solide befundener Standpunkte; in einem verwirrenden Kaleidoskop von Perspektiven ohne inneren Zusammenhang; in der Infragestellung übergreifender Sinnzusammenhänge; in der Preisgabe an die Variablen von Zufall und Sinnlosigkeit. Oder um es mit Ken Wilber zu diagnostizieren: „a-perspektivischer Irrsinn“. Doch das ist nur die halbe Geschichte. Alles, was ausdifferenziert wurde, muss von einer höheren Ebene aus wieder integriert werden, Atome zu Molekülen, Moleküle zu Zellen, Zellen zu Organismen. Das gilt auch für das schier unüberschaubare Panorama der ausdifferenzierten Perspektiven.
Aus der integralen Sicht ist die Evolution des Universums ein Prozess, der sich von der Physiosphäre (Materie), über die Biosphäre (Leben) bis hin zur Noosphäre (Geist) und darüber hinaus zum Göttlichen erstreckt. Schicht um Schicht, „Holon“ um „Holon“[1], Augenblick um Augenblick wird eingefaltet in dem expandierenden Mysterium der Schöpfung. Jeder Embryo wiederholt im Zeitraffer die Entwicklungsschritte der Tierwelt. Wenn das Kind aufwächst wiederholt es auch die inneren Entwicklungsschritte der Menschheit im Zeitraffer: archaisch, magisch, mythisch (traditionell), bis hin zur rationalen, wissenschaftlichen Weltsicht (modern) – die ehrwürdige Errungenschaft der Aufklärung.
Entwicklung im Erwachsenenalter kann weitergehen, wie psychologische Forschungen zeigen.[2] Als nächstes nach diesem uneingeschränkten, rationalen Fortschritts-Optimismus (als Effizienzdenken insbesondere im Business zu finden) reift im Bewusstsein die Fähigkeit multiple Perspektive parallel halten zu können: das pluralistische Bewusstsein (postmodern), das in den 68er Jahren des letzten Jahrhunderts erstmals in großem Maßstab die Weltbühne betrat. Als dialektische Anti-These zur Moderne korrigiert es die Sünden der modernen, rationalen Weltsicht: Ausbeutung, Umweltverschmutzung und Diskriminierung jeglicher Schattierung – was ebenfalls ungeheuer ehrwürdig ist. Es schreibt sich Hierarchiefreiheit, Toleranz, Pazifismus und die bedingungslose Liebe aller Menschen auf die Fahnen … und hasst die traditionelle Weltsicht, hasst den modernistisch-rationalen Kapitalismus, hasst die auftauchende integrale Weltsicht, für die Hierarchien, genauer „Wachstumshierarchien“ wieder eine zentrale Rolle spielen. Nun, dieser Hass ist nicht sehr ehrwürdig, sondern eher das bedauerliche Signum einer Umarmung die einfach noch nicht weit genug war.
Die – aus Sicht des pluralistischen Bewusstseins – unbegreifliche Bereitschaft der nächstfolgenden, integralen Ebene des Bewusstseins besteht darin, dass sie genuinen Respekt und authentische Wertschätzung empfindet für Menschen, die erz-konservativ („Mein Volk zuerst!“) , oder erz-kapitalistisch („Unter dem Strich zählt der Profit.“), oder erz-pluralistisch („Liebe, Bruder! Shanti und Namaste“) sind. Das kriegen die Pluralisten einfachnoch nicht hin - ihr Mitgefühl ist begrenzter. „Wie machen die das, die Integralen?“, sollte man sich als engagierter Postmoderner eindringlich fragen und dazu: „Was haben die, was ich nicht hab?“
Evolution, Baby, Evolution. Wenn man 10.000 Perspektiven hat, aber keinen Rahmen, in dem man sie gewichten kann, d.h. wenn man a-perspektivisch verwirrt ist und nicht begründen kann, warum eine Perspektive relativ besser ist als eine andere, dann ist es z.B. schwierig zu argumentieren, dass die Praxis der klitoralen Verstümmelung von jungen Mädchen verabscheuungswürdig ist, denn „Wir dürfen uns kein Urteil über eine fremde Kultur anmaßen. Das ist politisch inkorrekt“. Tja.
Der rote Faden heißt Evolution und zunehmende Tiefe der Weltsichten und des Mitgefühls. Das integrale Bewusstsein begreift intuitiv die Stationen des Lebens, an denen Menschen notwendigerweise stehen. Ihm sind die Stufen der Bewusstseinsentwicklung transparent. Es kann sehen, dass der Umfang des Mitgefühls mit jeder Ebene des Bewusstseins und der Werte immer weiter ausgedehnt wird. Von egozentrisch („Ich“) zu ethnozentrisch („Du und meine Leute“) zu weltzentrisch („alle Menschen universell“) zu kosmozentrisch ( „alle fühlenden Wesen in allen Welten“). Es sieht, dass man, um die Leiter der Entwicklung erklimmen zu können, JEDE Sprosse unabdingbar braucht. Es sieht, dass Transformation zwar möglich, aber selten ist und dass man mit jeder Ebene in der Sprache sprechen muss, die sie verstehen kann. Es weiß, dass Cross-Level Debatten (traditionell vs. modern vs. postmodern) fruchtlose Zeitverschwendung sind, weil bestimmte Dinge erst ab einer bestimmten Ebene Resonanz finden und verstanden werden können. Es spürt, dass die globalen Probleme nur gelöst werden können, wenn die gesamte Spirale der Entwicklung dabei mit einbezogen wird.
Der große Verdienst Ken Wilbers für die integrale Bewegung, die sich derzeit an verschiedenen Orten rund um den Erdball formiert, liegt darin, dass er in seinen Büchern ein tieferes Muster sichtbar gemacht hat: ein Muster, dass alle Perspektiven verbindet: horizontal anhand der Vier Quadranten und vertikal anhand des Verständnisses von kosmischer Evolution, die sich im menschlichen Bereich als Evolution des Bewusstseins auswirkt. Seine Theorie (AQAL) ist wie ein monumentaler Index der Perspektiven, ein „Giga-Glossar“ wie er sagt, in dem man nachschauen kann, wie Perspektiven relativ zu einander verortet sind.
Anders gesprochen: das hat die Welt noch nicht gesehen. Eine neue Welle der kollektiven Bewusstseinsentwicklung rollt heran, um sich an den Klippen der Gegenwartskultur zu brechen. Die beiden letzten großen Ereignisse dieser Art waren die Aufklärung vor 300 Jahren (Moderne) und die sozialen Umwälzungen der 68er vor nunmehr 40 Jahren (Post-Moderne). Im Ernst: das ist auch echt notwendig und wahrscheinlich auch Not wendend. Wollen wir nicht krepieren, dann müssen wir integrieren und umarmen was vor uns war.
Man stelle sich vor, dass alle bisherigen Stationen der Menschwerdung (mit allen ihren spezifischen Stärken und Schwächen in unterschiedlichen Bereichen) in diesem Augenblick Krieg miteinander führen- verstärkt durch ein multidimensionales Informationsgeflecht. Perspektiven, die vor einigen Jahrhunderten noch aufgrund räumlicher und zeitlicher Distanzen niemals miteinander in Berührung gekommen wären, prallen im Zeitalter von Massenmedien, modernem Transportwesen und Internet brutal aufeinander, so dass es splittert und die Fetzen fliegen – die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Wem soll man noch Glauben schenken? Was ist richtig und was falsch? Macht es Sinn an dem Begriff „Wahrheit“ festzuhalten, oder ist alles ohnehin nur Produkt kultureller Konstruktion? Ist Gott tot - und falls nicht, was soll das ganze Spielchen auf diesem Staubkorn irgendwo im Universum?
Ken Wilber ist circa 1,90 m groß, glatzköpfig, durchtrainert und hat eine absurde Vorliebe für Red Bull, die so ganz und gar nicht zu seiner langjährigen meditativen Praxis oder zu seiner vegetarischen Ernährung passen will. Er ist Amerikaner, Philosoph und Autor von über zwanzig Büchern, die in über 25 Sprachen übersetzt wurden. Fast im Alleingang hat er eine wahrhaft umfassende Welt-Philosophie geschaffen – ein Rahmen, der weit genug ist, um die zentralen Erkenntnisse der Prä-Moderne, der Moderne und der Post-Moderne zu umarmen, weit genug, dass Spiritualität und Wissenschaft koexistieren können, weit genug, das jede Perspektive ein bisschen Recht haben kann, ohne dass sie andere Perspektiven notwendigerweise ausschließen muss. Weit genug für Zen und Muskelshirts. So sehen Helden aus.
Zen-Meister Shunryu Suzuki sagte einmal sinngemäß: „Wenn du eine Ziege unter Kontrolle haben willst, dann gib ihr eine große Weide zum Grasen. Dann hast du sie umfassend unter Kontrolle“. Suzuki meinte dies in Bezug auf den wandernden Geist in der Meditation, doch Ken Wilber scheint das gleiche Prinzip mit Erfolg auf das Feld der Erkenntnisgewinnung angewandt zu haben. Sein bahnbrechendes (weil so überaus elegantes und schlichtes) Modell der „Vier Quadranten“ ist ein Eckpfeiler seiner „Integralen Theorie“ (oft abgekürzt mit dem Akronym ‚AQAL’). Um in obigen Bild zu bleiben könnte man sagen: Wilber hat eine Weide abgesteckt, die groß genug ist, so dass eine bunte Herde von Ziegen darauf Platz findet und umfassend unter Kontrolle ist. Wissenschaftliche oder meditative Schulen sind zwar keine Ziegen, zicken einander aber trotzdem gerne mal an, wie wohl bekannt sein dürfte.
Die Vier Quadranten stattdessen helfen uns, die Puzzlestücke der Wirklichkeit zu integrieren. Da es im Bereich der relativen Wirklichkeit nichts gibt, das ausserhalb der Kombination der zwei grundlegenden Unterscheidungen „innerlich“ /„äußerlich“, bzw. „individuell“/ „kollektiv“ liegt, fällt alles was gewusst werden kann, notwendig in einen der Vier Quadranten. Verschiedene Disziplinen befassen sich bevorzugt mit verschiedenen Quadranten, und häufen darin soviel Spezialwissen ab, dass sie der Versuchung von Absolutheitsansprüchen erliegen und ihr kosmisches Kuchenstückkurzerhand zur einzig existierenden Torte umdeuten.
Das Not-Wendende des Integralen Ansatzes von Ken Wilber besteht darin, dass er jedem Vertreter einer Spezial-Perspektive auf die Finger klopft, ihren Charakter einer Teil-Wahrheit würdigt und respektvoll in einen kohärenten Rahmen mit anderen Teil-Wahrheiten anderer Disziplinen integriert. Denn, wie Wilber gerne sagt, „Niemand ist so clever sich ständig nur zu irren“. Aus diesem Impuls liest er (buchstäblich) die Perspektiven-Bruchstück auf, ordnet sie anhand eines übergeordneten Gefüges (wovon die vier Quadranten nur ein Aspekt sind) und erstellt daraus ein neues Bild, das einen tieferen Raum der Selbst- / Fremd- und Problemwahrnehmung inszeniert.
Freud schrieb über das „Unbehagen in der Kultur“ der Moderne. Ich möchte das Unbehagen in der Kultur der Post-Moderne charakterisieren: es besteht in der Verflüssigung ehemals für solide befundener Standpunkte; in einem verwirrenden Kaleidoskop von Perspektiven ohne inneren Zusammenhang; in der Infragestellung übergreifender Sinnzusammenhänge; in der Preisgabe an die Variablen von Zufall und Sinnlosigkeit. Oder um es mit Ken Wilber zu diagnostizieren: „a-perspektivischer Irrsinn“. Doch das ist nur die halbe Geschichte. Alles, was ausdifferenziert wurde, muss von einer höheren Ebene aus wieder integriert werden, Atome zu Molekülen, Moleküle zu Zellen, Zellen zu Organismen. Das gilt auch für das schier unüberschaubare Panorama der ausdifferenzierten Perspektiven.
Aus der integralen Sicht ist die Evolution des Universums ein Prozess, der sich von der Physiosphäre (Materie), über die Biosphäre (Leben) bis hin zur Noosphäre (Geist) und darüber hinaus zum Göttlichen erstreckt. Schicht um Schicht, „Holon“ um „Holon“[1], Augenblick um Augenblick wird eingefaltet in dem expandierenden Mysterium der Schöpfung. Jeder Embryo wiederholt im Zeitraffer die Entwicklungsschritte der Tierwelt. Wenn das Kind aufwächst wiederholt es auch die inneren Entwicklungsschritte der Menschheit im Zeitraffer: archaisch, magisch, mythisch (traditionell), bis hin zur rationalen, wissenschaftlichen Weltsicht (modern) – die ehrwürdige Errungenschaft der Aufklärung.
Entwicklung im Erwachsenenalter kann weitergehen, wie psychologische Forschungen zeigen.[2] Als nächstes nach diesem uneingeschränkten, rationalen Fortschritts-Optimismus (als Effizienzdenken insbesondere im Business zu finden) reift im Bewusstsein die Fähigkeit multiple Perspektive parallel halten zu können: das pluralistische Bewusstsein (postmodern), das in den 68er Jahren des letzten Jahrhunderts erstmals in großem Maßstab die Weltbühne betrat. Als dialektische Anti-These zur Moderne korrigiert es die Sünden der modernen, rationalen Weltsicht: Ausbeutung, Umweltverschmutzung und Diskriminierung jeglicher Schattierung – was ebenfalls ungeheuer ehrwürdig ist. Es schreibt sich Hierarchiefreiheit, Toleranz, Pazifismus und die bedingungslose Liebe aller Menschen auf die Fahnen … und hasst die traditionelle Weltsicht, hasst den modernistisch-rationalen Kapitalismus, hasst die auftauchende integrale Weltsicht, für die Hierarchien, genauer „Wachstumshierarchien“ wieder eine zentrale Rolle spielen. Nun, dieser Hass ist nicht sehr ehrwürdig, sondern eher das bedauerliche Signum einer Umarmung die einfach noch nicht weit genug war.
Die – aus Sicht des pluralistischen Bewusstseins – unbegreifliche Bereitschaft der nächstfolgenden, integralen Ebene des Bewusstseins besteht darin, dass sie genuinen Respekt und authentische Wertschätzung empfindet für Menschen, die erz-konservativ („Mein Volk zuerst!“) , oder erz-kapitalistisch („Unter dem Strich zählt der Profit.“), oder erz-pluralistisch („Liebe, Bruder! Shanti und Namaste“) sind. Das kriegen die Pluralisten einfachnoch nicht hin - ihr Mitgefühl ist begrenzter. „Wie machen die das, die Integralen?“, sollte man sich als engagierter Postmoderner eindringlich fragen und dazu: „Was haben die, was ich nicht hab?“
Evolution, Baby, Evolution. Wenn man 10.000 Perspektiven hat, aber keinen Rahmen, in dem man sie gewichten kann, d.h. wenn man a-perspektivisch verwirrt ist und nicht begründen kann, warum eine Perspektive relativ besser ist als eine andere, dann ist es z.B. schwierig zu argumentieren, dass die Praxis der klitoralen Verstümmelung von jungen Mädchen verabscheuungswürdig ist, denn „Wir dürfen uns kein Urteil über eine fremde Kultur anmaßen. Das ist politisch inkorrekt“. Tja.
Der rote Faden heißt Evolution und zunehmende Tiefe der Weltsichten und des Mitgefühls. Das integrale Bewusstsein begreift intuitiv die Stationen des Lebens, an denen Menschen notwendigerweise stehen. Ihm sind die Stufen der Bewusstseinsentwicklung transparent. Es kann sehen, dass der Umfang des Mitgefühls mit jeder Ebene des Bewusstseins und der Werte immer weiter ausgedehnt wird. Von egozentrisch („Ich“) zu ethnozentrisch („Du und meine Leute“) zu weltzentrisch („alle Menschen universell“) zu kosmozentrisch ( „alle fühlenden Wesen in allen Welten“). Es sieht, dass man, um die Leiter der Entwicklung erklimmen zu können, JEDE Sprosse unabdingbar braucht. Es sieht, dass Transformation zwar möglich, aber selten ist und dass man mit jeder Ebene in der Sprache sprechen muss, die sie verstehen kann. Es weiß, dass Cross-Level Debatten (traditionell vs. modern vs. postmodern) fruchtlose Zeitverschwendung sind, weil bestimmte Dinge erst ab einer bestimmten Ebene Resonanz finden und verstanden werden können. Es spürt, dass die globalen Probleme nur gelöst werden können, wenn die gesamte Spirale der Entwicklung dabei mit einbezogen wird.
Der große Verdienst Ken Wilbers für die integrale Bewegung, die sich derzeit an verschiedenen Orten rund um den Erdball formiert, liegt darin, dass er in seinen Büchern ein tieferes Muster sichtbar gemacht hat: ein Muster, dass alle Perspektiven verbindet: horizontal anhand der Vier Quadranten und vertikal anhand des Verständnisses von kosmischer Evolution, die sich im menschlichen Bereich als Evolution des Bewusstseins auswirkt. Seine Theorie (AQAL) ist wie ein monumentaler Index der Perspektiven, ein „Giga-Glossar“ wie er sagt, in dem man nachschauen kann, wie Perspektiven relativ zu einander verortet sind.
Anders gesprochen: das hat die Welt noch nicht gesehen. Eine neue Welle der kollektiven Bewusstseinsentwicklung rollt heran, um sich an den Klippen der Gegenwartskultur zu brechen. Die beiden letzten großen Ereignisse dieser Art waren die Aufklärung vor 300 Jahren (Moderne) und die sozialen Umwälzungen der 68er vor nunmehr 40 Jahren (Post-Moderne). Im Ernst: das ist auch echt notwendig und wahrscheinlich auch Not wendend. Wollen wir nicht krepieren, dann müssen wir integrieren und umarmen was vor uns war.
[1] „Holon“ Begriff den Wilber von Arthur Koestler zur Bezeichnung von ineinander geschachtelten Teil/Ganzen übernommen hat: Atome – Moleküle – Zellen - Organismen- …
[2] Siehe z.B. die Arbeiten von .A.Maslow, C.Graves, J. Loevinger und S.Cook-Greuter.