Zustände (states) ist ein technischer Begriff der integralen Theorie, der der Tatsache Rechnung trägt dass sich die Dinge (im weitesten Sinn) ändern. Während Entwicklung als eine Art von Strukturbildung auch auf die bleibenden Aspekte manifester Wirklichkeit hinweist, betont der Teminus "Zustände" dass wir in einem sich ständig verändernden Universum leben. Egal ob wir nach aussen auf das Wetter und das Jahreszeitgeschehen schauen, oder auf das was zwischen uns in unseren Beziehungen und unserem Zusammensein geschieht, oder auf das was wir innerpsychisch erleben: "alles fliesst ", alles ist in Bewegung und in Veränderung, von Beginn an.

Ken Wilber unterscheidet dabei

a) die Hauptzustände des Seins (wie Wachen, Träumen und traumloser Tiefschlaf, die jeder Menschen alle vierundzwanzig Stunden mehr oder weniger bewusst durchläuft

b) die "normalem" phänomenologischen Zustände des Alltags wie (auf den Menschen bezogen) Freude, Trauer, Müdigkeit, Wut, Lust, Unlust usw.

c) außergewöhnliche Zustände die meist erst durch bestimmte Methoden oder Trainings erreicht werden wie meditative Zustände oder drogeninduzierte Zustände.


Die Kategorie Zustände öffnet uns für die Fülle und Vielfalt des Lebens.

Allgemeines

Wilber unterscheidet veränderte oder außergewöhnliche Zustände, inklusive exogener Zustände (z.B. drogeninduziert) und endogener Zustände (einschließlich trainierter Zustände wie etwa meditative Zustände) von großen natürlichen Zuständen des Bewusstseins.

Höhere Zustände, egal ob auf natürliche oder veränderte Zustände zurückzuführen,  werden oft Gipfelerfahrungen genannt.

Im Gegensatz zu Strukturen / Ebenen des Bewusstseins, welche permanente Errungenschaften darstellen, sind Zustände des Bewusstseins flüchtiger Natur. Sie kommen und gehen und schließen einander aus - wer betrunken ist, der ist nicht gleichzeitig nüchtern. Weil Zustände sehr veränderlich und flüssig sind, können innerhalb kurzer Zeit große Veränderungen (Gipfelerfahrungen) eintreten - was für Ebenen jedoch nicht gilt.

Die 3 großen natürlichen Zustände des Bewusstseins

Wilber nennt drei große natürliche Zustände des Bewusstseins, Wachen, Träumen und Tiefschlaf, zu denen alle Menschen Zugang haben. Darüber hinaus nennt er mit Bezug auf die Beschreibungen der Weisheitstraditionen von Vedanta und Vajrayana zwei weitere große Zustände: den Zeugen (turiya, - "der Vierte") und Nondualität (turiyatita - "jenseits des Vierten").

Die gewöhnliche Ausrichtung eines Menschen ist eine Identifikation mit der Welt des Wachzustands. Im Laufe eines spirituellen Zustandstrainings (Meditation oder Kontemplation) wird die Fähigkeit geschult, das Bewusstsein jenseits des (grobstofflichen) Wachzustands auszudehnen. Ein Resultat dieses jahrelangen Trainings ist dann die Ausdehnung der Fähigkeit die Objekte des Bewusstseins zu bezeugen in den (subtilen) Traumzustand, auch bekannt als die Fähigkeit luzide zu träumen. Wird das Training fortgesetzt, so wird diese Fähigkeit des einfachen Bezeugens auch noch auf den Zustand des (sehr subtilen) traumlosen Tiefschlafs ausgedehnt, in dem keinerlei Objekte mehr auftauchen.

Der vierte und der fünfte Zustand des Bewusstseins

Durchläuft man nun in einem Zustand des einfachen Bezeugens die sich wiederholenden Zyklen von Wachzustand, Traumzustand und Tiefschlafzustand ohne den roten Faden der Bewusstheit zu verlieren, so spricht man von "Subjekt-Permanenz". Man ist verankert in einem vierten Zustand ("turyia"), dem Zustand des Zeugen, und kann verstehen, warum in den Weisheitstexten die Objekte des Wachzustands als illusorisch und traumähnlich bezeichnet werden. Sie kommen und gehen ständig - wie alle anderen Objekte -  seien es nun grobstoffliche materielle Dinge oder feinstoffliche Visionen. Was nicht kommt oder geht ist Wilber zufolge der Zeuge all dieser Objekte. Verglichen damit sind Objekte aller Art irreal.

Der Durchbruch zum nondualen Zustand ("turiyatita") geschieht, wenn das Zeugenbewusstsein der Realisation weicht, dass Objekt und Subjekt, Bezeugtes und Zeuge auf der fundamentalen Ebene nicht getrennt, oder "nicht-zwei" sind und auch niemals waren. Im Buddhismus wird dies als die "Einheit von Leerheit und Form" bezeichnet. Diese Realisation bringt nichts Neues (d.h. kein neues vergängliches Objekt des Wissens) ins Gewahrsein, sondern trägt Wilber zufolge den Charakter der Wiederentdeckung einer "immer schon" gegenwärtigen Tatsache: "the simple feeling of being" - das schlichte Gefühl des Seins.

Zustände, Energien, Objekte, Körper

Den drei großen natürlichen Zuständen werden traditionell drei Arten von Energien , drei Arten von Objekten und drei Körper zugeordnet.
ZustandEnergieObjekteKörper

Wachen
grobstofflich / manifestmaterielle Dingephysischer Körper

Träumen
subtil/ feinstofflichBilder, Empfindungensubtiler Körper

Tiefschlaf
kausal / sehr feinstofflichkeinerlei Objektekausaler Körper
Der Wachzustand ist dadurch definiert, dass darin physische Dinge vorkommen. Der Körper mit dem man hier gewöhnlich identifiziert ist, ist der physische Körper.

Geht man in den Traumzustand über, so lässt man die Identität mit den grobstofflichen Körper zurück und identifiziert sich mit einem subtilen Traumkörper, der völlig andere Eigenschaften haben kann (z.B. kann man im Traum fliegen, an alle möglichen Orte gehen, etc.). Im Tibetischen Totenbuch ist die Rede davon, dass dies auch der Körper ist, der von Leben zu Leben weiterwandert, weshalb die Meisterung des Traumzustandes (z.B. im luziden Träumen) als wertvolle Fähigkeit zur bewussten Steuerung der eigenen Reinkarnation betrachtet wird.

Der Tiefschlaf, bzw. der kausale Zustand ist dadurch gekennzeichnet, dass darin keinerlei Objekte auftauchen, mit denen man sich identifizieren könnte. Dies ist der Grund dafür, dass man sich gewöhnlich nicht daran erinnern kann - es sei denn man kann in der Präsenz des Zeugen verweilen. Traumloser Tiefschlaf und formlose Meditation führen in den selben Zustand bar aller Objekte. Die Traditionen ordnen diesem Zustand eine sehr feinstoffliche Energie und einen kausalen Körper zu, der laut Wilber in etwa mit Leerheit gleichzusetzen ist.

Formen mystischer Erfahrung anhand der natürlichen Zustände/ Potentiale des Bewusstseins

Mystische Erlebnisse sind Einheitserfahrungen mit den Energieformen des Wach-, Traum- und Tiefschlafzustands - ob mit einzelnen Potentialen des jeweiligen Zustandes oder gar mit den Potentialen aller Zustände (nondual).

Eine Einheitserfahrung im einfachen Wachzustand kann beispielsweise bei einem Spaziergang in der Natur auftauchen. Plötzlich ist der Berg nicht mehr auf der anderen Seite des Selbsts - Selbst und Berg werden spontan als "nicht-zwei" erlebt. Man spricht hierbei von einer "naturmystischen Erfahrung", da die Form mit der man sich eins fühlt auf die grobstofflichen Objekte des Wachzustandes begrenzt ist.

Eine Einheitserfahrung mit den Potentialen des subtilen oder Traumzustands kann in einem luziden Traum auftreten, bei dem man spontan realisiert, dass alle Inhalte des Traumes seinem Selbst angehören und nicht getrennt von einem sind. Man fühlt sich "eins" damit. Eine andere Variante einer solchen subtilen Einheitserfahrung ist Visualisierung einer Gottheit (Jesus Christus, Krishna, Avalokiteshvara, o.ä.) im kontemplativen Gebet, bzw. in der Meditation. Die anfängliche Trennung zwischen dem praktizierenden Subjekt und dem Objekt der Meditation löst sich (mehr oder weniger) spontan auf, man fühlt sich eins mit der jeweiligen Gottheit, mehr noch - man wird zu der Gottheit, wobei das ehemalige Selbst nur noch als kleiner Aspekt der neuen höheren Identität empfunden wird. Man spricht von "Gottheitsmystik". Der Schwerpunkt der Zustandsidentität hat sich vom grobstofflichen Ego zur subtilen Seele hin verschoben (vgl. die Umschaltpunkte bzw."switchpoints").

Wenn keinerlei Objekte im Bewusstsein auftauchen und man sich mit diesem Zustand der "Leere" oder Formlosigkeit eins fühlt, dann spricht man von "formloser Mystik". Dieser Zustand tritt gewöhnlich nur im Tiefschlaf oder nach jahrelangem meditativen Training (als nirvikalpa samadhi) auf. In diesem Zustand existiert nur das schweigende Gewahrsein des Zeugen, radikale ICH-BIN-heit.
Non-Dualität, bzw "Nicht-Zweiheit" wird bei allen diesen Typen der mystischen Einheitserfahrung offenbar. Dennoch reserviert Wilber den Begriff "nonduale Mystik" für die Fähigkeit, sich permanent in jedem der drei großen natürlichen Zustände frei wie in einem Flow-Erlebnis zu bewegen, d.h. durchgängig mit allen Objekten des Geistes eins zu sein, ohne den roten Faden der Bewusstheit zu verlieren.
Wo andere Menschen pauschal von einer "mystischen Einheitserfahrung" sprechen lautet Wilbers Frage stets: "Eins womit? Mit Objekten des Wach-, Traum- oder Tiefschlafzustandes- oder gar mit allen?"

Zustandstraining, Zustands-Stufen, Umschaltpunkte

Zustandstraining, wie man es in meditativen oder kontemplativen Traditionen absolvieren kann, zielt darauf ab, die ausschließlich Identifikation mit dem Wachzustand zu durchbrechen, indem man die Wachheit durch alle Zustände ausdehnt, um dasjenige zu finden, was jenseits aller Zustandsveränderungen liegt (der Zeuge, bzw. das "Selbst"). Von dort aus gilt es sich schließlich wieder mit der gesamten Schöpfung in einer nondualen Vereinigung eins zu wissen.


Obwohl Zustände kommen und gehen, spricht Wilber davon, dass man auf dem meditativen Übungsweg gewisse Zustands-Stufen erreichen und stabilisieren kann. Die "Zehn Ochsenbilder" oder die "Fünf Stände des Tozan" des Zen sind Beispiele für traditionelle Beschreibungen dieser Zustands-Stufen. Eine Zustand-Stufe bezeichnet die Fähigkeit willentlich Zugang zu einem bestimmten Zustand, z.b. der kausalen, formlosen Versunkenheit herzustellen.

Hatte Wilber in früheren Büchern die Zustands-Stufen (der östlichen Psychologie) noch auf die höchsten Stufen der Strukturentwicklung (der westlichen Psychologie) 'aufgesetzt' so korrigiert er in "Integrale Spiritualität" dieses Modell dahingehend, dass er nun neben vertikalen Struktur-Stufen (der Zone #2) auch horizontale Zustands-Stufen (der Zone #1) beschreibt. Die Zustandsstufen 'klappen nach rechts um'. "Evolutionäre Erleuchtung" bedeutet in diesem Kontext die horizontale Verwirklichung der immer gleichen Freiheit (Meisterung der Zustands-Stufen), unter Zunahme der Fülle der vertikalen Struktur-Stufen, mit denen die Leerheit eins sein kann.

Wilber nennt ferner vier Identitäten, die sich an den verschiedenen Zuständen ausrichten: Ego, Seele, Selbst und Soheit  ("ego, soul, Self, Suchness"). Zwischen diesen Identitäten liegen die (horizontalen) Umschaltpunkte ("switchpoints"), die den Schwerpunkt der Zustandsidentität definieren. Die Umschaltpunkte sind analog zu den Drehpunkten der vertikalen Strukturentwicklung zu verstehen, welche den Bewusstseinsschwerpunkt des Individuums definieren. "Horizontal" und "vertikal" bezieht sich dabei wieder auf die Entwicklungsrichtungen, die in der Wilber-Combs-Matrix angegeben sind. Ebenfalls analog zu den Drehpunkten können an den Umschaltpunkten unterschiedliche Pathologien auftreten, die unterschiedlicher Behandlungsmodalitäten bedürfen.
             

    
       

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