Spiral Dynamics ist ein auf breiter empirischer Basis gewonnenes Modell, welches von Ken Wilber in seinen neueren Büchern des öfteren herangezogen wird. Er erklärt dazu (siehe auch: Ken Wilber, Integrale Psychologie, Arbor Verlag 2001, S. 66f. und Ken Wilber, Ganzheitlich handeln, Arbor Verlag 2001, S. 21f.):
„In Integrale Psychologie präsentiere ich Übersichten, welche die Arbeit von über 100 Entwicklungspsychologen zusammenfassen, aus Ost und West, aus früheren Zeiten, modern und postmodern. Spiral-Dynamik ist nur eine dieser 100, doch ich verwende es in letzter Zeit ziemlich oft, weil es einfach und leicht zu verstehen ist, auch für Anfänger. Basierend auf intensiven Forschungen, begonnen von Clare Graves, sieht Spiral-Dynamik (entwickelt von Don Beck und Christopher Cowan) die Entwicklung oder Evolution der Menschen durch acht große Wellen des Bewusstseins. Der Einfachheit halber werde ich meine Zusammenfassung aus Ganzheitlich Handeln hier wiedergeben."
Spiral-Dynamik und die Wellen der Existenz
1. Beige:
Vorkommen: Frühe menschliche Gesellschaften, Neugeborene, senile Alte, Alzheimer Patienten im Spätstadium, verwirrte Obdachlose, hungernde Massen, Menschen mit Bombentrauma. Etwa 0,1% der erwachsenen Bevölkerung, 0% Macht.
2. Purpur:
Vorkommen: Glaube an Voodoo-ähnliche Verfluchungen, Blutschwüre, Sippenhaftung, Amulette, Familienrituale, magisch-ethnische Überzeugungen und Aberglaube; verbreitet in der Dritten Welt, in Gangs, Sportmannschaften, und organisierten "Stämmen" in der Welt der Angestellten. 10% der Bevölkerung, 1% der Macht.
3. Rot:
4. Blau:
Vorkommen: puritanisches Amerika, konfuzianisches China, Dickens' England, Singapur Disziplin, Totalitarismus, Kodex der Ritterlichkeit und Ehre, wohltätiges Handeln, religiöser Fundamentalismus (z.B. Christentum und Islam), Pfadfinder, "moralische Mehrheit", Patriotismus. 40% der Bevölkerung, 30% der Macht.
5. Orange:
Vorkommen: Die Aufklärung, Ayn Rand's Atlas Shrugged, Wall Street, aufstrebende Mittelklasse auf der ganzen Welt, Kosmetikindustrie, Trophäenjagd, Kolonialismus, der Kalte Krieg, Modeindustrie, Materialismus, säkularer Humanismus, liberales Eigeninteresse. 30% der Bevölkerung, 50% der Macht.
6. Grün:
Vorkommen: Tiefenökologie, Postmodernismus, niederländischer Idealismus; klientenzentrierte Gesprächsführung nach C. Rogers , Kanadisches Gesundheitssystem, humanistische Psychologie, Befreiungstheologie, gemeinschaftliche Untersuchungen, Weltkonzil der Kirchen, Greenpeace, Tierschutz, Ökofeminismus, Post-Kolonialismus, Foucault/Derrida, politische Korrektheit, Bewegungen der Vielfalt, Menschenrechtsfragen, Ökopsychologie. 10% der Bevölkerung, 15% der Macht. (Hinweis: dies sind 10% der Weltbevölkerung. Don Beck schätzt, dass etwa 20-25% der amerikanischen Bevölkerung grün ist.)
Der Sprung zum zweiten-Rang Bewusstsein
Mit meinen Worten, jede Welle ist ein "Transzendieren und Einschiessen." Das bedeutet, jede Welle geht über ihre(n) Vorgänger hinaus (transzendiert ihn), und beinhaltet oder umfasst ihn zugleich in ihrem Bestand. Eine Zelle z.B. transzendiert und beinhaltet Moleküle, welche Atome transzendieren und beinhalten. Die Feststellung, dass Moleküle über ein Atom hinausgehen, bedeutet nicht dass Moleküle Atome hassen, sondern dass sie sie lieben: sie umfangen sie auf ihre Art und Weise; sie beinhalten sie, ohne sie zu vernachlässigen. Genau so ist jede Welle der Existenz ein grundlegender Bestandteil aller nachfolgenden Wellen, und daher sollte jede geschätzt und anerkannt werden.
Jede Welle kann weiterhin für sich aktiviert oder reaktiviert werden, sollten die Lebensumstände dies fordern. In Notfallsituationen können wir rote Kraftimpulse aktivieren; als Antwort auf Chaos müssen wir vielleicht auf die blaue Ordnung zurückgreifen; bei der Suche nach Arbeit benötigen wir vielleicht unsere orange zielorientierte Leistungsfähigkeit; in Liebesbeziehungen und mit Freunden nahe grüne Beziehungsfähigkeiten. Alle diese Meme haben etwas wichtiges beizutragen.
Doch keines der ersten-Rang Meme ist allein fähig, die Existenz der anderen Meme voll zu würdigen. Jedes der ersten-Rang Meme denkt, dass seine Weltsicht die richtige oder beste Perspektive ist- und reagiert negativ wenn diese Sicht angegriffen wird; es schlägt zurück, unter Verwendung der eigenen Werkzeuge, wann immer es sich bedroht sieht. Blaue Ordnung fühlt sich sehr unbehaglich bei roter Impulsivität und orangem Individualismus. Oranger Individualismus denkt, dass blaue Ordnung etwas für nützliche Idioten ist und dass grüner Egalitarismus schwach und butterweich ist. Grüner Egalitarismus verträgt Elitedenken nur schwer, bzw. Wertunterscheidungen, große Weltsichten, Hierarchien, und alles, das auch nur entfernt autoritär erscheint, und daher reagiert grün stark auf blau, orange, aber auch auf alles Post-Grüne.
All dies beginnt sich mit der Denkweise des zweiten Ranges zu verändern. Da das zweite-Rang Bewusstsein sich der inneren Stufen der Entwicklung voll bewusst ist - selbst wenn es sie noch nicht konkret formulieren kann - tritt es einen Schritt zurück und erfasst das Gesamtbild, und deswegen würdigt das zweite-Rang Denken die notwendige Rolle, die all die verschiedenen Meme spielen. Das zweite-Rang Bewusstsein bedenkt und erfasst die gesamte Spirale der Existenz, und nicht nur eine der Ebenen.
Während das grüne Mem beginnt, die zahlreichen verschiedenen Systeme und pluralistischen Kontexte, die in den verschiedenen Kulturen existieren, zu erfassen (daher ist es tatsächlich ein 'sensitives' Selbst, d.h. sensibel hinsichtlich der Marginalisierung anderer), geht das zweite-Rang Denken einen Schritt weiter.
Es erfasst den reichen Zusammenhalt, welcher diese pluralistischen Systeme verbindet und zusammenfügt, und nimmt die unterschiedlichen Systeme und umfängt sie, schließt sie ein und integriert sie zu holistischen Spiralen und in einem integralen Gewebe . Das zweite-Rang Denken ist, mit anderen Worten, entscheidend für die Entwicklung vom Relativismus zum Holismus, oder vom Pluralismus zum Integralismus.
Die umfangreichen Forschungen von Graves, Beck und Cowan weisen darauf hin, dass es mindestens zwei Hauptströmungen in diesem integralen Bewusstsein des zweiten Ranges gibt:
7. Gelb:
8. Türkis:
Mit weniger als 2 Prozent der Bevölkerung auf dem zweiten-Rang Bewusstsein (und lediglich 0,1% auf türkis), ist das zweite-Rang Bewusstsein relativ selten, und stellt jetzt die Spitze der kollektiven menschlichen Evolution dar. Als Beispiele dafür führen Beck und Cowan die Noosphäre von Teilhard de Chardin, die Chaos- und Komplexitätstheorien, universelles Systemdenken, integral-holistische Theorien, Gandhi's und Mandela's pluralistische Integration an, mit deutlich zunehmender Tendenz, und noch höheren Memes in Aussicht...
Hindernisse auf dem Weg zum zweiten-Rang Bewusstsein
Dies ist der Grund, warum viele Argumente nicht wirklich eine Angelegenheit besserer objektiver Beweise sind, sondern von der Ebene desjenigen, der argumentiert, bestimmt werden. Keine noch so große Menge wissenschaftlicher Beweise wird blaue Mythologie-Gläubige überzeugen; keine noch so starke grüne Verbundenheit wird orange Aggressivität beeindrucken; kein noch so umfangreicher türkiser Holismus wird den grünen Pluralismus verdrängen können- solange nicht das Individuum bereit ist, sich durch die dynamische Spirale des entfaltenden Bewusstseins weiter zu entwickeln. Aus diesem Grund führen "cross-level" Debatten (zwischen den Ebenen) nur selten zu einer Lösung, und alle Beteiligten fühlen sich meistens ungehört und nicht gewürdigt.
Ebenso wird nichts, was in diesem Buch [Ganzheitlich Handeln] gesagt wird, Sie davon überzeugen, dass eine T.O.E. [Theory of Everything] möglich ist, es sei denn sie haben bereits einen Tupfer der türkisen Farbe auf Ihrer kognitiven Palette (und dann werden Sie auf fast jeder Seite des Buches denken, "Das habe ich längst gewusst! Ich wusste nur nicht, wie ich es ausdrücken konnte").
Wie bereits gesagt, leistet das erste-Rang Denken der Emergenz der zweiten-Rang Meme generell Widerstand. Wissenschaftlicher Materialismus (orange) ist auf eine aggressive Weise reduktionistisch gegenüber den Gedankengebäuden des zweiten Ranges, und versucht alle inneren Zustände auf ein objektives neuronales Feuerwerk zu reduzieren. Mythischer Fundamentalismus (blau) ist meistens empört gegenüber allen Bestrebungen, welche die gegebene Ordnung in Frage stellen. Egozentrik (rot) ignoriert den zweiten Rang überhaupt. Magie (purpur) belegt ihn mit einem Fluch. Grün wirft dem zweiten-Rang Bewusstsein vor, dass es autoritär, starr hierarchisch, patriarchalisch, ausgrenzend, unterdrückend, rassistisch und sexistisch ist.
Grün hat die kulturellen Studien der vergangenen drei Jahrzehnte bestimmt. Sie haben wahrscheinlich schon einige der Standardschlagwörter des grünen Mem wiedererkannt: Pluralismus, Relativismus, Vielfalt, Multikulturalismus, Dekonstruktion, Anti-Hierarchie, und so weiter.
Auf der einen Seite hat der grüne pluralistische Relativismus den Bereich der kulturellen Studien bereichernd erweitert, und so viele Menschen, Ideen und Darstellungen mit berücksichtigt, die vorher vernachlässigt worden waren. Soziale Unausgewogenheiten wurden einfühlsam und fürsorglich ausgeglichen, im Bemühen, jede Art von Ausgrenzung zu vermeiden. Pluralistischer Relativismus war verantwortlich für grundlegende Initiativen wie die Bürgerrechte und den Schutz der Umwelt. Er hat starke und oft auch überzeugende Kritiken der Philosophien, der Metaphysik, und der sozialen Praktiken der konventionellen religiösen (blau) und wissenschaftlichen (orange) Mem entwickelt, mit ihren oftmals ausschließenden, patriarchalen, sexistischen und kolonialistischen Programmen.
Auf der anderen Seite, so effektiv diese Kritik an den prä-grünen Stufen auch waren, hat grün doch versucht, seine Kanonen auf alle post-grünen Stufen zu richten, mit äußerst unglücklichen Ergebnissen. Dies hat es sehr schwierig, und oft unmöglich für grün gemacht, zu mehr holistischen, integralen Modellen voranzuschreiten.
Weil der pluralistische Relativismus (grün) über den mythischen Absolutismus (blau) und die formale Rationalität (orange) hinausgeht, zu reichhaltigen Strukturen individualistischer Kontexte, ist eines seiner definierenden Charakteristika sein starker Subjektivismus. Das bedeutet, dass seine Zustimmung zu dem, was wahr und gut ist, überwiegend von individueller Neigung bestimmt wird, (solange das Individuum nicht andere verletzt). Was wahr für Dich ist, ist nicht notwendigerweise wahr für mich; was richtig ist, ist einfach das, worüber Individuen oder Kulturen zu einem gegebenen Moment übereinstimmen; es gibt keinen universellen Anspruch für Wissen oder Wahrheit; jeder Mensch ist frei, seine eigenen Werte zu finden, welche niemanden anderen auf irgendeine Weise binden. "Du machst Dein Ding, ich mache meines" ist eine populäre Zusammenfassung dieses Standpunktes.
Dies ist der Grund, warum das Selbst auf dieser Stufe ein wirklich "sensitives Selbst" ist. Genau deshalb weil es sich der vielen verschiedenen Kontexte und verschiedenen Typen von Wahrheiten (Pluralismus) bewusst ist, lehnt es sich zurück und lässt jede Wahrheit ihre eigene Aussage haben, ohne eine zu vernachlässigen oder herabzusetzen.
Wie auch bei den Schlagworten "Anti-Hierarchie," "Pluralismus", Relativismus", und Egalitarismus", wann immer Sie den Ausdruck "Randgruppe" und eine Kritik an Ausgrenzung hören, befinden Sie sich fast immer in der Gegenwart eines grünen Mem.
Dieser noble Ansatz hat natürlich auch seine Nachteile. Besprechungen, die nach grünen Prinzipien ablaufen, haben oftmals die gleiche Tendenz: jeder kann seine Gefühle ausdrücken, was oft Stunden dauert; es gibt ein fast endloses Abfolge von Meinungen, oftmals ohne zu einer Entscheidung zu kommen oder zu Aktionen, weil eine bestimmte Aktionsfestlegung wahrscheinlich jemanden ausschließen würde. Deswegen wird immer wieder zu Einschluss, Nichtvernachlässigung und mitfühlender Akzeptanz aller Ansichten aufgerufen, doch wie genau das getan werden kann, wird selten ausgesprochen, weil in der Wirklichkeit nicht alle Ansichten von gleichem Nutzen sind. Die Besprechung gilt als Erfolg, nicht wenn ein Beschluss gefunden wird, sondern wenn jeder die Gelegenheit hatte, seine Gefühle mitzuteilen. Da keine Ansicht von Natur aus besser ist als eine andere, werden keine konkreten Ziele und Aktionen verfolgt, außer dass alle Ansichten mitgeteilt werden. Wenn irgendwelche Aussagen mit Bestimmtheit getroffen werden, dann jene, wie unterdrückend und scheußlich jegliches andere Konzept ist. Es gab einen typischen Spruch in den Sechzigern: "Freiheit ist eine endlose Besprechung". Nun, das Endlose daran war sicherlich richtig.
In der akademischen Welt ist dieser pluralistisch Relativismus die vorherrschende Haltung. Colin McGuinn fasst es wie folgt zusammen: "Folgt man dieser Konzeption, ist das menschliche Denken von Natur aus lokal, kulturbezogen, verwurzelt in den verschiedenen Fakten der menschlichen Natur und Geschichte, und eine Angelegenheit unterschiedlicher 'Praktiken' und 'Lebensformen' und 'Bezugsrahmen' und 'konzeptueller Projekte'. Es gibt keine Regeln des Denkens, welche dasjenige transzendieren, was von einer Gesellschaft oder Epoche als akzeptiert gilt, keine objektive Rechtfertigung für Überzeugungen, die für jeden gültig wären, vor dem Hintergrund offensichtlicher schmerzhafter Denkfehler. Gültig wird einfach als gültig genommen, und verschiedene Menschen können legitim ganz unterschiedliche Formen dafür haben. Am Ende besteht die einzige Rechtfertigungen für Überzeugungen in einem 'richtig für mich'". Clare Graves formuliert es so: "Dieses System sieht die Welt relativistisch. Das Denken zeigt eine radikale, fast schon zwanghafte Tendenz, alles von einem relativistischen, subjektiven Bezugsrahmen her zu betrachten."
Worum es dabei geht, ist vielleicht offensichtlich: weil der pluralistische Relativismus einen ausgeprägten subjektivistischen Standpunkt darstellt, ister eine leichte Beute für den Narzissmus. Pluralismus wird unbewusst zu einer Heimat für die Kultur des Narzissmus, und Narzissmus ist der große Verleugner von jeder allgemeinen integralen Kultur und jeder T.O.E speziell (weil Narzissmus sich weigert, aus seiner eigenen subjektiven Umlaufbahn herauszutreten, und daher auch keine anderen Wahrheiten duldet als seine eigenen). Daher gehört auf unsere Liste von Hindernissen für eine echte Theorie über Alles [Theory of Everything] auch die Kultur des Narzissmus und die ausschließende Vorherrschaft des grünen Mem..."
Diesem Thema, den Schattenseiten des grünen Mem, hat Ken Wilber ein eigenes Buch gewidmet, einen Roman mit dem Titel Boomeritis.