Sei mutig und bring’ dich ein! Expeditionen in eine Politik der Zukunft
Was bedeutet für dich das Wort „Politik“? Woran krankt das derzeitige politische System und wie könnte ein neues ausschauen? Was ist die Geschichte einer Zukunft, die du erhoffst? Das waren einige der Fragen, die wir im Rahmen des LIFT 3.0-Projektes engagierten und politisch tätigen Menschen stellten und weiter stellen werden. Unsere Erforschungen begann wir bei Mitgliedern des LIFT-Teams aus Deutschland und der Schweiz sowie einem jungen politisch aktiven Studenten in Österreich. So entstand ein erstes buntes Bild mit Perspektiven aus dem DACH-Raum, die hier auszugsweise nachzulesen sind.
Als Essenz könnte formuliert werden: Die Politik der Zukunft gehört jenen, die Verantwortung für Natur und Umwelt übernehmen, die dem Menschen Priorität vor der Wirtschaft einräumen, die sich aufeinander einlassen und den MitbürgerInnen zuhören können, die mit Komplexität umgehen können, die dem Leben dienen. Gefragt sind Räume zur Ko-Kreation und Kooperation, wo im Dialog Neues erdacht und ausprobiert werden kann, ohne Lösungszwang, wo leise Töne ebenso erlaubt sind wie Streit und Weisheit in der Verlangsamung entdeckt werden könnte. Jede/r Einzelne ist aufgefordert, sich selbstverantwortlich und mutig für eine lebenswerte Gemeinschaft einzubringen und zu engagieren.
Die Interviewpartner/innen
Dr. Bettina Geiken (Interview am 6. und 11. Februar 2020)
Wissenschaftlerin, EU-Projektmanagerin, Beraterin und Moderatorin. Sie ist Mitbegründerin einer Social Architect Community of Practice, Teil des globalen Teams von Selfleaders, Beraterin für Lernen und Entwicklung bei Atolo und Vorstandsmitglied von IFIS, dem Institut für Integrale Studien.
Thomas Rewitzer (Interview am 20. Februar 2020)
Thomas Rewitzer studiert an der Universität Salzburg Geografie mit Fokus auf Umweltthemen und leitet dort das Umweltreferat der Österreichischen Hochschülerschaft. Weiters ist er als Gemeinderat in seiner Heimatgemeinde Grödig tätig.
Klara Sucher (Interview am 28. April 2020)
Begleiterin, Coach und Impulsgeberin, Mitbegründerin des Beratungsunternehmens unlearn, dessen Arbeit auf systemischen, integralen und agilen Prinzipien fußt.
www.unlearn.eu
Katrin Muff Ph.D. (Interview am 19. Mai 2020)
Sustainability innovation, strategy and leadership expert, consultant, writer and speaker. www.katrinmuff.com
Alle Interviews führte Harald Schellander. Er ist Kommunikations- und Unternehmensberater, Business-Coach, Moderator und Autor sowie Mitbegründer und einer der Leiter des Instituts für Zukunftskompetenzen (IFZ), das unter anderem seit 2010 die Tage der Zukunft in Österreich konzipiert und veranstaltet. Das IFZ ist Österreich-Partner des LIFT 3.0-Projektes. Weitere Infos zum IFZ: www.zukunftskompetenzen.at
Hier nun Auszüge aus den Interviews mit Bettina, Thomas, Klara und Katrin. Die Langfassungen der per Zoom aufgezeichneten Interviews können auf der LiFT-Webseite unter Portraits of Pioneers nachgelesen und gehört werden. Das Projekt läuft bis 2022 und mündet in eine Publikation.
Bettina Geiken
Harald: Wie würdest du Politik definieren? Was ist das für dich?
Bettina: Das kommt drauf an, welche Perspektive und welche Weltsicht ich dazu einnehme. Wenn man es sehr eng sieht, dann hat das etwas mit Parteipolitik zu tun, die wir so tagtäglich in den Nachrichten mitbekommen. Dann gibt es auf einer anderen Ebene natürlich auch ganz viele Menschen, die sich zivilgesellschaftlich sehr stark engagieren. Und das ist auch eine Form von Politik, nämlich der Versuch, den eigenen Lebensraum zum Besseren zu gestalten.
Und wenn man das Ganze jetzt noch ein bisschen weiter sieht, dann bin ich damit beschäftigt, all diese Akteure, die auf verschiedenen Ebenen aus verschiedenen Beweggründen und mit verschiedenen Weltsichten unterwegs sind, um die Politik zu beeinflussen und zu gestalten, zusammenzubringen und daraus auch einen Raum zu schaffen für Ko-Kreation. In dem Sinne, dass ich wirklich Raum gebe für die jeweiligen Perspektiven. Aus dieser Menge, auch wenn sie sich widersprechen sollte, kann dann, wenn man ihr dem Raum lässt, wirklich etwas Neues, etwas Innovatives entstehen. In der Regel sind die Lösungen, mit denen die Leute auch dann aus solchen Veranstaltungen gehen, viel zukunftsweisender, regenerativer und eigentlich auch empathischer.
Harald: Woran krankt das derzeitige System am meisten?
Bettina: Es krankt an Fähigkeiten auf verschiedenen Ebenen. Überhaupt erst mal mit sich selbst im Reinen zu sein. Selbstreflexion regelmäßig durchzuführen. Auch Verantwortung zu übernehmen für das, was man im Eigenen so produziert an Projektionen, an Ideen, an Widerständen, die nicht aufgelöst werden. Die Zeit fehlt zur Selbstreflexion, weil diese Fähigkeit nicht trainiert ist, das lernen wir nicht in der Schule, immer noch nicht. Es hat nicht jeder Interesse dafür. Das ist einfach so. Das andere ist, dass jene, die sich gerne in den Mittelpunkt stellen und daraus für ihr Ego auch ganz viel Kraft und Energie beziehen, belohnt werden. Und vielleicht auch noch das männliche Element im Sinne von miteinander kämpfen, der Wunsch nach Macht und Kontrolle. Das ist das, was im Vordergrund steht und die etwas leiseren Töne in der Regel überstrahlt. Und zwar leisere Töne von Menschen, die wirklich Visionen im Sinne von genügend Perspektive haben, um wirklich auch etwas gestalten zu können, ohne alles planen zu wollen. Denn dazu gehört auch die Fähigkeit, es einfach nicht zu wissen, wo es hingeht. Das ist natürlich auch für die meisten Menschen, die diese Bildung nicht bekommen haben, weil es in unserem Bildungssystem auch noch nicht die Priorität hat, genauso relevant. Das bedingt sich irgendwie auch gegenseitig.
Harald: Wie ganz allgemein würdest du dir ein neues politisches System wünschen?
Bettina: Auf jeden Fall sehe ich die Weiterentwicklung auf ganz breiter Basis in der Gesellschaft. Das fängt in der Schule an, von bestimmten Fähigkeiten, von Perspektive einnehmen, seine Aufmerksamkeit lenken können, Selbstreflexion zu schaffen, Empathie zu entwickeln – das wäre wirklich die Persönlichkeitsbildung. Das halte ich für sehr, sehr wichtig. Es gibt ja so wahnsinnig viele Initiativen und das macht ja auch unheimlich viel Mut, wo Menschen miteinander wirklich in ein Gespräch gehen, in einen Dialog. Wo ich zulasse, dass das, was der andere sagt, bei mir etwas verändern darf, ohne dass ich mein Gesicht verliere, weil ich jetzt nicht mehr das denke, was meine Fraktion mir gesagt hat. Mit diesen Fähigkeiten, zuhören zu können, präsent zu sein, authentisch zu sein, komme ich auch automatisch und relativ schnell zu richtig guten Lösungen, die die echte Komplexität abbilden können und nicht nur fokussiert sind auf dieses enge Denken von Interessensgruppen. Und das heißt auch, dass man sich streitet. Das heißt auch, dass man nicht einverstanden ist. Es ist nicht Friede, Freude, Eierkuchen. Es sind wirklich Prozesse. Aber wenn ich erlauben kann, dass das, was ein anderer sagt, mich innerlich verändern darf, dann sind wir einen Schritt weiter.
Harald: Erzähle uns bitte eine Geschichte über eine Zukunft, die du erhoffst.
Bettina: Das ist eine Zukunft, die ich schon hin und wieder in kleinen Dosen erlebe. Regenerativ auf jeden Fall. Der Gedanke des Lebens-Dienlichen ist im Bewusstsein der meisten Menschen und in vielen Gesellschaften angekommen, wobei man nicht vergessen darf, dass es alle Wertesysteme und Entwicklungsstufen immer wieder repräsentiert wird auf der Erde. Es ist die Frage: Welches sind die Hauptattraktoren, die sich in unseren Gesellschaften und unseren Köpfen befinden? Da tut sich auch schon sehr viel, da hatte sich auch schon in den letzten zehn Jahren wahnsinnig viel geändert. Wenn ich überlege – Mindfulness oder Meditation vor zehn Jahren war immer noch belächelt und ist jetzt voll angekommen in der Mitte der Gesellschaft. Es gibt unsäglich viele Studien dazu.
Das heißt, lebensdienlich wäre für mich ein ganz wichtiger Punkt. Offen, authentisch, der Umgang miteinander. Empathisch die Perspektive des anderen einnehmen zu können, ohne sein eigenes Gestaltungskraft dadurch einzubüßen. Kein symbiotisches „Wir lieben euch alle“, sondern eine Klarheit von dem, was ich bin, was du bist. Ein ganz klares Gefühl von. Dass man lebensdienlich ko-kreieren kann mit anderen. Wenig Energie, da irgendwelche Machtspielchen zu verschwenden. Es ist einfach rausgeschmissene Lebenszeit. Was die Lebensumstände angeht: viel ökologischer, regenerativer, zirkulärer, lösungsorientierter. Dem Menschen dienend, dem Sein und dem Tun des Menschen dienend. Und wo auch Innovationen sich schnell manifestieren können. Wenn man ein paar Leute in Raum setzt, die gut gemeinsam etwas entwickeln, ko-kreieren können, heißt, jeder ist in der Lage, Informationen vom anderen wirklich aufzunehmen sich verändern zu lassen, darauf einzuspielen, sich stimulieren zu lassen, neue Ideen zu entwickeln. Wir können jetzt schon im Grunde genommen alle Probleme der Welt lösen. Rein technisch wäre alles möglich. Und das Ganze noch einmal zu transformieren auf ein Level, wo wir auch im Umgang miteinander, im Management des eigenen Bewusstseins, viel weiter kommen, dann kommen wir automatisch zu einer lebensdienlichen Haltung.
Wenn ich meine Schwierigkeiten, Schattenanteile, Widerstände anschauen und integrieren kann und dabei Hilfe der Gemeinschaft habe, die mich da auch unterstützt. Ich erlebe das auch hin und wieder, zum Beispiel in der Community of Practice der Social Architects. Das sind anderthalb Stunden online einmal im Monat und dort ist genau dieser Raum. Es ist immer absolut faszinierend. Meistens wird die Session durch zwei Leute gehostet, die so ganz grob darüber nachdenken, was vielleicht Thema sein könnte. Man erforscht mal eine Methode, mal macht man Interviews. Am Anfang denkt man: Aber das geht doch nirgendwo hin. Und in der letzten halben Stunde fliegen die sich gegenseitig aufbauenden Ideen und Inspirationen nur so durch den Äther. Das baut unglaublich auf. Das Herz darf und kann offen sein, es ist ein großes Vertrauen da.
Man kann sich zeigen, man kann verletzlich sein.
Harald: Wozu würdest du die Leser einladen?
Bettina: Ich würde sie einladen, traut euch alles zu tun, um die Intuition zu entwickeln und ihr zu vertrauen. In dem Moment, wo ich meiner Intuition vertrauen kann, kann ich entspannen, weil ich weiß, dass alles, was ich brauche, zu mir kommt. Ich erlebe tagtäglich, dass die Menge an Synchronizität zunimmt. Das ist für mich immer ein Indikator, dass ich einfach auf der Welle der Kreation schwimme, surfe. Und dann wird das Leben einerseits viel leichter, viel weniger aufwendig und eigentlich extrem effizient. Das heißt natürlich auch, dass ich eine ganze Menge Zeit an Reflexion brauche. Man kann das also nicht einen ganzen Tag machen, oder? Zumindest war das in meinem Fall nicht möglich. Diese Intuition zu entwickeln, mit Komplexität umgehen zu lernen, das macht einen fit für die Zukunft und auch fit für alle möglichen Veränderungen. Das kann auch manchmal ganz schön schmerzhaft sein, weil man einfach sein Herz öffnet.
Das eine geht leider ohne das andere nicht so gut. Weil man dann vieles spürt, was wirklich nicht gut läuft gerade auf der Erde und im Zwischenmenschlichen. Wenn man sich davon runtergezogen fühlt – Hilfe suchen, Unterstützung suchen, eine Gemeinschaft suchen, die einen nicht noch mehr runterzieht, sondern die einen Raum halten und zuhören kann, die lebensdienliche Schwingungen wieder unterstützen kann. Es gibt tausend Möglichkeiten, es zu tun. Und Vertrauen in sich, dass das Leben letztlich so ist, wie es ist. Dann kommt die Frage: Was ist mit den systemischen und strukturellen Ungleichheiten? Muss man da nicht kämpfen? Ja, aber vielleicht muss man sich nicht total verausgaben, gegen Widerstände ständig anrennen, sich immer wieder neue Widerstände schaffen, an denen man sich abarbeiten kann. Vielleicht gibt es auch Möglichkeiten, eher im subtilen, nicht physischen, das in die Welt zu setzen, was angeblich wichtig ist. Man hat keine Ursache-Wirkungsprinzip, das kann man da leider nicht anwenden. Jeder Tag, an dem du glücklich bist, ist ein Geschenk für die Menschheit. Deine Ausstrahlung, dein positiver Input machen etwas. Siehe zu, dass du die Skills kriegst. Mittlerweile gibt es so viele Kurse und Möglichkeiten, für einen kleinen Geldbeutel, für den großen Geldbeutel. Wer da anfangen möchte – es ist alles da. Für jeden Topf gibt's einen Deckel. Diese Fähigkeiten zu entwickeln, mit dem eigenen Bewusstsein kreativ und inspirierend umzugehen, ist einfach Goldes wert.
Thomas Rewitzer
Harald: Was bedeutet für dich Politik?
Thomas: Inklusion als allererstes. Mir ist es wichtig, dass Politik ein Austausch ist, also nicht top down, sondern bottom-up. Und für mich ist es die Möglichkeit, dass man viel lernt. Es ist eine Möglichkeit, dass man sich in vielen verschiedenen Bereichen über die Politik fortbildet. Ob das jetzt im Verkehrsbereich oder im Umweltbereich oder im sozialen Bereich ist. Da gibt es ganz viele Möglichkeiten. Und ich finde, wenn man sich als junger Mensch politisch engagiert, dann hilft es im Leben sehr viel weiter, weil man sehr viel dazu gewinnt. Für mich ist Politik Fortbildung und Beteiligung.
Harald: Kannst du beschreiben, was für dich die Grundlagen des politischen Systems sind, indem du dich gerade befindest?
Thomas: Ich engagiere mich in verschiedenen Bereichen. Ich studiere an der Universität Salzburg und bin dort in Salzburg in verschiedenen Bereichen aktiv.
Ich bin aktuell im Umweltreferat der Österreichischen Hochschülerschaft (ÖH). Das heißt, ich kümmere mich um alle möglichen Themen, die Studierende betreffen. Und ich bin in meiner Heimatgemeinde in Grödig tätig. Diese lokale, kleine Ebene birgt sehr viel Chancen. Dort ist man ja relativ nah am Bürgermeister oder einer Bürgermeisterin. Man geht dorthin und die Person ist direkt ansprechbar. Man muss ja in einer Gemeinde auch weniger Personen überzeugen, damit etwas weitergeht.
Wenn man sich die großen Regionen oder Strukturen der Bundespolitik anschaut, ist es natürlich viel schwieriger, etwas umzusetzen, denn diese Fronten sind viel stärker verhärtet. Es ist angenehm, in so kleinen lokalen Strukturen aktiv zu sein, sich politisch zu engagieren, weil es sehr viel Entfaltungsmöglichkeiten bietet und sehr viel Erfüllung bringt, wenn man direkt etwas für die Gemeinde, für die Gemeinschaft oder die Universität erreicht.
Harald: Was würde denn ein neues politisches System auszeichnen, was braucht es da?
Thomas: Mut. Es muss meiner Meinung der Mut da sein, dass man neue Sachen ausprobiert. Es heißt immer wieder, dass man Sachen nicht ausprobieren kann, weil sie teuer sind, weil sie schwer umzusetzen sind, weil sie keinen Sinn machen. Aber in Wirklichkeit ist einfach vieles noch nicht ausprobiert worden. Wenn man nach Island schaut, da haben sie nach der großen Bankenkrise das ganze politische System umgestellt. Das ganze bis dahin existierende Parteiensystem ist umgedreht worden. Und dann sind von unten herauf neue Ideen gekommen und Menschen haben sich zusammengesetzt, haben gemeinsam in Gruppenarbeiten Thematiken eruiert, Ideen vorgebracht und Lösungen aufgezeigt. Ich denke, es muss eine Inklusion geben, und solange es die nicht gibt, ist es immer sehr hierarchisch und die Kommunikation mit der Bevölkerung ist dann schwer da.
Harald: Wie ist geht es dir als junger Mensch im Gemeinderat? Bist du da der jüngste?
Thomas: Ich war, glaube ich, lange mit jemanden anderen der Jüngste und natürlich in der Grünen-Fraktion, und da war man nur zu zweit. Das heißt, von insgesamt 25 Personen in dem Raum sind halt zwei Grüne und ganz viel Schwarze, Rote und Blaue. Wenn man nur zu zweit ist, dann ist das natürlich schon schwieriger, als wenn man in einer großen Fraktion ist, wo jede Person ihr eigenes Thema hat. Das ist schon etwas, wo ich mich persönlich sehr viel weiter entwickelt habe, weil ich gemerkt habe: Okay, ich bin jetzt fast auf mich alleine gestellt. Ich bin für drei Ausschlüsse zuständig, den Sozialausschuss, den Umweltausschuss und den Bauausschuss und jetzt muss ich da mitreden. Wenn man dann im Bauausschuss ist und da wird ein Bauvorhaben diskutiert, da muss man Vokabeln wie Firsthöhe kennen. Einen Bebauungsplan muss man auch verstehen. Das war sehr viel Zeit, die ich investieren musste, dass ich auf einem Level war, um mitreden zu können. Man muss dann natürlich auch sachlich argumentieren können. Da habe ich sehr viel gelernt, und das hat mich sehr viel weiter gebracht. Das ist natürlich nicht immer einfach als junger Mensch. Ich bin froh, dass in Grödig der Umgang sehr gut war. Ich konnte jederzeit fragen, wenn ich etwas nicht gewusst habe, es ist mir immer erklärt worden. Das war sehr angenehm, aber man muss schon eine gewisse Zeit für einen Lerneffekt investieren. Ich kann es jungen Menschen auf jeden Fall empfehlen, dass man sich engagiert, weil schaden tut es nicht.
Harald: Wie ist deine Erfahrung: Wann passiert Veränderung, was braucht es dafür, was ist dein Erleben?
Thomas: Da darf man die Rolle von Einzelpersonen nicht unterschätzen. Die Klimakrise ist ja nicht seit den zwei Jahren, seit es Fridays for Future gibt, im Kopf der Menschen drinnen und so dominant. Schon 2005 hat jeder und jede gewusst, dass die Klimakrise ein Fakt ist und dass sie voranschreitet. Es war im Hinterkopf der Leute und irgendwann ist halt eine junge Frau hergegangen, hat sich vor ihre Schule gesetzt und einen Klimastreik begonnen. Ein paar Monate später hat das eine globale Bewegung mit Millionen von jungen und älteren Menschen ausgelöst, die dann alle dafür aufgestanden sind. Das ist jedenfalls ein Beispiel, wie eine Person wie Greta Thunberg für etwas, was für viele Menschen im Hinterkopf ruht, auf einmal ein Ventil gibt.
Harald: Wenn du mir eine Geschichte erzählen könntest über die Zukunft, die du erhoffst: Wie würde diese Geschichte lauten?
Thomas: Was ich mir erhoffe, ist, dass wir für zukünftige Generationen eine Möglichkeit finden, den Schaden zu begrenzen und in ein paar Generationen gesagt wird: Okay, es war ein dunkles Zeitalter in der Erdgeschichte und in der menschlichen Geschichte. Aber diese Krise ist so weit abgeschwächt worden, dass wir jetzt reparieren können. Das ist eine Vision, ein Wunsch, den ich an die Zukunft habe, dass in wenigen Jahrzehnten mit dem Wiederaufbau begonnen werden kann und es ökologische und soziale Reformen gibt und die Welt insgesamt besser ausschaut und einen Weg bergauf ins Positive schafft. Ich denke, das ist auf jeden Fall möglich. Ich sehe das nicht dystopisch, dass in 30 Jahren die Welt kaputt ist, sondern ich sehe es so, dass wir jetzt am Tiefpunkt ankommen, aber dass wir da wieder herauskommen und wir dann wieder eine positive Richtung als gesamte Menschheit einschlagen. Und meine Vision, um wieder zurückzukommen ist, dass wir es so hinkriegen, dass zukünftige Generationen auch weiterkämpfen können.
Harald: Welche Einladung würdest du an die LeserInnen aussprechen? Was wäre dir wichtig, was andere aus dem, was du gesagt oder erfahren hast, für sich mitnehmen?
Thomas: Auf jeden Fall: Get active, also aktiv werden. Man kann sich noch so stark zu Hause über verschiedene Sachen weiterbilden. Meiner Meinung nach sollte man ins Praktische gehen und sich engagieren, in welcher Institution auch immer, Neues anfangen und einfach einmal machen. Ich denke, dass es für junge Menschen auf jeden Fall in Ordnung ist, auch Fehler zu machen, wenn man was lernt. Fehler zu machen ist sehr wichtig, es muss nicht immer gleich alles funktionieren. Ob man sich bei einem Verein engagiert, ob das politisch ist, ob das irgendwie institutionell anders ist – das ist eigentlich wurscht. Hauptsache, man macht's, und das ist etwas, was man sicher ein Leben lang mitnimmt. Was ich in der Gemeindevertretung Grödig oder auf der Hochschülerschaft jetzt gelernt habe, von dem kann ich sicher ein Leben lang zehren. Wenn man merkt, dass es einem nicht gefãllt, dann kann man ja was anderes probieren. Es gibt ja genug Möglichkeiten, sich im Umweltbereich und auch in anderen Bereichen wie im Sozialen oder im Kulturellen zu engagieren – unendlich viele.
Klara Sucher
Harald: Was bedeutet denn das Wort Politik für dich?
Klara: Das Wort Politik beschreibt für mich das Streben danach, Regelungen zu finden, die das Zusammensein, das Zusammenleben von einer Gruppe in einer Gemeinschaft ordnen und organisieren. Die Regeln basieren immer auf Werten, jede Regel- Entscheidung ist auch eine Werte-Entscheidung. Das heißt, in der Politik geht es für mich darum zu gucken, nach welchen Grundwerten sich eine Gruppe ausrichten möchte und wie sie das in eine Vereinbarung übersetzt.
Harald: Wir würdest du das politische System, in dem du gerade lebst, beschreiben?
Klara: Für mich ist ein Schmerzpunkt der, dass im politischen Raum heute viel auf der Oberfläche gesprochen wird, also über Regeln, über Vereinbarungen, über Entscheidungen, über Mandate und so weiter, und die Essenz nicht genug Raum hat, also das Tiefe, das Weite, das Große. Ich würde da gerne wirklich eine neue Perspektive drin haben, die dort startet, ohne Angst davor zu haben, sofort in einer Schublade zu landen. Weil das ist das Schwierige, wenn ich beim Großen anfange, bei der Essenz – das schließt mehr als eine politische Perspektive ein, wie wir sie heute kennen. Und im politischen Diskurs heute macht mich das angreifbar. Wenn ich etwas Großes, Tiefes in einen Raum bringe, dann hat jeder die Möglichkeit, sich ein Stück herauszuschneiden und zu sagen: Moment mal, das ist aber eine grün karierte Torte. Du bist ja unmöglich. So was wollen wir hier nicht. Und ich glaube, dass das viele davon abhält, sich zu trauen, da wirklich wieder den Kern reinzubringen – die Verschachtelung und Kategorisierungen von großen und schönen Ideen, die dann verstellt und unschön werden. Und gleichzeitig brauchen wir die Kritik und brauchen den Diskurs. Ich sage nicht, dass ich keinen Streit will. Streit im politischen Raum ist ganz wichtig. Aber den wünsche ich mir mit einem Respekt und dem Versuch, das Ganze zu sehen und nicht die Ideen, die eingebracht werden, zu verunstalten und in kleine Teile zu zerstückeln.
Harald: Wie wäre denn so ein politisches System der Zukunft?
Klara: Ich habe keine Vision für ein System, das muss ich ganz ehrlich sagen. Ich habe keine Vision für ein Ganzes. Ich sehe Elemente einer Vision. Für mich ist ein Element die Verlangsamung, weil ich nur begreifen kann, was mein Gegenüber sagt, wenn ich ihm auch einen zeitlichen Raum dafür gebe und mir den zeitlichen Raum nehme, das zu verstehen. Ein Element Verlangsamung, das sehe ich. Nicht unbedingt flächendeckend, nicht in jedem, nicht auf jeder Ebene, aber das braucht Platz. Die Langsamkeit braucht Platz.
Und dann gibt es was, das beinhaltet den Versuch, den Willen, den Wunsch, etwas wirklich zu verstehen. Also nicht eine Idee oder einen Vorschlag zu hören und sofort zu benutzen auf irgendeine Art, sondern diesen Impuls, der kommt, zu verstehen, auch von verschiedenen Seiten zu betrachten. Also ganz bildlich gesprochen: Wenn mir jemand etwas gibt, dann sehe ich erst mal den Gegenstand oder was auch immer ich da bekomme, aus meiner Perspektive. Ich glaube, die neue Politik braucht eine Art Gewohnheit oder einen Prozess, ein Ritual, das mich ganz automatisch dahin bringt, eine Runde zu drehen. Damit kann ich verstehen, was sich hinter und unter diesem Gegenstand, dieser Idee, die ich präsentiert bekomme, verbirgt und dann kann ich viel verantwortungsvoller mit dieser Idee, mit diesem Vorschlag umgehen. Für solche Verfahren kann man durchaus auch Prozesse oder Rituale entwickeln. Das ist mehr als nur eine innere Haltung. Das fängt an mit einer inneren Haltung und der Bereitschaft, sich eine Idee, einen Vorschlag wirklich anzuschauen, anzueignen. Aber ich glaube, das kann auch übersetzt werden in Prozesse.
Harald: Glaubst du, kann eine allgemeine kollektive Betroffenheit, die wir jetzt gerade erleben, auch dazu führen, dass mehr Menschen die Initiative ergreifen und für etwas einstehen? Ist das ein Momentum, das sich da jetzt gerade zeigt?
Klara: Was ich jetzt erlebe, ist, dass Menschen bereit sind, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen und Ideen einzubringen. Wir werden alle gleichzeitig mit diesem Riesenproblem, mit der Krise, mit Herausforderungen konfrontiert. Und ich nehme auch wahr, dass ganz viele Menschen die Einladung annehmen und ihre Antwort geben auf das, was gerade passiert. Ich finde es wunderschön, dass gerade diese Initiativen in der Berichterstattung viel Raum bekommen, auch auf den privaten Social-Media-Kanälen. Jeder einzelne entscheidet, was teile ich denn. Erzähle ich meinen Freunden von den Initiativen, von denen ich gehört habe, oder erzähle ich ihnen nur darüber, was nicht funktioniert. Das ist ja auch eine interessante Entscheidung, worüber wir dann gemeinsam sprechen. Wollen wir uns über die Dinge austauschen, die funktionieren, und über Menschen sprechen, die Verantwortung übernehmen oder das Gegenteil? Darüber freue ich mich, dass es da eine neue Balance zu geben scheint in der Art und Weise, wie wir uns austauschen, Neuigkeiten austauschen miteinander, dass Auswahl und Entscheidung wieder im Fokus stehen.
Harald: Können viele kleine Gruppen auch im Großen etwas bewegen?
Klara: Jede Gruppe hat einen Strahlkreis von Menschen, die indirekt oder direkt diese Veränderung spüren. Durch die Vernetzung von Gruppen und das Lernen, was funktioniert, können einfach neue Ideen, das ist meine Hoffnung, für die größere Dimensionen entwickelt werden. Wenn vieles gut funktioniert auf einer Gruppenebene, können wir dann eben auch Ideen entwickeln, die für die Gesellschaft wieder in größeren Kontexten funktionieren. Aber es geht ja auch um andere Dinge, um all das, was es eben braucht, damit Politik anders funktionieren kann, um daraus zu lernen.
Harald: Bitte beschreibe mir eine Zukunft, die du dir wünschst.
Klara: Ich wünsche mir eine Zukunft, so komme ich auch wieder zur Politik zurück, in der Menschen Politik als sinnstiftend empfinden. Das ist gerade mein größter Schmerzpunkt, dass Menschen, die wirklich Sachen verändern wollen, sagen: Aber das mache ich nicht in der Politik! Ich sehe eine Zukunft, in der Politik sinnstiftend ist und in der Menschen, die nach Sinn suchen, sich dort einbringen und sagen: Da ist Platz für das Echte und das Wesentliche. Das ist als Bild gerade für mich so groß, da muss ich erst einmal dabei bleiben.
Harald: Was muss sich da genau verändern, damit es sinnstiftend sein kann?
Klara: Ich glaube, es braucht vor allem den Raum für ein Gespräch, in dem Menschen sich zuhören wollen. Da würde ich vielleicht sogar sagen: Weg von dem Trend zu schnellen Entscheidungen. Viele Dinge an der agilen Arbeitswelt finde ich gut, weil man nicht so lange auf dem Problem sitzt, sondern einfach lösungsorientiert arbeitet. Ich glaube aber auch, Lösungsorientierung hat ihre Grenzen. Auch in der Politik muss man sich nicht immer sofort auf Lösungen konzentrieren und Lösungen entwickeln, sondern es braucht vorher einen Raum, in dem Inhalte, in dem Wesentliches, in dem Ideen geteilt werden können. Das heißt als weiteres Puzzleteil zu dem, was wir schon hatten, zur Langsamkeit und zu Verletzlichkeit, kommt für mich wirklich Raum für das Gespräch mit der Freiheit, noch keine Lösungen daraus produzieren zu müssen. Ein Gespräch erstmal um des Verstehens willen, bevor wir das Gespräch dann für die Lösungsfindung instrumentalisieren. Zuerst ist das Verstehen, der Sinn und Zweck und danach können wir über Lösungen nachdenken.
Harald: Wenn Menschen diesen Text lesen werden: Wozu möchtest du sie zum Abschluss einladen?
Klara: Ich möchte einladen zum Zuhören. Wenn jemand etwas sagt, eine Idee hat, die mir ganz abstrus und schockierend erscheint, die ich nicht verstehe, die ich zu klein finde oder zu groß oder zu rund oder eckig – dann möchte ich zur Neugier einladen und zum Erkunden und einladen, einmal eine Runde zu drehen, um diese Idee und diesen Vorschlag von allen Seiten anzugucken. Ja, und dann ins Gespräch zu gehen und zu antworten. Wenn die Idee dann immer noch ganz absurd und schrecklich erscheint, dann ist das genau die Antwort, die sie vielleicht herausgefordert hat, dann ist das die Antwort, die ich gebe. Aber vielleicht entdecke ich auch überraschende und schöne Seiten daran.
Katrin Muff
Harald: Was verstehst du unter dem Begriff Politik?
Katrin: Für mich ist die Politik der Prozess, wie sich die Bürger in Prozesse, die die Gesellschaft betreffen, einbeziehen und gemeinsam Entscheidungen im Interesse der Gesellschaft und sich selber finden.
Harald: Wo hast du deine Bezugspunkte zur Politik? Wie bist du politisch sozialisiert worden?
Katrin: Sozialisiert wurde ich in einem Haushalt wo über politische Themen von einer grünen Mutter und einem konservativen Vater gestritten wurde. In der Schweiz haben wir eine Kultur, wo alle drei Monate nationale Abstimmungen vom Volk vorgenommen werden. Wir hatten da die Möglichkeit, alle drei Monate über drei sehr verschiedene Themen uns die Köpfe heiß zu reden. Das war sehr spannend, weil wir so fundamental andere worldviews und mindsets zu Hause hatten. Ich kann mich erinnern, dass in den meisten Fällen die Stimme meiner Mutter jene meines Vaters aufhob. Das war so meine Erfahrung der Demokratie in den jungen Jahren.
Harald: Was hat das mit dir gemacht? Wie hast du dann deine Entscheidungen getroffen?
Katrin: Es hat mir geholfen, die verschiedenen Perspektiven von früher zu verstehen und mich dafür zu interessieren. Ich habe mich sehr für die verschiedenen Entwicklungsstufen von Menschen und für Gesellschaften interessiert. Ich kam dann schnell in Berührung mit dem ganzen Gedankengut der integralen Entwicklung rund um Ken Wilber und habe dann auch lange Zeit bei der Entwicklung und Gründung der Bewegung und politischen Partei der Integralen Politik in der Schweiz mitgewirkt. Das war schon ein politisches Engagement über einige Jahre hinweg, wo ich aktiv war. Seit einigen Jahren kann ich es mir zeitlich nicht mehr erlauben. Ich würde mal so sagen, dass ich fünf bis zehn Jahre doch ziemlich aktiv von der Gründung weg dabei war.
Harald: Wie war damals die Schweiz? Was war der Impuls, das zu gründen? Und wie ist es euch gegangen in der ersten Phase?
Katrin: Ich empfinde die Schweiz politisch gesehen als relativ stabil, natürlich gibt es Schwankungen nach rechts und links. Bei uns ist die rechte Welle schon wieder ziemlich hinter uns. Die rechte Volkspartei wurde mal zur größten Partei in der Schweiz, wahrscheinlich ungefähr in der Zeit. Ich weiß nicht, inwiefern mich das beeinflusst hatte. Da gab es einige unschöne Abstimmungskampagnen mit sehr verkürzten Argumenten. Für mich bestand die Motivation, dabeizusein darin, dass ich mir eigentlich immer eine Politik wünschte, die es ermöglicht, dass die Wirtschaft der Gesellschaft dient und nicht umgekehrt. Ich habe oft das Gefühl, dass der Mensch der Wirtschaft zuschaufelt und nicht unbedingt umgekehrt. Da kam ich aus der Wirtschaftsecke und habe auch ein Positionspapier entwickelt, wie Wirtschaft und Gesellschaft der Zukunft aussehen könnten. Das waren meine strategischen Beiträge dazu im Erdenken und Erarbeiten von Rahmenbedingungen.
Harald: Und wenn du an die Verarbeitung dieser Rahmenbedingungen denkst? Wie weit ist denn das gelungen?
Katrin: Kaum bis überhaupt nicht. Ich glaube, das sind so weitgreifende, utopische Maßnahmen, die wir uns vorgenommen hatten, die kaum umsetzbar in einer demokratischen mehrheitsbedingten Gesellschaft sind. Es war uns viel wichtiger, diese Utopie zu erdenken. Denn wenn man sie nicht erdenkt, kann sie nicht kommen. In der Neustartphase nach Corona gibt es wieder vermehrt Diskussionen über den Wert der Wirtschaft und der Gesellschaft, wie das aussehen sollte, welche Wirtschaftsmaßnahmen man unterstützen sollte und wie sie einer nachhaltigen, gerechten Wirtschaft dienen sollten. Die Themen kommen wieder – ob es die Umverteilung, das Grundeinkommen, andere Steuerbelastungen sind. Über das Grundeinkommen hatten wir in der Schweiz einmal abgestimmt, das hatte keine Mehrheitsfähigkeit. Aber das ist eigentlich unwichtig, weil der Dialog in der Gesellschaft schon einmal von großer Wichtigkeit ist. In Spanien wird das Grundeinkommen jetzt eingeführt, wenn ich richtig informiert bin. Wenn man so schaut, was für Arbeitslosenzahlen die Corona-Krise ans Licht bringt, dann kommen wir darum hoffentlich weltweit nicht herum, das BGE einzuführen. Es ist wahrscheinlich auch illusorisch, utopisch. Aber vielleicht doch weniger denn je.
Harald: Kannst du einmal kurz das politische System der Schweiz beschreiben, wie es sich zurzeit darstellt.
Katrin: Da bin ich nicht die Expertin. Das ist wirklich ein komplexes System. Das Prinzip der Schweizer Demokratie ist so aufgebaut, dass möglichst alles so weit wie möglich dezentral delegiert wird. Es wird also nur national entschieden, was nicht regional entschieden werden kann, und nur regional entschieden, was nicht lokal entschieden werden kann. Das heißt, dass ganz viele Sachen, die in vielen anderen Ländern national laufen, ob das jetzt Polizeiwesen, Spital oder Bildung ist, bei uns alles regional laufen. Obwohl wir ein kleines Land mit 8 Millionen Leuten sind, haben wir beispielsweise 26 verschiedene Bildungssysteme, mit allen Problemen und Herausforderungen, die das mit sich bringt. Es läuft sehr viel auf lokalem Niveau. Das Schöne daran ist, dass in den Gemeinderäten, die eigentlich sehr viel Macht haben, weil sie sehr viel entscheiden, circa die Hälfte der Leute parteilos sind. Da sind viele Leute dabei, die sich wirklich für die Sache einsetzen und wo dann sehr pragmatisch und sehr sachbezogen politisiert wird. Dann gibt es die Möglichkeit, die jeder Bürger hat, über Initiativen, das sind 5000 Unterschriften, jegliche Gesetzesänderung, die du möchtest, zur Abstimmung zu bringen. Das muss gesetzlich innerhalb von zwei Jahren zur Abstimmung kommen. So hast du als Bürger ein großes Mit- und Einspracherecht.
Die vierteljährlichen Abstimmungen, die sind schon sehr prägend für ein Volk. Die Abstimmungssonntage sind legendär. Das lustige für mich ist, was Ausländer oft berichten: Die sind erstaunt, wenn das Resultat am Sonntagabend bekannt gegeben wird und wenn das 49,9 zu 50,1 Prozent lautet, dass das am Montag diskussionslos akzeptiert wird – weil jeder weiß, wenn er nicht einverstanden ist, muss er einfach genügend Unterschriften sammeln, dann kann in einer veränderten Vorlage wieder diskutiert werden. Es gibt also eine extrem hohe Akzeptanz von Abstimmung. Ich finde es immer noch schwierig, über die eigenen Gepflogenheiten zu berichten, ich glaube, die machen am meisten Sinn im Vergleich mit anderen Systemen.
Harald: Hast du diesen Vergleich mit anderen Systemen schon gemacht?
Katrin: Nur inwiefern ich mit den anderen Systemen wie Russland und Amerika gelebt habe, wo es einen Präsidenten gibt, der wirklich Macht hat, was bei uns überhaupt nicht der Fall ist. Wir haben einen jährlich rotierenden Präsidenten, der außer repräsentierende Funktionen keine andere weitere Macht hat als die anderen sieben Minister, mit denen er regiert. Wenn verschiedene Parteimitglieder in die Regierung gewählt werden. geschieht das nach einem vorgegebenen System, die sogenannte Zauberformel, wo verschiedene Parteien gemäß der Repräsentation in der Gesellschaft mit sieben Sitzen vertreten sind. Wenn sie dann gewählt werden, wird eigentlich von ihnen verlangt, dass sie ihre parteiliche Zugehörigkeit hinter sich lassen und wenn sie die Entscheidung gefasst haben, unisono hinter dieser Entscheidung stehen. Ob sie jetzt wirklich persönlich dieser Meinung sind oder nicht, damit haben sie dann umzugehen. Das sind wenige Ausnahmen, wo das nicht gelingt, und das wird dann sehr gerügt.
Harald: Was ist die Geschichte einer guten Zukunft, die du erhoffst?
Katrin: Eine Gesellschaft, wo die Wirtschaft der Gesellschaft dient, eine Gesellschaft, wo der Mensch anständig drin leben kann, wo ihm die Daten gehören, die ihn betreffen. Wo ganz klar ist, dass weltweit und überall und jederzeit wirtschaftliche Gedanken nicht die menschlichen Prioritäten übertrumpfen dürfen. Eine Gesellschaft, wo die Diskrepanz zwischen viel Vermögen und wenig Besitz viel ausgeglichener ist als heute. Wo auch der Bürger eine Verantwortung übernimmt und selber sein höchstes Potential anstreben möge, dass der Bürger nicht nur Rechte sondern auch Pflichten hat, nämlich die der persönlichen Verwirklichung. Da gib es sicherlich die Idee, dass Vergehen gegen die Natur gleich geahndet würde wie Vergehen gegen die Menschheit, dass es einen Ecozid gibt wie es einen Genozid gibt, denn man vor einen Gerichtshof bringen kann. Ich würde hoffen, dass man Entscheidungen trifft, in denen man sowohl die heutige Generation in Betracht zieht, wie auch die nächsten sieben Generationen. Wie man das macht, ist wieder etwas anderes. Ja, eine ruhige, eine langsame, eine Gesellschaft, die weniger dem Materiellen nachrennt und das Glück wieder neu definiert für sich.
Harald: Was würdest du denn jenen, die das jetzt lesen, als Schlusspunkt mitgeben wollen? Welche Einladung für die Zukunft möchtest du aussprechen?
Katrin: Meine Einladung für die Zukunft wäre es zu wagen, sich mehr einzubringen in das, was einen betrifft. Vielleicht lokal, vor Ort, in der Nachbarschaft – wenn das eigene Dorf oder die eigene Stadt zu groß ist, dann in der eigenen Straße, dass man dort schaut, was man eigentlich machen könnte für eine lebenswertere Gemeinschaft. Und dass man sich über die positive Überraschung im Kleinen freuen würde, wenn man sich unter Nachbarn den Rasenmäher oder das Buch teilt oder gemeinsam Essensreste-Abende macht. Einfach mal sehen, wer um einen herum eigentlich lebt. Das wäre eine Einladung zum Entdecken der Vielfalt ganz in der Nähe, wo wir eigentlich leben.
Eine visuelles Resümé
Hintergrund zur Word-Cloud
In dieser Zeichnung hat der Autor (Harald Schellander) die wichtigsten Begriffe zusammengefasst, die von den vier Interviewpartner/innen zu bestimmten Themenkreisen benutzt wurden.
Die Schwerpunkte folgen weitgehend den Interview-Ausschnitten. Die farbige Umrahmung der Wolken ergab sich erst, als alle Begriffe aufgeschrieben waren. Manche Bereiche haben auch ein Eigenleben entwickelt, wie die rote Wolke links oben, wo plötzlich die Begriffe „Mut“ und „Räume“ herauszuleuchten begannen. Dass nichts für sich alleine steht und alles einander bedingt, wird durch die Verbindungsstriche und „Anschmiegungen“ einzelner Wolkenteile dargestellt. Die erwünschte „Zukunft“ in Orange ist überhaupt offen für die „Einladungen“ in Grün, wo die Interviewpartner/innen die Lesenden des Artikels ermutigen, sich selbst aktiv in der Gestaltung des eigenen Lebensraumes einzubringen. „Das Kranke am System“ erhält durch die Platzierung in der Mitte des Bildes genügend Aufmerksamkeit, doch die mächtigen Mut- und Zukunfts-Wolken weisen bereits in eine neue Richtung … Rechts oben bleibt noch Raum für ein Fragezeichen – auch als Aufforderung, die eigenen Antworten auf die gestellten Fragen zu finden. Die Öffnung dort weist über diese Zeichnung, über den Moment, in dem sie entstand und über diese Interpretation hinaus.
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