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von Kaisan Daniela Borschel

Das Hauptelement von Ikebana ist nicht die Blume,
sondern der GEIST, sie – die Blume – zum Leben zu erwecken.

Sofu Teshigahara

In diesem Beitrag zeige ich auf, wie ausgewählte ästhetische Prinzipien der japanischen Kultur mir die Augen geöffnet und das Herz geweitet haben, wie meine beständige Übung als Schülerin, Lehrerin und Meisterin des Ikebana in Form des Blumenweges, kado, wertvoll in sich ist. Wie die Praxis mit diesen Prinzipien eher westliche Zugänge einer integralen Lebenspraxis oder eines kontemplativen Weges sinnvoll ergänzen kann und allen offen steht, die sich einzulassen bereit sind. Dieses Essai möchte bewusst keine detaillierte Analyse der Prinzipien sein. Es belässt es bei einzelnen Beispielen zu ausgewählten ästhetischen japanischen Leitlinien aus mehreren. Ich wage mich, im Bewusstsein zu schreiben, dass meine kulturellen Prägungen so anderen ästhetische Prinzipen gehorchen möchten und ich daher immer wieder die Perspektiven zu schauen habe. Meine Wahl fiel auf eine poetische Sprache, anstatt einer von integralen Begriffen gespickten Sprache, um das Blumenherz, hana-no-kokoro, das religiös-zeremonielle des Ikebana, zu betonen. Was fällt heraus, was klingt an, wo geht es hin?

Borschel kado ikebana kirschbluetenfest 2012 foto peter baumann

Ayako Graefe, beschreibt kado in einem Dreiklang als Schulung des Sehens, Formung des Verhaltens und Bildung der Seele. (2010, S. 76-84). Die Schulung des Sehens bedeutet, das den ästhetischen Begriffen Japans innewohnende Schönheitsideal zu erkennen und zu durchdringen. Die Formung des Verhaltens meint die Erziehung zu angemessenem Verhalten gegenüber Wesenheiten, wie Pflanzen und Menschen. Die Bildung der Seele, schließlich ist „eine innerliche Schulung … Die letzte Vertiefung … (Sie) besteht in der Bildung der Seele und des Gemüts.“

Welche ästhetischen Prinzipien sind Basis für den Blumenweg?

Ma – ein offener Raum der Zeit

Der Begriff ma meint einen negativen Raum oder genauer das Negativ von Raum, einen offenen Raum, eine Leere, die lebendig und bewegt ist. Ma ist eine andere Form von leerem Raum, nicht leblos oder nur wegen der Abwesenheit von etwas existent, nicht minimalistisch leer, sondern potenzgeladen aufgrund von Leerheit.

Um sich dem japanischen Verständnis von ma zu nähern, gilt es, die erfahrbare Gleichzeitigkeit oder Verwobenheit von Zeit und Raum anzunehmen. Die Qualitäten von Zeit in ihrer elementhaften, in Abschnitten erfahrbaren Natur. Auch wenn ma nicht unbedingt Zeit als offensichtlichen Bestandteil benötigt, wird auch Zeit erfahrbar. Wenn Zeit zum Raum hinzutritt, ist der Raum offen in der Zeit, in die Zeit hinein unendlich, offen für das was sich in Zeit und Raum zeigt.

Ikebana ist ein Weg dieses Ma willkommen zu heißen, die Möglichkeit zuzulassen, überrascht und berührt zu werden – als Gestalterin genauso wie als Betrachter. Dem kado ist die ständige Übungspraxis von Ma inhärent. Kado schafft von Anfang an einen Boden für ma, in einer Gleichzeitigkeit von Leere und Potential, von Sein und Werden. Für Ikebana-Anfänger, geprägt von westlicher Ästhetik und dem Wunsch nach künstlerischer Freiheit, ist dies eine Herausforderung der besonderen Art.

Borschel wabi sabi ikebana schale leonie boehnlIn den ersten Jahren der Übung ist die extreme Regelhaftigkeit der gewählten Ikebana-Schule eine Herausforderung für die eigenen Konzepte, zum Beispiel dem Konzept von Freiheit. Es gilt die Begrenzungen zu akzeptieren, diesen stark von Regeln begrenzten Raum vollumfänglich zu nutzen, um ihn dann, mit fortgeschrittener Übung schließlich zu überschreiten. Davon zu lassen, vorher heraus zu springen, also.

Wer in der Gestaltung eines Arrangement ma zulässt, hat für den Moment gipfelhaft oder aufgrund langjähriger Praxis, die Stimmen von Ego, bewertendem Geist, inneren Antreibern usw. gemeistert. Die Stimmen, schlagen nicht mehr durch, wie zuvor. Das Bedürfnis nach einem Anfüllen des leeren Raums, mit zum Beispiel weiteren bereit liegenden schönen Blüten, entsteht nicht mehr. Die Grobheit ins Material einen Leerraum hineinzuschneiden, damit er wirklich sichtbar wird, ist nicht mehr. Die Intention, den Leerraum zu nutzen, um später den Betrachtenden des Arrangements zu etwas, „dem Richtigen“, hinlenken zu wollen, erscheint nicht mehr. Das ist dann, wenn ma volle Kraft entfaltet.

Mono no Aware – Ergriffensein von Vergänglichkeit

Im Sturm des Herbstes
zerbrochen und so traurig
der Maulbeerstrauch dort.

Bashô

Ein nächstes Prinzip ist mono no aware, ein Empathie-Empfinden für Dinghaftes, das Spüren einer vorübergehenden Traurigkeit des Vergehens allen Lebens. Es ist gleichsam ein empfundener Tanz mit dem Entstehen, Wachsen und Sterben, mit dem Prozesshaften, mit Metamorphosen und Übergängen, somit eine Art ergriffen sein oder bewusst sein mit und von Vergänglichkeit, aware.

Im Ikebana beginne ich mit dem Ausschauen und dann Abschneiden von Material, von Zweigen eines Strauchs oder von Blüten einer Pflanze. Die oder der Tötende und das Sterbende wird mir gleichzeitig bewusst erfahrbar. Wenn Schüler berichten, wie sie einen solchen Moment, diese Form von Einheitserfahrung mit Vergänglichkeit, erleben, der diese Gleichzeitigkeit und mehr in sich birgt, ist da ein Nicht-in-Worte-fassen-können. Im Moment und dann mit fortschreitender Übung häufiger ist das intentionale Abschneiden von Lebensfluss mitgefühlter, ertragbarer und bewusster geworden und die Schneide-Impulse sind glasklar. Die Intention kommt nicht (mehr) aus dem Ego. Das Durchschneiden der Kapillaren, durch die die Pflanzennahrung fließt, ist dann gleichzeitig ein Schnitt im Moment, wie eine Möglichkeit unendlicher Möglichkeiten von Lebensausdruck, wie eine Chance für Ent- und Einfaltung von Potentialen. Es gibt mehrere, wiederkehrende Gelegenheiten auf dem Blumenweg, der Übung von mono no aware. Die Gärtner und Künstlerinnen unter Euch werden Analogien aus ihrer Praxis kennen. Kado bedeutet jedoch, in einer Permanenz mit diesem Prinzip zu üben, wie wenige andere, insbesondere westliche Wege der Kunst.

Borschel ikebana arrangement jubilaeumWabi-sabi – eine defekte Schönheit

Wabi und sabi sind zwei eng miteinander verwandte, sich gegenseitig ergänzende Prinzipien. Ein Zusammenfügen von etwas Innerem, Subjektiven (wabi, linke Quadranten) mit etwas Äußerem, Objektiven (sabi, rechte Quadranten), die gemeinsam ein Ganzes bilden (Koren, 1995, S. 22-23).

Wabi ist herbe Schönheit. Die traditionelle Wortbedeutung von wabi war, sich elend, einsam und verloren zu fühlen. Mit der Zeit formte sich wabi zu einer Freude an der Herbheit des Einsam-Stillen. Wabi integriert Fehlerhaftes, anstatt nach Perfektion zu streben. Unvollkommenes darf sich zeigen, z.B. in der Glasur eines Ikebana-Gefäßes oder der Ausformung einer Blüte. Wabi hat gleichzeitig die Essenz von Nicht-Anhaftung im Zen, verweist auf ein philosophisches Gebäude, eine Lebensweise, einen geistigen Pfad und auf räumliche Ereignisse.

Sabi bedeutet dagegen „alt sein, Patina zeigen, über Reife verfügen“. Sabi ist im Kontrast zu einem westlichen Schönheitsideal, eine Schönheit, die nicht aufdringlich, nicht offenkundig ist, jedoch Schönheit ins sich birgt. Es ist eine Schönheit, die nicht ins Auge springt, sondern sich denen offenbart, die durch die Hülle des Anscheins schauen können. Beispiele sind eine knorrige alte Kiefer oder bemoose Zweige. Sabi verweist auf körperlich fassbare Gegenstände, ein ästhetisches Ideal, zeitliche Ereignisse.

Borschel ikebana maennlich weiblich

Japaner beschreiben wabi-sabi in der Regel nicht mit intellektuellen Worten, sie erfahren es und beschreiben dann die Erfahrung bildhaft. Wabi-sabi, verstanden als eine fehlerhafte Schönheit mit der Weisheit natürlicher Einfachheit, lässt sich auf dem Blumenweg immer wieder und stets anders erfahren. Die Tatsache, dass mit nicht von Menschen gemachten, sondern mit natürlichen Materialien zu arbeiten ist, mit all ihren Eigenheiten ist eine hervorragende Lehrmeisterin für Demut und Hingabe. Das ästhetische Schönheitsprinzip, kann nur bedingt über Regeln gelernt werden, es wird zunehmend erfahrbar: im Tun und im Betrachten.
  

Wie weit man auch blickt
weder Blüten noch leuchtend verfärbtes Ahornlaub
am Ufer
nur eine riedbedeckte Hütte
in der herbstlichen Abenddämmerung.

Fujiwara no Teika

 
Kado – ein Weg und eine Integrale Lebenspraxis

Borschel kado ein weg im schwarzwaldGusty L. Herrigel (1958, S.97.) schreibt: „Es ist selbstverständlich, dass es auf dem Blumenweg eine Stufenleiter gibt, deren einzelne Stufen der Meister zu erkennen oder zu deuten versteht. Er zeigt dem Schüler, auf welcher Stufe des Eingedrungenseins er steht.“ Mit der Integralen Theorie Ken Wilbers als Grundlage, ist dies differenzierter zu sehen: Der kado ist deshalb aus meiner heutigen Perspektive vor allem:

  • ein Weg des Aufwachens, eine Schulung von Zustandserfahrung von grobstofflichen, feinstofflichen, kausalen bis hin zu non-dualen Zuständen,
  • ein Weg, der einzelnen Linien hervorhebt, wie zum Beispiel die Linie der Moral und
  • ein Weg, der Innen und Außen, linke und rechte Quadranten in ständiger Verbindung praktiziert, wie im Abschnitt über wabi-sabi ausgeführt.

Ayako Graefe, beschreibt, wie zu Beginn bereits angeführt, den kado in einem Dreiklang als Schulung des Sehens, Formung des Verhaltens und Bildung der Seele. (2010 S. 76-84). Die Schulung des Sehens bedeutet, das den ästhetischen Begriffen Japans innewohnende Schönheitsideal zu erkennen und zu durchdringen. Die Formung des Verhaltens meint die Erziehung zu angemessenem Verhalten gegenüber Wesenheiten, wie Pflanzen und Menschen. Die Bildung der Seele, schließlich ist „eine innerliche Schulung … Die letzte Vertiefung … (Sie) besteht in der Bildung der Seele und des Gemüts.“

Alle Leserinnen und Leser möchte ich dazu einladen, mit den beschriebenen ästhetischen Prinzipien des kado zu experimentieren.

www.kado-ikebana.de
 
 

Blumen zu arrangieren und einen Pinselstrich zu machen ist einzigartig und absolut real.
Du könntest in einem einzigen Pinselstrich deine ganze Lebensgeschichte resümieren –
das ist möglich.

Chögyam Trungpa

 

Quellenangaben und Buchempfehlungen
  • Graefe, Ayako. 2010. Ikebana – Geist und Schönheit japanscher Blumenkunst. Norderstedt: Books on Demand GmbH, Norderstedt, ISBN 978 3 8391 4034 5
  • Herrigel, Gusty L.: ZEN in der Kunst des Blumenweges – Der Blumenweg – das Glück des Blumenstellens. 1958. Bern, München, Wien: O.W. Barth
  • Koren, Leonard: Wabi-sabi für Künstler, Architekten und Designer – Japans Philosophie der Bescheidenheit. 1995. Tübingen: Wasmuth
  • Teshigahara, Sofu: Kadensho – das Buch der Blumen. Deutsche Ausgabe. Tokio: Sogetsu
  • Trungpa, Chögyam: Über Kunst – Wahrnehmung und Wirklichkeit. 2012. Berlin: Steinreich

Zur Autorin

Borschel Daniela Ikebana VorfuerhrungKaisan Daniela Borschel, ist Ikebana Meisterin der Sogetsu-Schule. Sie betrat 1996 den kado, erhielt 2005 die Lehrberechtigung der Sogetsu-Schule, Tokio, zusammen mit dem Blumen- oder Dharmanamen Kaisan. Sie ist spirituelle Lehrerin mit dem Fokus auf Kontemplation im Sein und Werden sowie Beirat für integrale Spiritualität im Spirituellen Zentrum im Eckstein, Nürnberg. Daniela Borschel ist seit 2017 Vorstand des Integralen Forum e.V. und leitet seit 2018 den erweiterten Vorstand.

Im Hauptberuf führt sie gemeinsam mit Bernd Borschel das Unternehmen BORSCHEL einfach. weiter. sein. Daniela Borschel ist Facilitator, Entwicklerin und Begleitende. Sie ermöglicht Entscheidungsträgern in Unternehmen, NGOs und Verwaltung, erfolgreiches Wirtschaften mit der Entwicklung von Bewusstsein auf konkrete und effektive Weise zu verbinden. Es geht Ihr darum, Schatten und Licht in ihrer Größe zu erfahren und schließlich ganz Licht zu sein.

Borschel Logo SogetsuDaniela Borschel hat Betriebswirtschaftslehre an der Universität Saarbrücken und Internationales Management an der Ecole de Management Lyon studiert, ist zertifizierter Interkultureller Trainer/Coach, Integraler Berater/Coach, Aufstellungsausbilderin (IOSA) und praktiziert und erforscht verschiedene Dialogformen und -methoden, Formen der Heilung und des gesellschaftlichen Handelns.

Borschel ikebana morimono

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