von Andrea Hoffnung
Grundsätzlich ist zu sagen, dass es nicht „den“ integralen Ansatz gibt. Vielmehr versteht man darunter eine Zusammenführung verschiedener holistisch ausgerichteter Theorien und Ansätze, die einen disziplinären und methodologischen Pluralismus zum Ziel haben. Methoden und Komponenten aus unterschiedlichen Disziplinen werden zu einem Gesamtkonzept zusammengeführt, wodurch eine erweiterte und umfassende Wahrnehmung räumlicher Gegebenheiten ermöglicht wird. Baumaßnahmen jeglicher Art berühren in einem Landschaftsausschnitt vielfältige Systembereiche. Dies führt zu gravierenden Veränderungen im materiellen und immateriellen Gesamtgefüge. Die Orientierung an einer integralen Betrachtungsweise ermöglicht die Berücksichtigung dieses Gesamtgefüges sowie die Berücksichtigung der subtilen Vernetzungsstrukturen zwischen dem Menschen und seiner Mitwelt und sucht nach Lösungen, um ihnen gerecht zu werden. Das Bauen und Planen erfolgt zwar in erster Linie für den Menschen, jedoch unter Berücksichtigung der ihn umgebenden Mitwelt. Dabei kommt im Sinne des Integritätsprinzips allen am Planungs- oder Bauprozess beteiligten Aspekten (der Mensch, Ökosysteme, Flora, Fauna, naturräumliche Gegebenheiten, Landschaftsbild, phänomenale Erscheinungen etc.) angemessene Würdigung und Berücksichtigung zu.
Es geht dabei jedoch nicht um die Integration jeglicher Einzelaspekte der oft komplexen Zusammenhänge. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, die im Hinblick auf den Untersuchungs- bzw. Planungsgegenstand essentiellen Komponenten zu erkennen und zu berücksichtigen. Das übergeordnete Ziel des integralen Ansatzes in Architektur und Lebensraumgestaltung ist, das Spektrum der klassischen Sicht- und Vorgehensweisen Theorien und Methoden zu erweitern. Unter Berücksichtigung individueller, kollektiver, objektiver und subjektiver Aspekte sollen qualitative und quantitative Aussagen gewonnen werden, die eine umfassende Wahrnehmung der ganzheitlichen Zusammenhänge ermöglichen und sich planerisch und praktisch umsetzen lassen. Dabei können insbesondere die Komponenten des AQAL als Operationalisierungshilfe wertvolle Dienste leisten.
Andrea Hoffnung
Eine Einführung in die Grundgedanken
1 Einleitung
Wenn wir uns mit integraler Architektur und Lebensraumentwicklung auseinandersetzen, stellt sich zunächst die Frage, was unter dem Begriff „integral“ zu verstehen ist. Der Begriff „integral“ leitet sich von den lateinischen Wortwurzeln „integrare“ und „integratio“ ab. „Integrare“ kann mit „einschließend“, „ausgewogen“, „umfassend“ oder „heil“, umschrieben werden. „Integratio“ steht für die Wiederherstellung eines Ganzen (vgl. Hellbusch, 2003, 179). Dies ist ein sehr hoher Anspruch! Folglich können wir daraus schließen, dass es sich beim integralen Ansatz um eine sehr umfassende Theorie handelt. Um sie in ihrer Komplexität überhaupt erfassen zu können, bedarf es zunächst einer Erklärung ihrer weltanschaulichen Grundlage.
2 Das aktuelle und das integrale Weltbild
Generell bezeichnet ein Weltbild die Interpretation der Welt, die in einem bestimmten Kulturkreis zu einer bestimmte Zeit die allgemein anerkannte Auffassung von Wirklichkeit repräsentiert. Es prägt, in Abhängigkeit vom Selbstverständnis (Menschenbild) und vom herrschenden Bewusstsein, das Verhältnis des Menschen zu seiner Mitwelt.
Das vorherrschende Weltbild wird von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst. Es ist im Wesentlichen abhängig von der Sichtweise, die Menschen aufgrund ihrer Prägungen durch den Prozess der Entwicklung der menschlichen Spezies im Sinne der biologischen Evolution (Phylogenese), durch den Prozess der Zivilisation (Soziogenese) sowie den Prozess der menschlichen Individualentwicklung (Ontogenese) empfangen haben. (vgl. Bourassa, 1991, 53)
Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Krisen unserer Zeit sind dem österreichisch-amerikanischen Physiker und Philosophen Fritjof Capra zufolge auf das aktuell vorherrschende Weltbild zurückzuführen. Für den amerikanischen Autor und Kulturphilosophen Ken Wilber, den Begründer der integralen Theorie, ist dieses Weltbild ein solches, „das den Menschen fälschlicherweise vom übrigen Gewebe der Wirklichkeit trennt und oft genug noch darüber erhebt“ (Wilber, 2006, 20). Es ist geprägt von Prinzipien, die als dualistisch, mechanistisch, atomistisch, anthropozentrisch und hierarchisch bezeichnet werden. Es geht bei dieser Weltsicht um die Dominanz der physisch-materiellen Erscheinung und der analytischen Betrachtungsweise des rationalen Denkens. Die präzise Erforschung der materiellen Welt bis in ihre kleinsten atomaren Bestandteile und ihrer Naturgesetze steht im Vordergrund.
Auch die klassische Architektur sowie die Stadt- und Raumplanung sind in der Regel primär auf die physischen Gegebenheiten und die Sinneswahrnehmung ausgerichtet. Der Hintergrund ist eine auf dem reduktionistischen Prinzip beruhende Sichtweise. Demnach soll die Vielfalt der Erscheinungsformen in Raum und Landschaft zur besseren Messbarkeit und Objektivierbarkeit verringert und weitestgehend auf das physikalische Erscheinungsniveau reduziert werden. Nur was für das physische Auge sichtbar ist, was stofflich materiell greifbar ist und mit dem Verstand erfasst werden kann, wird anerkannt und bei der Planung berücksichtigt. Die emotional wirksamen, archetypischen und phänomenalen Verhältnisse hingegen werden meist nicht in ihrer Komplexität aufgegriffen oder so weit reduziert, dass wesentliche Teile dessen, was tatsächlich existiert, nicht oder nur teilweise erfasst werden können. (vgl. Scholz, 1998, 147)
Der Physiker Hans-Peter Dürr hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Reduktion der Wirklichkeit auf das objektiv Feststellbare durchaus vorteilhaft sei, das prinzipiell Unbegreifbare müsse deswegen aber nicht unwesentlich für den Menschen sein. (vgl. Dürr, 2010, 26)
Unser Weltbild weist also sehr starke Polaritäten in der Art und Weise auf, die Welt und ihre Zusammenhänge zu verstehen. Die integrale Weltsicht versucht diese Polaritäten zu überwinden. Es geht dann nicht mehr um harte Gegensätze, sondern um ihre gleichberechtigte Integration, also nicht mehr um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Somit bildet der integrale Ansatz den Rahmen für eine ganzheitliche, systematische Erfassung der Welt und aller in ihr stattfindenden Aktivitäten. Dazu ist eine mehrdimensionale oder mehrperspektivische Betrachtungsweise notwendig, die die Natur, die Landschaft, den Menschen, ja, den ganzen Kosmos als komplexes System mit ineinandergreifenden Wirkungen versteht.
Die im integralen Weltbild verankerten Wertvorstellungen führen zu entsprechenden Handlungsanweisungen im Hinblick auf den Umgang mit der den Menschen umgebenden Mitwelt. Ziel ist ein wahrhaft umfassendes Weltverständnis, „das mehr auf Ganzheit, Beziehung und Integration ausgerichtet ist, auf mehr Achtung für die Erde und weniger anthropozentrische Arroganz“ (Wilber, 2006, 21).
Anfang letzten Jahrhunderts kam die Physik zu der Erkenntnis, dass es kleinste materielle Bausteine nicht gibt: „Die bisherige Vorstellung der Welt als ‚Realität’ ... musste anders gedeutet werden, als eine nicht-auftrennbare, immaterielle, lebendig wirkende Potenzialität im ständigen Wandel“ (Dürr, 2010, 8). Das Universum, so der Quantenphysiker und Philosoph David Bohm, wird heute als dynamisierte Form holographischer Ganzheit, als eine „ungeteilte Ganzheit in fließender Bewegung“ betrachtet, aus der alle Strukturen der Natur hervorgehen. (Bohm, 1985, 31) Er bezeichnet dies als die „implizite Ordnung“. Darunter versteht er eine generative, innerliche Ordnung, aus der sich die manifeste Form der Dinge in einem kreativen Prozess herausbilden kann. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Fraktale Geometrie nach Mandelbrot, auf die Uwe Breuer in seinem Beitrag für diesen Band näher eingeht.
Das integrale Verständnis verwirft oder negiert das aktuelle Weltbild keinesfalls, sondern erweitert es in Richtung ganzheitlicher Erfassung. Es beruht auf einer Philosophie, derzufolge die Welt in Wirklichkeit eine Ganzheit darstellt. Alle Komponenten und Teilaspekte, die in ihr existieren, weisen Wechselwirkungen auf, d. h. sie stehen miteinander in Resonanz und interagieren auf vielfältige Weise. Der Philosoph Jean Gebser (1905 – 1973) spricht in diesem Zusammenhang von einer a-perspektivischen und a-rationalen Weltwahrnehmung, die sich seit einigen Jahrzehnten nach und nach etabliert. Im Gegensatz zu früheren Kulturepochen lässt diese nicht nur eine Perspektive, sondern die Betrachtung aus mehreren Blickwinkeln zu und integriert die gewonnenen Erkenntnisse. Des Weiteren finden neben den rationalen Erkenntnissen auch andere Erkenntnisweisen – z. B. emotionale oder geistig-spirituelle – Anerkennung.
In ihrer Gesamtbetrachtung beschreibt die integrale Weltsicht quasi ein ganzheitliches Weltmodell, das die Zusammenhänge aus östlicher und westlicher Philosophie, aus der Wissenschaft, aus verschiedenen Religionen, Spiritualität und alten Weisheitstraditionen in einem übergeordneten Dialog zusammenführt. Auch wenn verschiedene geistverwandte Ideen wie die von Sri Aurobindo (Begründer des integralen Yoga), Rudolf Steiner (Begründer der Anthroposophie), Don Beck (Spiral Dynamics) und anderen mit einfließen, waren es Jean Gebser (Konzept des integralen Bewusstseins) und in den letzten Jahrzehnten vor allem Ken Wilber (Philosophie des universellen Integralismus), die diese umfassende Weltsicht in entscheidender Weise geprägt haben.
3 Integrales Bewusstsein
Jean Gebser spricht vier Bewussteinsstrukturen an, die im Laufe der Geschichte nacheinander die Bewusstwerdung des Menschen bestimmt haben: die archaische, die magische, die mythische und die mentale Struktur.
Die archaische Bewusstseinsstruktur war Gebser zufolge in der Zeit vor 200.000 v. Chr. zu finden, als die Menschen in Gruppen Höhlen bewohnten und sich als Fischer, Jäger oder Sammler betätigten. Den Funden entsprechend, die über das Leben in dieser Zeitepoche Auskunft geben, kommt Gebser zu dem Schluss, dass der Mensch damals in einer extremen Naturverbundenheit gelebt und noch kein klares Ich-Bewusstsein ausgebildet hatte (vgl. Ducommun 2005, 29).
Die magische Epoche bezeichnet die Zeit zwischen 200.000 bis 10.000 v. Chr. Hier lebten die Menschen meist in Sippen, Clans oder Großfamilien und waren noch mit der Natur verbunden. Felsenmalereien und andere Zeugnisse weisen jedoch darauf hin, dass der Mensch sich nach und nach von der Natur entkoppelt hatte, ja sich zum Teil sogar von ihr bedroht fühlte. Dies führte zur Entstehung der Naturreligionen, in denen die Natur als beseelt galt und Geist bzw. Seele und Erde bzw. Körper vereint waren. Durch Priester, die religiöse Rituale und Handlungen ausführten, versuchte man mit den Geistern der Natur und den Ahnen in Verbindung zu treten. (vgl. Ducommun 2005, 30)
Das dritte Zeitalter bezeichnet Gebser als das mythologische Zeitalter. Es umfasst die Zeit von 10.000 v. Chr. bis etwa 1.000 bis 1.500 n. Chr. Es war die Zeit der frühen Garten- und Ackerbaukulturen sowie der monotheistischen Religionen, in der sich sukzessive ein von der Natur getrenntes Bewusstsein entwickelte und der Mensch seine Innenwelt zu erkennen begann. (vgl. Ducommun 2005, 32f)
Aus der mythologischen Epoche entwickelte sich die mentale heraus, die bis in unsere jetzige Zeit reicht. Der Mensch verabschiedete sich von der mythologischen Innenschau und emanzipierte sich. Das Ego wurde zur Basis seines Handelns. Rationales Denken, Differenzieren und Bewerten und eine dualistische Polarisierung von Innen und Außen setzten sich durch und bereiteten den Boden für eine Welt der Gegensätze.
Derzeit befinden wir uns im Übergang von der mentalen zu einer fünften, der integralen Bewusstseinsstruktur (vgl. Hellbusch, 2003, 116f). Diese müsste die Erfahrungen und Erkenntnisse der vergangenen Kulturepochen zusammenzuführen und als Basis für neue Bewusstseinsentwicklungsprozesse nutzen. Charakteristisch für diese nach Gebser „integral“ zu bezeichnende Zeitepoche ist die Ausbildung eines neuen Bewusstseins. Gebser hat diesbezüglich den Begriff des „integralen Bewusstseins“ geprägt, das er als Erweiterung des aktuell vorherrschenden, dualistischen und reduktionistischen Weltbildes versteht. Er geht dabei davon aus, dass wir uns in einer Zeit grundlegender Veränderungen befinden, die uns zu einem neuen Bewusstsein führen. Integrales Bewusstsein bedeutet für ihn, die Begrenzungen des mental-rationalen Verstandesdenkens zu übersteigen und sich zu öffnen für „die Fähigkeit, jene Zusammenhänge zu verstehen, die uns konstituieren: es ist ein stets statthabender Akt des Integrierens und Richtens“ (Gebser, 1978, 291). Dazu muss der Mensch über innere Ebenen verfügen, die ihm die Erschließung seiner Mitwelt in ihrer spezifischen Eigenart, d. h. in ihrem Wesenskern ermöglicht, denn, so Wilber: „Das Innen der Dinge ist Bewusstsein, das Außen ist Form“ (Wilber, 2006, 148).
Doch das Erfahren der Zusammenhänge als Teilhabe am Weltganzen reicht nach Auffassung Gebsers noch nicht aus. Es erfordert auch das Umsetzen gemachter Erfahrungen, denn „das nur ermessende Wissen um die … anschaulich gemachten Zusammenhänge genügt nicht, es sei denn, es setze sich in lebendiges Wissen um. Das ermessende Wissen wird uns durch die Vorstellung, das lebendige Wissen durch die Erfahrung zuteil“ (Gebser II, 317, zit. nach Hellbusch, 1998, 54). Damit will er sagen, dass wir Menschen integraler Bestandteil unserer Mitwelt sind und dass wir, wenn wir das verstanden haben, auch Verantwortung für sie zu übernehmen haben. Das Wissen um die höheren Zusammenhänge nützt nichts, wenn es in der Schublade liegt. Es muss in unserer Lebenswelt Anwendung und Umsetzung finden.
4 Das Integritätsprinzip
Vor dem Hintergrund des integralen Weltbildes haben insbesondere Werte wie ganzheitliches Denken und Handeln, Integrität, Authentizität, Unverfälschtheit, aber auch Respekt im Umgang mit nichtmenschlichem Sein, d. h. mit Tieren oder auch Pflanzen eine ganz zentrale Bedeutung (vgl. Niggli, 2006, 29). In diesem Zusammenhang spielt das Integritätsprinzip eine entscheidende Rolle:
„Integrität ist der zugrunde liegende Wert, auf dem alle anderen aufbauen“, sagt der Persönlichkeitstrainer und Buchautor Brian Tracy (Tracy, 2004, 3). Und gerade deshalb ist Integrität von so fundamentaler Bedeutung für den integralen Ansatz.
Der Begriff „Integrität“ leitet sich vom lateinischen „integritas“ ab und steht im Wesentlichen für Unversehrtheit und Intaktheit. Jan Vorstenbosch definiert Integrität als „Ganzheit, Intaktheit und ungeschädigten oder unbeschädigten Zustand eines Dinges, insbesondere eines Lebewesens“ (Vorstenbosch, 1993, zit. nach Hauskeller, 2009, 49). Integrität, wird aber auch oft mit den Begriffen „Würde und Ehre“, „Freiheit und Autonomie“, „Authentizität und Wahrhaftigkeit“ in Zusammenhang gebracht. Sie ist als Antwort auf das menschliche Begehren nach „Intaktheit und Unversehrtheit“ zu verstehen, das letztendlich ein Bedürfnis nach „Ganzheit“ und „Heilsein“ darstellt (vgl. Pollmann, 2005, 12, 21).
Hinsichtlich ethisch-moralischer Wertschätzung steht in unserer Gesellschaft der Mensch als vernunftbegabtes Wesen im Mittelpunkt und erlebt sich seiner Mitwelt gegenüber als hierarchisch übergeordnet. Diese genießt weniger ethisch-moralische Beachtung und Anerkennung. Doch nicht nur wir Menschen, sondern alles Existierende (Tiere, Pflanzen, Natur und Landschaft, Ökosysteme, etc.) – alles hat ein Recht darauf, in seiner spezifischen Eigenart wahrgenommen zu werden. Diesem Integritätsanspruch will der integrale Ansatz Rechnung tragen. Dabei kann das Maß der Fähigkeit zur Integrität hinsichtlich der Mitwelt, das ein Individuum oder eine Gesellschaft sich erworben hat, als Indikator für ein bereits entwickeltes integrales Bewusstsein dienen.
5 Integrale Ökologie – die Mensch-Mitwelt-Beziehung
Mensch und Mitwelt stehen in permanenter wechselseitiger Interaktion und bedingen sich gegenseitig. Der Umgang des Menschen mit seiner Mitwelt ist eine Frage der Entwicklung von Qualitäten seines Inneren und letztendlich des Bewusstseinsstandes. Er entscheidet, aus welcher Perspektive er die Welt und die Natur betrachtet.
Integrale Ökologie basiert auf einem Weltbild, das auf Ganzheit, Integration, auf Beziehung mit und die Achtung der Erde ausgerichtet ist (vgl. Wilber, 2006, 21). In ihren ethischen Grundsätzen erweitert sie daher auch den Rahmen der klassischen ökologischen Ethik, die sich mit der Rücksichtnahme befasst, die der natürlichen Mitwelt entgegengebracht wird: Die dabei möglichen, unterschiedlichen Grundpositionen können als Anthropozentrismus auf der einen und Physiozentrismus auf der anderen Seite bezeichnet werden. Die anthropozentrische Sichtweise gesteht Tieren, Pflanzen und unbelebter Materie (z. B. Steinen) keinen Eigenwert zu, sondern nur dem Menschen. Der Physiozentrismus weist dagegen belebter wie unbelebter Materie, also der gesamten Biosphäre einen Eigenwert zu (vgl. Gorke, 2000, 86, zit. nach Hoffnung, 2010, 33). Die integrale Ethik spricht nach Wilber allem Existierenden, materiell oder immateriell, belebt oder unbelebt, einen Grund-Wert zu (vgl. Habecker, 2007, 81).
Des Weiteren fordert die integrale ökologische Ethik einen Integritätsanspruch für jedes existierende Holon, wie die integrale Theorie eine zusammenhängende Organisationseinheit nennt. Demnach hat „ein jedes Holon (…) einen Anspruch auf Wahrnehmung seiner spezifischen Eigenart sowie seines Gesamtkontextes und Beziehungsgefüges“ (Hoffnung, 2010, 37). Dabei berücksichtigt die integrale Theorie ein multidimensionales Wertesystem, das zwischen äußerlichen und innerlichen Werten unterscheidet. Sie distanziert sich jedoch von einem „radikalen ökozentrischen Egalitarismus, demzufolge alles den gleichen grundlegenden Wert hat“ (Esbjörn-Hargens & Zimmermann, 2012, 535).
Die Tiefenökologie beispielsweise, begründet von dem norwegischen Philosophen Arne Naess, ist ein naturphilosophischer Ansatz mit holistisch-biozentrischer Ausrichtung, der auf der wechselseitigen Bedingtheit allen Lebens beruht und jedem Lebewesen einen Eigenwert zuschreibt. Dieser Sicht entsprechend ist alles miteinander verbunden und voneinander abhängig (vgl. Gesellschaft für angewandte Tiefenökologie e.V., www.tiefenoekologie.de/texte).
Das Gedankengut der Tiefenökologie, insbesondere der wechselseitigen Bezogenheit alles Existierenden, war bereits im alten China bekannt und wurde damals von dem Begründer des Tiantai-Buddhismus, Zhi Yi (538-597), verbreitet, indem er dazu aufrief, allen Lebewesen und der gesamten Mitwelt Respekt zu zollen (vgl. Ziporyn, 2014). Grundlage der modernen Tiefenökologie ist die von Lynn Margulis und dem Chemiker, Biophysiker und Mediziner James Lovelock gegründete Gaia-Hypothese. Ihr zufolge ist die Erde samt ihrer Biosphäre als Lebewesen, bzw. als sich selbst organisierendes System zu verstehen (vgl. Living Gaia, 2015). Das Wesen der Tiefenökologie besteht darin, über die Analyse von Ursache-Wirkungszusammenhängen hinaus nach dem „Ur-Grund“ allen Seins zu fragen, das jenseits des rationalen, diskursiven Denkens liegt (vgl. Naess, 1997, 199). Sie erfordert ein ökologisches Bewusstsein der allseitigen Verbundenheit, das neben rationalen Erkenntnissen beispielsweise auch intuitive Einfühlung in Landschaftselemente anstrebt (vgl. Devall & Sessions, 1985, 7, zit. nach Krieger und Jäggi, 1997, 258). Dies ist durch die Erfahrung und Reflexion tiefer innerer Gefühle möglich. Naess zufolge bedarf es dazu einer auf Liebe basierenden Identifikation, aus der sich eine intensive Empathie für andere Wesen, insbesondere für Raum- und Landschaftselemente, entwickelt (vgl. Naess, 1995, 139, zit. nach Hildebrandt, 2000, 67).
Das Holon-Konzept als Organisationsstruktur des Integralen
Ken Wilber, Arthur Koestler, Rupert Sheldrake und andere gehen davon aus, dass der Kósmos (von Wilber stets in der Schreibweise mit Akzent verwendet, um ihn als allumfassende Sphäre von der rein physikalischen Bezeichnung abzuheben) nicht aus Dingen oder Prozessen besteht, sondern aus verschiedenen interagierenden Organisationsebenen oder „morphischen Einheiten“, die integral auch als Holons bezeichnet werden (vgl. Wilber, 2001, 159; vgl. Wilber, 2006, 57, Sheldrake, 1991, 128). Holons bzw. morhpische Einheiten unterliegen einer hierarchischen Ordnung. Da Koestler erkannt hat, dass alle Hierarchien aus Holons bestehen, bezeichnet er eine Hierarchie auch als Holarchie (Hierarchie von Holons). Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine Kontrollhierarchie. Jedes Holon ist autonom und unterhält Beziehungen zu den jeweiligen über- oder untergeordneten Holons. Vergleichbar mit den russischen Matrjoschka-Puppen kann ein Holon sowohl eine Ganzheit darstellen, die aus untergeordneten Ganzheiten besteht, als auch selbst Bestandteil einer übergeordneten Ganzheit sein (vgl. Sheldrake, 1991, 128). Hierarchien richten sich vom Niederen zum Höheren aus, was bedeutet, dass das Höhere alle Eigenschaften des Niederen in sich aufgenommen und es um weitere Qualitäten erweitert hat (vgl. Habecker, 2007, 15). Wilber vergleicht das mit den Sprossen einer Leiter: Jede höhere Sprosse setzt alle tieferen voraus (vgl. Wilber, 2006, 305). Arthur Koestler formuliert dieses Prinzip wie folgt: „Jedes Holon hat die doppelte Tendenz, einerseits seine lndividualität als quasi-autonome Ganzheit zu wahren und zu bekunden und andererseits als integraler Bestandteil einer (...) größeren Ganzheit zu fungieren“ (Koestler, 1967, 385, zit. nach Sheldrake 1991, 128). Dadurch erklärt sich die wechselseitige Bezogenheit der einzelnen Teile in einem Gesamtgefüge.
Die Organisation der Holons bzw. morphischen Einheiten erfolgt durch morphogenetische Felder. Diese sind als Informationsspeicher zu verstehen, die Prozesse, Formen, Organismen usw. aufbauen, aber umgekehrt auch von diesen beeinflusst und modifiziert werden. Somit hat jede Veränderung in einem System oder in einem Organismus Auswirkungen auf die Gesamtstruktur. In dieser Funktion gelten sie als Gestaltungsprinzipien der Natur, des Bewusstseins, der Gesellschaft und der Kultur (vgl. Gloy, 1996 a, 169; Kirchhoff, 1999, 159). Dieses auf Basis der Arbeiten von Arthur Koestler entwickelte Holon-Konzept bildet eines der Kern-Konzepte der integralen Philosophie.
7 Raum- bzw. Sphärengliederung
Aus integraler Sicht konstituiert sich der Kósmos aus verschiedenen Sphären bzw. Seinsbreichen, die nicht voneinander getrennt zu betrachten sind. Er wird als eine sich selbst organisierende Ganzheit verstanden, bei der verschiedene Wirklichkeitsformen interagieren. Nach diesem Verständnis ist im Kósmos alles mit allem verbunden und kann als Einheit betrachtet werden. Das Wissen um diese Zusammenhänge ist nicht neu, sondern mindestens dreitausend Jahre alt und vielfach in der „Philosophia perennis“, der immerwährenden Philosophie, beschrieben und galt noch bis etwa zum Jahr 1700 n. Chr. vielfach als eine Art philosophischer Konsens.
Die verschiedenen Sphären stellen quasi Organisationsebenen (Holons) dar, die holarchisch organisiert sind (Esbjörn-Hargens & Zimmermann, 2012, 535). Jede höhere Ebene nimmt demnach die Eigenschaften der niederen in sich auf. Alle zusammen bilden den allumfassenden „Kósmos“, der als äußerst komplexes System mit ineinandergreifenden Wirkungen verstanden werden muss. Der Begriff Kósmos wurde von den Pythagoräern eingeführt und bezeichnet eine übergeordnete Sphäre, die folgende Seinsbereiche einschließt:
- Die Physiosphäre: Sie beschreibt die anorganische, physisch-materielle Seinsebene, das materielle Universum, das Wilber auch als „Kosmos“ (ohne Akzent geschrieben) bezeichnet. Sie ist Bestandteil der übergeordneten Biosphäre.
- Die Biosphäre: Sie bezeichnet den Bereich der organischen Substanz, d. h. alles Lebendige (Menschen, Tiere, Pflanzen etc.). Sie schließt die Physiosphäre ein und ist gleichzeitig Bestandteil der übergeordneten Noosphäre.
- Die Noosphäre: Diese wird von Ken Wilber (einen Begriff von Teilhard de Chardin aufgreifend) als Ebene von Geist, Psyche, Werten und Moral bezeichnet Sie umfasst und transzendiert die Biosphäre (vgl. Wilber 2006, 31; Esbjörn-Hargens & Zimmermann, 2012, 535).
8 Das AQAL-System Wilbers als Ordnungsinstrumentarium
Ken Wilber unternimmt den Versuch, Zusammenhänge aus unterschiedlichen Disziplinen und Erfahrungsbereichen in einem umfassenden System zu verbinden, um ein exakteres Bild der Wirklichkeit zu zeichnen. Seinem Biografen Frank Visser zufolge versteht sich Wilber einem Sanskrit-Wort entsprechend als „Pandit“, das heißt als Gelehrter, der darum bemüht ist, Wissen und Leben in Einklang zu bringen (vgl. Visser, 2002, 47f).
Wilbers integraler Ansatz kann als Meta-Theorie zur Erklärung der Welt bzw. der Wirklichkeit verstanden werden. Sie hat den Charakter eines Ordnungsinstrumentariums, das entsprechende Handlungsanweisungen hinsichtlich des Ordnens, Kombinierens, Koordinierens und Integrierens verschiedener Sichtweisen, Praktiken und Paradigmen enthält. Zur Umsetzung dienen fünf Operationalisierungskomponenten (Quadranten, Ebenen, Linien, Zustände und Typen), die er unter dem Begriff AQAL (all quadrants, all levels) zusammenfasst (vgl. Wilber 2007, 36; Wittrock, 2009, 33).
AQAL wird von Wilber auch als „Integrales Betriebssystem“ (IBS) oder „Integrale Landkarte“ bezeichnet. Die Operationalisierungskomponenten stellen verbindende Muster dar und beziehen sich auf alle Perspektiven und grundlegenden Merkmale jeglicher individueller Holons (vgl. Esbjörn-Hargens & Zimmermann, 2012, 79f).
8.1 Quadranten
Dem Integralen liegt eine mehrdimensionale bzw. mehrperspektivische Betrachtungsweise zugrunde, die sowohl subjektive, objektive, individuelle und auch kollektive Aspekte berücksichtigt. Jedes existierende Holon, d. h. jedes Ereignis, jedes fühlende Wesen oder Objekt, jeder Ort, jedes Gebäude verfügt über diese vier Dimensionen: die subjektive (phänomenologische) Dimension, die objektive (materielle) Dimension, die intersubjektive (kulturelle) und die interobjektive (systemtheoretische) Dimension. Alle diese Dimensionen sind untrennbar und durchdringen und ergänzen sich gegenseitig. Diese Dimensionen lassen sich als verschiedene Aspekte der Wahrnehmung verstehen, über die z. B. ein Individuum sich und seine Mitwelt erfahren oder mit ihr in Beziehung treten kann. Gleichzeitig kann ein Wesen, ein Objekt oder ein Ort auch von einem Betrachter aus vier Perspektiven wahrgenommen oder untersucht werden.
Quadrantenmodelle dienen generell als Rahmen zur übersichtlichen Darstellung komplexer Sachverhalte. Wilber ordnet daher die Dimensionen und Perspektiven vier Quadranten zu. Für einen Ort, im Sinne eines Raumausschnittes, können sie z. B. so formuliert werden:
- Objektiv-Materielle Dimension bzw. Perspektive (OR: Quadrant oben rechts)
- Systemisch-Soziale Dimension bzw. Perspektive (UR: Quadrant unten rechts)
- Seelisch-Geistige Dimension bzw. Perspektive (OL: Quadrant oben links)
- Kulturell-Ästhetische Dimension bzw. Perspektive (UL: Quadrant unten links)
Die vier Quadranten (s. Abb. 1) oben links (OL), oben rechts (OR), unten links (UL), unten rechts (UR), repräsentieren die vier grundlegenden Dimensionen des Ortes oder die vier grundlegenden Wege, um den Ort von außen zu betrachten: Die beiden linken Quadranten stehen für das „Innen“. Sie befassen sich mit den immateriellen, subjektiven Phänomenen. Die beiden rechten Quadranten stehen für das „Außen“, d. h. für alles Objektive und Materielle. Die beiden oberen Quadranten stehen für die individuelle Betrachtung bzw. für die Untersuchung der Einzelteile. Die beiden unteren Quadranten stehen für kollektive Phänomene und Systemzusammenhänge.
Im Bereich von Lebensraumgestaltung und Architektur können Planungsvorhaben und Baumaßnahmen jeglicher Art durch die Berücksichtigung der quadrantenspezifischen Aspekte ganzheitlichen Charakter erhalten. Dies soll zum besseren Verständnis am Beispiel eines Schlossgutes erläutert werden:
Stellen wir uns ein Schlossgut vor, das einer Renovierung bedarf. Die Anlage, ehemals als Wasserschloss gebaut, wird heute als Behinderteneinrichtung genutzt. Die dazugehörigen Wälder und landwirtschaftlichen Nutzflächen werden von einem Bauern bewirtschaftet. Dieses Schlossgut soll im Vorfeld der Renovierungs- und Umgestaltungsmaßnahmen einer integralen Bestandsanalyse unterzogen werden.
Eine integrale Bestandsanalyse (hier rein exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit) sieht, wie Abb. 1 zeigt, die Berücksichtigung folgender quadrantenspezifischer Aspekte vor:
- Quadrant OL: Der obere linke Quadrant bringt die geistig-seelischen Aspekte, d. h. die individuellen phänomenalen Qualitäten der Schlossanlage zum Ausdruck, die der Mensch als Individuum über seine Wahrnehmung und Befindlichkeit in der Schlossanlage erfahren kann: z. B. ästhetische und atmosphärische Qualitäten, Stimmungen, psychologische Aspekte, den Äther- bzw. Chi-Fluss sowie die ortsspezifische archetypische Qualität („Genius Loci“). Von den antiken Ursprüngen her repräsentiert der Genius das geistige Wesen eines Menschen, d. h. alles, was die Persönlichkeit, den Charakter des Menschen ausmacht. Diese Vorstellung wurde auch auf andere Phänomene übertragen, insbesondere auf räumliche Gegebenheiten. So wurden die atmosphärischen Qualitäten verschiedener Landschaftstypen dem Wirken unterschiedlicher Genien zugeschrieben. Die Römer sahen darin das Wirken einer an den Ort gebundenen geistigen Macht und prägten dafür den Begriff „Genius Loci“ (vgl. Pieper, 1984, 42).
- Quadrant UL: Diesem Quadranten sind die kulturell-ästhetischen Aspekte zugeordnet. Hier werden kollektive immaterielle Phänomene erfasst: z. B. die Historie des Schlossgutes oder der spezielle Schlosscharakter als ortsbezogene, kulturelle Identität, der eine spezielle Atmosphäre ausstrahlt, die viele Menschen wahrnehmen und teilen. Des Weiteren geht es hier um den Baustil der Gebäude, um traditionelle Feste und Bräuche, die gepflegt werden. Auch die Ortssemiotik, die Bedeutung von Gewann- oder Flurnamen spielt hier eine Rolle. Der Gewannname „Im Burgstall“ z. B. weist darauf hin, dass an dieser Stelle früher eine Burg stand oder vermutet wird, dass dort einmal eine gestanden hat.
- Quadrant OR: Er repräsentiert die materielle, objektive Dimension des Schlossgutes. Alle sinnlich wahrnehmbaren Phänomene, alle materiellen Einzelbestandteile, die mess- und zählbar sind, werden hier erfasst: z. B. die Geländetopographie (bspw. hügelig oder flach), Gebäude, Bäume, einzelne Pflanzen, Sträucher, Inventar, Farben, Formen, Gerüche, aber auch Geräusche wie das Läuten der Schlosskappellenglocken oder das Singen eines Chores.
- Quadrant UR: Dieser Quadrant steht für die systemisch-soziale Dimension, d. h. für materielle Systemverbände wie beispielsweise die Ökosysteme des Schlossgartens, die landwirtschaftlichen Nutzflächen und Wälder des Schlossgutes, für Bewirtschaftungsformen, für die soziale Einbindung des Schlossgutes in Tourismusverbände und caritative Trägerschaften etc. Die gesamte Schlossgutanlage kann auch als System betrachtet werden, das wie ein Organismus funktioniert. So spricht die Vorstellung eines „Schlossgutorganismus“ die vielfältigen Aspekte an, die beispielsweise im anthroposophischen Sinne zu einer ganzheitlichen Entwicklungsdynamik führen: Gebäude, Boden, Menschen, Tiere, Pflanzen bilden ein ineinandergreifendes, stabiles System.
Die Erfassung der hier aufgeführten Aspekte kann entsprechend des integralen Methodenpluralismus anhand naturwissenschaftlicher, systemtheoretischer, sozialgeographischer wie auch phänomenologischer und ästhetischer Methoden erfolgen. Das Ergebnis dieser Analyse ist die Bestandsaufnahme der Aspekte und Interaktionen der vier – entsprechend der integralen Theorie nicht reduzierbaren – Dimensionen der inneren und äußeren wahrnehmbaren Welt des Schlossgutes. Das aktuelle Beziehungsgefüge des Schlossgutes kann so in optimaler Weise erfasst werden und als Basis für die vorgesehenen Neugestaltungsmaßnahmen dienen.
8.2 Ebenen/Stufen
Ebenen sind als Entwicklungsstufen zu verstehen (z. B. Kulturepochen, Entwicklungsstufen der Planung oder der Umsetzung des Bauvorhabens). Sie sind im Vergleich zu den vorübergehenden Zuständen dauerhaft und bezeichnen Meilensteine von Wachstum oder Entwicklung. Jede Entwicklungsstufe stellt quasi eine bestimmte Ebene der Organisation oder Komplexität dar. Beispiele dafür sind die von Jean Gebser beschriebenen Hauptebenen bzw. Stufen des Bewusstseins: archaisch, magisch, mythisch, rational und integral oder die Spiral-Dynamics-Mem-Ebenen von Don Beck und Chris Cowan. Aber auch die Stadien der natürlichen Sukzession im Ökosystembereich (Initialstadium, Folgestadien) oder das Planungs-, Aushub-, oder Rohbaustadium eines Hauses stellen Entwicklungsstufen dar.
8.3 Linien
Entwicklung verläuft nicht eindimensional. Das Durchlaufen verschiedener Stufen oder Ebenen bezeichnet eine Entwicklungslinie wie z. B. bei einer Ausbildung oder Karriere. Es gibt unterschiedliche Entwicklungslinien einer Persönlichkeit: kognitiv, emotional, künstlerisch, religiös, spirituell etc. Ein weiteres Beispiel ist das Pflanzenwachstum. Eine Pflanze durchläuft verschiedene Stadien, die insgesamt eine Entwicklungslinie darstellen: Samen, Keimphase, Blattentwicklung, Blüte. Auch die Abfolge der Sukzessionsentwicklungsstufen vom Initialstadium über verschiedene Folgestadien bis hin zum Klimaxstadium oder der gesamte Planungs- und Realisierungsprozess beim Hausbau kann als Entwicklungslinie verstanden werden. Hinsichtlich des oben erwähnten Schlossgut-Beispiels bezeichnet der Wandel vom ursprünglichen Wasserschloss über diverse Schlossbesitzer und deren spezifischer Nutzung der Anlage bis hin zum heutigen Anstaltshaushalt eine Entwicklungslinie.
8.4 Typen
Als Typen werden die verschiedenen Stile bezeichnet, die in unterschiedlichen Bereichen entstehen. In der Psychologie unterscheidet man beispielsweise Persönlichkeitstypen, Verhaltensmuster oder Temperamentemuster, in der Kulturlandschaft Mitteleuropas stellen Wälder, Wiesen, Äcker, Hecken, Heiden Trockenrasen oder Moorlandschaften unterschiedliche Vegetationsformen dar. In der Architektur repräsentieren Typen die typologische Vielfalt von Gebäuden wie Einfamilienhäuser, Mehrfamilienhäuser, Industriegebäude, Schlösser oder spezielle Baustile.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die AQAL-Komponenten bei jeglicher Art von Objekten, Phänomenen oder Individuen anwenden lassen. Durch das Zusammenwirken dieser Komponenten können die äußeren, objektiv-materiellen, wie auch die inneren, phänomenal-subjektiven Faktoren und Aspekte eines Objektes oder Individuums in ihrer Komplexität in optimaler Weise erfasst und untersucht werden. Des Weiteren wird dadurch erreicht, dass neben der objektiven naturwissenschaftlichen Betrachtung auch die Geisteswissenschaften im allgemeinen Sinn und die individuelle menschliche Wahrnehmung (z. B. durch introspektive Psychologie, bei der die „Erfahrungsgegenstände“ im Inneren liegen) wissenschaftliche Beachtung erfahren (vgl. Habecker, 2007, 62).
9 Wozu dient der integrale Ansatz in der Architektur und Lebensraumentwicklung?
Grundsätzlich ist zu sagen, dass es nicht „den“ integralen Ansatz gibt. Vielmehr versteht man darunter eine Zusammenführung verschiedener holistisch ausgerichteter Theorien und Ansätze, die einen disziplinären und methodologischen Pluralismus zum Ziel haben. Methoden und Komponenten aus unterschiedlichen Disziplinen werden zu einem Gesamtkonzept zusammengeführt, wodurch eine erweiterte und umfassende Wahrnehmung räumlicher Gegebenheiten ermöglicht wird. Baumaßnahmen jeglicher Art berühren in einem Landschaftsausschnitt vielfältige Systembereiche. Dies führt zu gravierenden Veränderungen im materiellen und immateriellen Gesamtgefüge. Die Orientierung an einer integralen Betrachtungsweise ermöglicht die Berücksichtigung dieses Gesamtgefüges sowie die Berücksichtigung der subtilen Vernetzungsstrukturen zwischen dem Menschen und seiner Mitwelt und sucht nach Lösungen, um ihnen gerecht zu werden. Das Bauen und Planen erfolgt zwar in erster Linie für den Menschen, jedoch unter Berücksichtigung der ihn umgebenden Mitwelt. Dabei kommt im Sinne des Integritätsprinzips allen am Planungs- oder Bauprozess beteiligten Aspekten (der Mensch, Ökosysteme, Flora, Fauna, naturräumliche Gegebenheiten, Landschaftsbild, phänomenale Erscheinungen etc.) angemessene Würdigung und Berücksichtigung zu.
Es geht dabei jedoch nicht um die Integration jeglicher Einzelaspekte der oft komplexen Zusammenhänge. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, die im Hinblick auf den Untersuchungs- bzw. Planungsgegenstand essentiellen Komponenten zu erkennen und zu berücksichtigen. Das übergeordnete Ziel des integralen Ansatzes in Architektur und Lebensraumgestaltung ist, das Spektrum der klassischen Sicht- und Vorgehensweisen Theorien und Methoden zu erweitern. Unter Berücksichtigung individueller, kollektiver, objektiver und subjektiver Aspekte sollen qualitative und quantitative Aussagen gewonnen werden, die eine umfassende Wahrnehmung der ganzheitlichen Zusammenhänge ermöglichen und sich planerisch und praktisch umsetzen lassen. Dabei können insbesondere die Komponenten des AQAL als Operationalisierungshilfe wertvolle Dienste leisten.
Der integrale Ansatz sensibilisiert Bauherren und Planer für eine mehrdimensionale Betrachtungsweise: Weil er die Grenzen des materiell Sichtbaren übersteigt und auch das Immaterielle berücksichtigt, bietet er die Möglichkeit, räumliche Gegebenheiten oder ein Bauvorhaben in seiner Mehrdimensionalität wahrzunehmen. Dadurch kann das Beziehungsgefüge des Menschen und seines Lebensumfeldes in einer umfassenden, ausgewogenen und holistisch (ganzheitlich) orientierten Weise Berücksichtigung finden. Dabei kommen materielle, immaterielle, objektive, subjektive, individuelle und kollektive Aspekte im Planungs- und Realisierungsprozess gleichberechtigt zur Anwendung. Konkret bedeutet das, dass es um eine Erweiterung des materiell Sichtbaren oder Messbaren durch das Ungreifbare und doch Wahrnehmbare geht: durch emotionale, archetypische, phänomenale und geistige Aspekte.
Die Wertvorstellungen des Integralen basieren auf einer fortschreitenden Entwicklung des Bewusstseins. Denn eine Weiterentwicklung im ökologischen und ganzheitlichen Planen, Bauen und Gestalten ist nur dann möglich, wenn es auch eine Weiterentwicklung im Bewusstsein der Menschen gibt.
10 Fazit
Der integrale Ansatz versteht sich als Erweiterung des bisherigen Planungs- und Gestaltungsparadigmas. Er will in erster Linie dem Integritätsanspruch des Menschen und seiner Mitwelt gerecht werden. Von daher erfordert eine integrale, im Vergleich zur konventionellen Architektur erweiterte Lebensraumgestaltung, die gleichberechtigte Berücksichtigung materieller und immaterieller, objektiver und subjektiver sowie individueller und kollektiver Aspekte im Planungs- und Realisierungsprozess. Integral Planen und Bauen bedeutet, sich der ganzheitlichen Zusammenhänge bewusst zu sein und sie weitmöglichst zu integrieren.
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Über die Autorin
Andrea Hoffnung (*1960) studierte Landespflege an der Fachhochschule Nürtingen. Später folgte das Aufbaustudium Landschaftsökologie an der Universität Kassel. Ihr lnteresse an der Erforschung der Mehrdimensionalität des Raumes führte sie an die Universität für Bodenkultur Wien, wo sie – inspiriert durch Ken Wilber und Jean Gebser – zum Thema „Integrale Raumwahrnehmung im Kontext von Landschaftsplanung und Landschafts-architektur“ promovierte. Andrea Hoffnung ist Vorstandsmitglied im Verein integrale Architketur und Lebensraumgestaltung.
Verein Intergrale Architektur und Lebensraumgestaltung (Hg.)
Raum fürs Leben Schaffen: Integrale Ansätze für die Lebensraumgestaltung von Morgen
Integrale Ansätze für die Lebensraumgestaltung von Morgen
1. Auflage 2017, 280 Seiten, Klappenbroschur
ISBN 978-3-95779-057-6
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