Logo Integrale Perspektiven(aus: IntegralLife.com, Art, Consciousness, and God: The “I” of Beauty. Part 1: What Is Integral Art? Ken Wilber im Gespräch mit Elle Nicolai)


Elle Nicolai: Ken, wie würdest du integrale Kunst definieren?

Ken Wilber: Integrale Kunst ist ein jedes Kunstwerk, das von einem integralen Bewusstsein produziert wird. Durch diese Art von Definition vermeiden wir es, integrale Kunst über bestimmte Elemente, Bestandteile oder Merkmale zu definieren. Es gibt so viele Variationen und Komponenten, aus denen ein Kunstwerk bestehen kann, so dass es vielleicht nur in sehr seltenen Fällen möglich ist, ein Kunstwerk allein von seinen Komponenten her zu charakterisieren. Es gibt Ausnahmen wie die Landschaftskunst, die sich auf natürliche Landschaften bezieht. Doch wenn wir von integraler Kunst reden, gibt es eine integrale Art und Weise Landschaften zu betrachten und eine nicht-integrale Art und Weise. Es gibt eine integrale Art und Weise und eine nicht-integrale Weise Spiritualität zu betrachten. Es gibt eine integrale Art und Weise den Geist zu betrachten, seine Inhalte und Vorstellungen, und eine nicht-integrale Weise dies zu tun. Keine dieser Merkmale und Komponenten an sich definiert daher integrale Kunst. Das Entscheidende dabei ist das Bewusstsein, welches das Kunstwerk erschafft. Dieses Bewusstsein muss im Augenblick der Erschaffung integral sein, wenn es sich um integrale Kunst handeln soll. Der Künstler oder die Künstlerin „sieht“ [hört] das Kunstwerk dabei durch integrale Augen [oder Ohren]. Dabei kann es sich um Phänomene aus dem sensorischen Bereich handeln, oder aus dem mentalen Bereich, oder aus dem spirituellen Bereich – wenn wir von integraler Kunst reden, dann wird diese durch integrale „Augen“ des Künstlers oder der Künstlerin erschaffen und gesehen. Derartige Kunst werden wir mehr und mehr sehen, so wie auch das integrale Bewusstsein sich weiter verbreitet (und damit auch andere Disziplinen wie integrale Ökonomie, integrale Geschichtsbetrachtung, integrale Bildung und Erziehung, integrale Politik usw.) ...


Frage: Wie würdest du transzendente Kunst beschreiben – Kunst, die auch als transpersonal bezeichnet wird und deren Bezug zu den drei Modi des Wissens, dem Auge des Fleisches, dem Auge des Geistes [mind] und dem Auge des GEISTES [spirit]?

KW: Das hängt auch davon ab, was wir unter „transzendent“ verstehen. Das Wort bezieht sich in unserem Kontext nicht nur auf das Subjekt, welches das Kunstwerk erstellt, sondern auf das Objekt, um das es dabei geht. Es gibt Bereiche, Dimensionen und Ebenen des Bewusstseins oberhalb des Rationalen und Verbalen, diese werden oft mit dem Begriff „transzendent“ beschrieben, im Vergleich zu den gewöhnlichen Bewusstseinszuständen. In diesem Sinn ist transzendente Kunst eine Kunst, die einige dieser höheren Dimensionen darstellt. Du sprichst von immanenter und transzendenter göttlicher Kunst. Das Göttliche von immanenter Kunst bedeutet, dass wir darin einen spirituellen Inhalt finden, auch wenn wir gewöhnliche Dimensionen der Wirklichkeit betrachten. Das Göttliche ist in dieser Kunst enthalten, wir schauen durch göttliche Augen, der Seinsgrund scheint durch den Betrachtungsgegenstand hindurch, in unseren normalen Bereich hinein. Das wäre göttlich-immanente Kunst. Kunst hingegen, die Aspekte des GEISTES betrachtet, die nicht gewöhnlich sind, außergewöhnliche oder transzendente oder transpersonale Bereiche und Zustände, das wäre transzendente göttliche Kunst. Dies wäre eine von vielen möglichen Definitionen, um darüber zu sprechen ...

Transzendente Kunst hat etwas zu tun mit außergewöhnlichen Zuständen, Bereichen, Ebenen und Phänomenen, entweder mit Bereichen, die höher sind, oder mit gewöhnlichen Bereichen, die in ihrem spirituellen Seinsgrund gesehen werden, ein GEIST in allen Dingen und Ereignissen. Immanente Kunst sieht gewöhnliche Objekte wie Felsen, Bambusstöcke, einen Ozean oder Menschen als Manifestationen des Göttlichen. Dadurch wohnt in allem ein Leuchten, eine Transparenz und ein Strahlen. Derartige Qualitäten sollten in immanenter göttlicher Kunst sichtbar werden. Kunst hingegen, die sich mit Aspekten von Spiritualität beschäftigt, die nicht-gewöhnlich sind – dies können höhere Formen von Energie sein, oder höhere Bewusstseinsebenen, archetypische Ebenen und Dimensionen der Wirklichkeit – diese Kunst wird auch als transzendent- göttlich bezeichnet.

EL: Wie hängen dann integrale Kunst und transzendente Kunst zusammen?

KW: Integrale Kunst kann, muss sich aber nicht mit konkreten Dimensionen von Wirklichkeit beschäftigen. Ein integrales Bewusstsein ist ein integral informiertes Bewusstsein, das im Seinsgrund verankert ist. Es ist sich der Einheit und Verbundenheit aller Dinge und Ereignisse bewusst. Dabei müssen nicht notwendigerweise sensorische und mentale und transzendente Phänomene dargestellt werden, sei es auf der Leinwand oder in einem Musikstück. Es ist das holistische Empfinden und die holistische Natur des Ausdrucks des Bewusstseins, welche das Kunstwerk erschafft. Der Ausdruck kann im Bild einer einfachen Landschaft liegen, oder dem Malen mentaler Symbole, oder in spirituellen Themen. Integrale Kunst kann ein jedes Objekt zum Gegenstand seiner Kunst machen, doch dieses Objekt wird gesehen, gefühlt und zum Ausdruck gebracht durch ein integrales Bewusstsein. Integrales Bewusstsein wird diese einheitliche Verbundenheit sehen, fühlen und sich ihrer bewusst sein, auch in der Betrachtung eines Felsens oder eines Bambusstabes. Dieses Einheitserleben findet sich dann auf eine mysteriös-wunderbare Weise in dem Kunstwerk wieder und wurde dorthinein „übertragen“. Dies gilt für alle dargestellten Objekte. Spirituelle Kunst hingegen ist Kunst, die als darstellendes Objekt Objekte mit einer spirituellen Dimension nimmt, spirituelle Energien, transzendente Kundalini-Chakren oder ein anderes spezifisch spirituelles Phänomen. Dieses Phänomen kann wiederum auf integrale Weise gesehen werden oder auchnicht. Wenn der Künstler oder die Künstlerin nicht nur ein spirituelles oder transzendentes göttliches Phänomen darstellen möchte, sondern auch erwacht ist zur integralen Natur des Bewusstseins, dann wird dieses Kunstwerk nicht nur ein spirituelles Kunstwerk, sondern ein integrales Kunstwerk sein, mit einer zusätzliches Dimension eines intuitiven Verstehens, Sehens und Fühlens der Verbundenheit allen Seins. Dies kann in einem sensorischen Objekt, einem mentalen oder einem spirituellen Objekt dargestellt sein, das hängt vom dem Kunstwerk ab, um das es geht ...

Die immanent göttliche Kunst oder die transzendent göttliche Kunst, in den Definitionen, über die wir gesprochen haben, können also integral oder auch nicht integral sein, das hängt vom Bewusstsein des Künstlers oder der Künstlerin ab. Es gibt Vorstellungen von Spiritualität wie den Pantheismus, der Spiritualität lediglich als immanent betrachtet, und ein Künstler, der dies tut, wird daher Spiritualität immer in einer immanenten Form darstellen. Jemand mit einem integralen Bewusstsein hingegen versteht, dass GEIST sowohl immanent als auch transzendent ist, sowohl manifest als auch unmanifest. Das Bewusstsein der Künstlerin ist zu beidem erwacht, den transzendenten wie den immanenten Dimensionen des GEISTES, unabhängig davon, welcher Aspekte davon im Kunstwerk zum Ausdruck kommt. Erschafft ein Künstler mit einem integralen Bewusstsein ein Kunstwerk mit Bezug zum Immanenten, dann ist er oder sie sich dennoch des Transzendenten (Göttlichen) dabei bewusst, auch wenn dies in diesem Kunstwerk nicht dargestellt wird. Doch es gibt einen Einfluss des Transzendenten auf die Darstellung des immanent Göttlichen.

Integrale Kunst kann ein jedes Objekt zum Gegenstand ihrer Kunst machen, doch dieses Objekt wird gesehen, gefühlt und zum Ausdruck gebracht durch ein integrales Bewusstsein.

Auf der anderen Seite gibt es Vorstellungen von Spiritualität, die Spiritualität als ausschließlich transzendent betrachten und als „nicht von dieser Welt“, als unmanifest. Die manifeste Welt wird dabei als nicht-spirituell oder als nicht-real oder eine Illusion gesehen. Sie wird nicht mit der gleichen Ehrfurcht betrachtet wie das als höherwertig geglaubte Transzendente. Ein Künstler dieses Bewusstseins kann eine transzendente Kunst erschaffen, die jedoch nicht integral ist. Ist die Künstlerin jedoch integral und hat erkannt, dass sowohl transzendente als auch immanente Dimensionen der Spiritualität existieren, dann kann eines von beiden oder beides in einem Kunstwerk dargestellt werden. In jedem Fall wird das Bewusstsein der Künstlerin immer diese Vollständigkeit und Ganzheit zum Ausdruck bringen. Dies geschieht auf eine geheimnisvolle, manchmal intuitive, manchmal offensichtliche Weise, aber es geschieht. Die Ganzheit und Vollständigkeit der Wirklichkeit wird verstanden und Dualismen werden vermieden – Immanenz versus Transzendenz, endlich versus unendlich, zeitlich versus ewig ...

Dieses „nichts Auslassen“ ist ein Kennzeichen integraler Bewusstheit. Ob die Kunst nun immanent oder transzendent oder visionär oder realistisch oder marxistisch oder feministisch ist – all dies kann integral oder nicht integral sein. Entscheidend ist das Bewusstsein oder die Bewusstheit des Künstlers oder der Künstlerin ... Bei allem, was das integrale Bewusstsein berührt, wird dieses Ganzheitsverständnis und Erleben übertragen. In diesem Sinn kann auch die Darstellung eines Bambusstabes integrale Kunst sein. Definiert man integral hingegen als „alles, was es gibt“, dann müsste eine so definierte integrale Kunst auch „alles“ darstellen, und die Darstellung eines einzelnen Bambusstabes wäre unvollständig, fragmentiert, Stückwerk, usw. Große wirklich integrale Kunst hingegen kann in der Darstellung eines Sandhaufens das gesamte Universum sichtbar machen. Dabei kann es sich um bildliche Darstellungen, Texte, Musik, Tanz oder welchen künstlerischen Ausdruck auch immer handeln. Jedes Phänomen des Kunstwerkes steht in Verbindung mit jedem Phänomen des gesamten Universums, diese Verbindung kann explizit und konkret dargestellt oder auch implizit vorhanden sein. Dieser Unterschied ist wichtig. Manche Menschen verwechseln das Integrale mit einer Art von Ansammlung oder Anhäufung von allem, eine Totalsumme von irgendetwas. Das Integrale kann diese Additionen beinhalten, doch es geht im Wesentlichen um das grundlegende Verständnis und die Bewusstheit der Einheit von allem. Es ist dann immer noch möglich, aber nicht notwendig, sich jedes einzelne Teil der Welt anzuschauen. Das Integrale geht von der Unmittelbarkeit dieses und jedes Augenblicks aus, als ein nicht-duales Ereignis, das sich nicht in dualistischen Begriffen erfassen lässt, aber alle möglichen Dualitäten umfasst. Die Gegenwart ist so sowohl zeitlich als auch zeitlos und sie ist ebenso dimensionslos wie auch ein bestimmter Punkt im Raum ... Das Bewusstsein integraler Künstler ist eingetaucht in dieses integrale Erfassen der Nichtdualität und Soheit und Ganzheit. Doch diese Ganzheit transzendiert spezifische Ganze und Teile. Alle möglichen Teile und Ganzheiten sind darin enthalten.

Quelle: IP 15 – 03/2010

 

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