Versuch einer Konkretisierung am Beispiel der Musik
Wolfgang-Andreas Schultz
Es war in den späten siebziger Jahren, als die Ideen von Jean Gebser1 unter Musikern bekannt wurden durch Peter Michael Hamels Buch „Durch Musik zum Selbst“2.
Im Gegensatz zu dem von Adornos Anhängern damals noch propagierten „Fortschritts des Materials“3 mit allen Verboten, was man nicht komponieren durfte, war die integrale Position gerade dadurch gekennzeichnet, dass es nicht nur möglich, sondern gerade gefordert war, frühere, bislang ausgegrenzte Ausdrucksformen einzubeziehen. Eine wunderbare Vision!
Die Bücher von Gebser und Hamel warfen viele Fragen auf. Zunächst zeigt sich, wie schwierig, vielleicht sogar unmöglich es ist, eine allgemeine Theorie der integralen Kunst zu formulieren. Vieles, wie etwa das Verhältnis zur Zeit, stellt sich für die Musik als Zeitkunst ganz anders dar als für die bildenden Künste. Auch ließen Gebsers eigene Beispiele aus dem Bereich der Musik Fragen offen: Ist atonale Musik integral, wo sie doch alle tonalen Ausdrucksmittel ausgrenzt? Vielleicht war Gebser zu ungeduldig und versuchte in der modernen Kunst seiner Zeit Zeichen einer integralen Kunst zu finden – doch erst die Postmoderne, nach den ausgrenzenden „Ismen“ der Moderne das Ausgegrenzte wieder einschließend, konnte den Blick frei machen für die Vorboten einer integralen Kunst – was Gebser nicht mehr miterlebte.
I.
Wenn man vom Übergang zur integralen Bewusstseinsebene spricht, wird meist vorausgesetzt, dass die Epochen vorher ausschließlich ihre eigenen Paradigmen lebten und die vorausgehenden dämonisierten und ausgrenzten. Das mag für viele Bereiche der Gesellschaft und der Bewusstseinsgeschichte zutreffen, aber der Blick auf die Musikgeschichte der letzten 500 Jahre zeigt ein etwas differenzierteres Bild. Möglicherweise ist Integration, das Streben nach seelischer Ganzheit im Sinne der Psychologie von C.G. Jung, schon immer als Entwicklungsprinzip wirksam gewesen.
1 Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart, zuerst Stuttgart 1949
2 Peter Michael Hamel: Durch Musik zum Selbst, zuerst Bern-München-Wien 1976
3 Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, zuerst Frankfurt 1958
4 Dazu: Wolfgang-Andreas Schultz: Avantgarde.Trauma.Spiritualität – Vorstudien zu einer neuen Musikästhetik, Mainz 2014.
5 Abstrakte Malerei und atonale Musik als Kunst des freien Westens versus Gegenständlichkeit und Tonalität als Kunst der Diktaturen, eine Sicht, die schon durch den italienischen Futurismus widerlegt wird, der dem Faschismus nahestand.
6 Die Lektüre von Hermann Hesses Roman unter diesem Aspekt würde sich lohnen.
7 Kent Nagano: Erwarten Sie Wunder, Berlin 2014, S. 226, wo er die Thesen von Daniel Levitin referiert.
8 Aaron Antonovski: Salutogenese, Tübingen 1997.
9 Friedrich Schiller: Kallias oder über die Schönheit.
10 Dazu: Jan Assmann: Moses der Ägypter, München-Wien 1998.
11 Dazu: Wolfgang-Andreas Schultz a.a.O.
Wolfgang-Andreas Schultz
geb.1948 in Hamburg, Studium von Musikwissenschaft und Philosophie; Kompositions-Studium bei György Ligeti, 1977 dessen Assistent, seit 1988 Professor für Musiktheorie und Komposition in Hamburg. Zahlreiche im In- und Ausland aufgeführte Werke, mehrere CDs, zuletzt: „Japanische Landschaften“ ( C2Hamburg 2013).
(aus: Integrale Perspektiven Nr. 31)
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