Logo Integrale PerspektivenIm Chronos Verlag ist der dritte Band der Jean-Gebser-Reihe ( JGR) erschienen, sein Titel: «Vom spielenden Gelingen». Er umfasst Vorträge und Essays ab 1956, den Reisebericht «Asien lächelt anders» (1968) und die posthum erschienene Textsammlung «Verfall und Teilhabe» (1974). Eingeleitet wird der Band mit zwei Aufsätzen der Herausgeber: Elmar Schübl porträtiert Jean Gebser als «Reisende[n] und Erkunder von Bewusstseinswelten», Rudolf Hämmerlis Notizen zum hier versammelten philosophischen Spätwerk tragen den Titel «Der Einbruch des Zugleich».

Das bewusstseinstheoretische Instrumentarium

Jean Gebsers zentrale Idee, dass es hier und heute um die «Herausbildung eines neuen Bewusstseins» gehe, war dem kaum 28jährigen bereits «im Winter 1932/33 in einer blitzartigen Eingebung bewusst» geworden (S. 345). Im ersten Band seines Hauptwerks «Ursprung und Gegenwart» präsentierte er 1949 die Struktur einer ganzen Bewusstseinsgeschichte: Über die Jahrtausende sei das menschliche Bewusstsein in Mutationen übergegangen vom archaischen über das magische und das mythische in das mental-rationale. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts nun kündige sich als vierte Mutation der Übergang zum integralen Bewusstsein an. Diese fünf Bewusstseinsebenen lösten sich in der Zeit aber nicht ab, sondern seien unterschiedlich akzentuiert stets alle vorhanden. Denn: «Ursprung ist immer gegenwärtig, Gegenwart ist […] immer ursprünglich.» ( JGR Bd. 1/1, S. 63) Um diese Gleichzeitigkeit hervorzuheben, ersetzte Gebser den zeitlich gliedernden Begriff «Bewusstseinsebene» später mit «Bewusstseinsstruktur» und schliesslich mit «Bewusstseinsfrequenz»(S. 272).

Der nun erschienene Band dokumentiert Gebsers unaufhörliches Bestreben, in Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, mit der er sich konfrontiert sieht, seine bewusstseinsgeschichtliche Theorie auszudifferenzieren und weiterzuentwickeln. Denn für ihn ist klar: Das zurzeit dominierende Bewusstsein ist unrettbar verstrickt in «die rationale Sackgassen-Situation des nichts-als-gegensätzlichenden Denkens» (S. 279). Nötig sei deshalb die Überwindung dieser «materialistisch-final betonten Betrachtungsweise» durch «eine geistig-integrale» (S. 65).

Gebsers Feldforschung in Ostasien

Jean Gebser wäre ein Esoteriker gewesen, wenn er sich seine Bewusstseinsgeschichte bloss besserwisserisch aus den Fingern gesogen hätte. Das hat er aber nicht getan. Schon im zweiten Band von «Ursprung und Gegenwart» (1953) hat er sein theoretisches Konzept an den aktuellen Erkenntnissen natur- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen erprobt – an Mathematik, Physik und Biologie ebenso, wie an Psychologie, Philosophie, Recht, Soziologie und Ökonomie. Seither hat er aus dieser breiten kulturphänomenologischen Perspektive immer neue Indizien zusammengetragen und beschrieben, die auf die vierte Bewusstseinsmutation und auf das Erstarken des integralen Bewusstseins verweisen.

Im Hauptstück des nun erschienenen Bandes erprobt Gebser seine Arbeitsmethode an der Reiseschriftstellerei. Vom Frühling bis zum Sommer 1961 bereist er den ostasiatischen Kontinent von Indien über China bis nach Japan. Im folgenden Jahr veröffentlicht er die «Asienfibel». Diese Arbeit erweitert er bis 1968 zum hier dokumentierten Buch «Asien lächelt anders. Ein Beitrag zum Verständnis östlicher Wesensart».

In diesem Reisebericht geht es zum Beispiel um die merkwürdige Art, wie Taxifahrer in Tokio abrechnen; um eine Porzellangeschirrsendung aus China, die mit vierzigjähriger Verspätung in Bern eintrifft; um ein Zusammentreffen mit dem damals kaum 26jährigen Dalai Lama in Dharamsala oder eines mit dem «bedeutendsten Zen-Meister unseres Jahrhunderts», Daisetz Teitaro Suzuki, in Kita-Kamakura. Es geht um den asiatischen Mutterkult und um die Soeur Thérèse in Kalkutta, «eine albanische Nonne», die Jahrzehnte nach Gebsers Tod, 2016, vom Papst als Mutter Teresa heiliggesprochen worden ist.

Das Risiko der Zeitgenossenschaft

Aber um all das und vieles mehr geht es aus Gebsers spezifischer Perspektive: Es geht darum, aus dem Beobachteten und Erfahrenen auf die Eigenheiten des Bewusstseins der Menschen zu schliessen. Es geht darum, wie die asiatischen Glaubens- und Weisheitslehren die Bewusstseinsstrukturen so beeinflussen, dass das, was aus seiner europäischen Perspektive manchmal merkwürdig erscheint, zur Normalität eines Alltags werden kann. Intensiv setzt er sich neben dem Hinduismus mit verschiedenen Formen des Buddhismus, mit Taoismus und Shintoismus auseinander. Diese Lehren stehen damals in China im Gegensatz zu Mao Tse-Tungs dialektisch-materialistischem «Grossem Sprung nach vorn». Gebser kommt verschiedentlich darauf zu sprechen und stellt fest, dass das «marxistisch-leninistische Denken» für die Chinesen «das Vehikel» sei, «um unsere Denkweise zu erlernen» (S. 211).

Dass dieser «Grosse Sprung nach vorn» für die chinesische Bevölkerung eine harte Zeit ist, ahnt Gebser, wenn er auf dem Bürgerstieg in Peking eine Frau beobachtet mit einem Gesicht, das «vom Hunger bereits ausgezehrt» ist und einfühlsam das «kleine Lächeln» dieser Frau beschreibt, «ohne Hass, ohne Verachtung, ohne Zorn» (S. 143). Heute kann man wissen: Der damaligen, auch politisch verursachten Hungersnot, fielen mindestens 45 Millionen Menschen zum Opfer, nebst 2,5 Millionen Toten durch «Misshandlung und Folter» und mindestens einer Million durch Suizid.1 Davon scheint der Reisende Gebser nichts zu erfahren. Er sieht vor allem die geistigen Bezüge zwischen Ost und West, «die Teilhabe an der Transparenz des Geistigen in ähnlichen Formen […], was auf die Erstarkung des neuen (supramentalen, nicht mentalen, arational-integralen, immer jedoch zeitfreien) Bewusstseins im Abendlande und in Asien hinweist» (S. 239).

Neues Bewusstsein oder Untergang

Die Hoffnung, die Jean Gebser aus dieser Schlussfolgerung zieht, nennt er die «Grosse Begegnung», die sich zwischen Ost und West anbahne. Allerdings: «Wenn die ‹Grosse Begegnung› Wirklichkeit werden soll, so gewiss nicht dadurch, dass der Westen den Osten rational durch die Europäisierung oder Amerikanisierung besiegt oder umgekehrt der Osten den Westen in eine irrationale Knechtschaft und Abhängigkeit zu zwingen sucht. Wo es Sieger gibt und Besiegte, da wird es nie Frieden geben. Und der Friede ist die Voraussetzung für die ‹Grosse Begegnung›.»

Fünfzig Jahre, nachdem Gebser die Hoffnung auf diese «Grosse Begegnung» formuliert hat, ist es schwer, sie nicht endgültig zu verlieren. Er formulierte sie so klar, weil «der Verstand, seit er die Vernunft verlor, […] sich zu blosser Ratio erniedrigt» habe (S. 356) und deshalb dringend überwunden werden müsse. Dieser Verstand ohne Vernunft dominiert aber auch heute – wie zu Gebsers Zeit im Kalten Krieg – ungebrochen die politischen Diskurse: Der gesellschaftliche Reichtum wird solange von unten nach oben umverteilt, bis die Kosten zur Bekämpfung sozialer Unruhen zu teuer werden. Die Kämpfe um die verbliebenen Ressourcen der Welt (inklusive Wasser) werden immer bedrohlicher. Und die Klimakatastrophe wird von den Zuständigen routinemässig zur «Klimaveränderung» beschönigt, die mit dem Handeln der Menschen sowieso nichts zu tun habe.

Tatsächlich: Der politische Verstand hat die Vernunft längst verloren. Darum mahnt in seinem philosophischen Spätwerk Jean Gebser leitmotivisch, die Mutation zum integralen Bewusstsein nicht zu verpassen. Er warnt davor, dass «das Frank Dikötter: Maos Grosser Hunger. Massenmord und Menschenexperiment in China (1958–1962). Stuttgart (Klett-Cotta) 2014, S. 387, 395 + 431. heutige Europa nahe am Abgrund lebt» (S. 39) und dass die heutige Menschheit ohne «Intensivierung des Bewusstseins […] infolge Missbrauchs und Leerlaufs rationaler Fähigkeiten zugrunde gehen» werde (S. 64). Ohne eine neue Lebensgestaltung durch das integrale Bewusstsein seien «Welt und Menschheit zum Tode verurteilt» (S. 60).
Gegen diesen selbstzerstörerischen Verstand ohne Vernunft und um nicht in den «Chor der Niedergängler» (S. 352) einstimmen zu müssen, formuliert er seine Hoffnung: «In dem Masse, wie wir das neue, das integrale Bewusstsein auszubilden vermögen, wachsen uns die Kräfte zu, dank deren wir der Menschheit und damit auch uns die Chance geben, noch einmal zu überleben.» (S. 292)

Gebser hat recht, obschon er irrte

Jean Gebser ist ein brillanter Schriftsteller. Vielsprachigkeit und differenzierende Sprachbegabung ermöglichen ihm immer wieder, überraschende Bezüge zu schaffen. Nur ein Beispiel: Aus der Wortreihe «mater» und «Materie» schliesst er auf einen ins Patriarchale gedrehten Mutterkult, wie er sich im «Materialismus» zeige, «der uns alle zu verschlingen droht». (S. 181)

Dass sich bei den verwendeten empirischen Beispielen im Spätwerk ab und zu Redundanzen ergeben, weist viele der präsentierten Texte einerseits als Gebrauchsschriftstellerei aus, andererseits muss man berücksichtigen, dass Gebser seit einem gesundheitlichen Zusammenbruch 1966 nur noch eingeschränkt arbeiten und kaum noch reisen konnte. Seither war die Konfrontation mit neuen Wirklichkeiten immer seltener möglich.

Mag sein, es ist auch diesem Umstand geschuldet, dass Gebser in den letzten Jahren den Gegensatz: Neues Bewusstsein oder Untergang manchmal allzu stark ins Zentrum rückte. Am Schluss des grossen Essays «Der unsichtbare Ursprung» behauptet er 1970 zum Beispiel, die Menschheit werde «in den drei kommenden Dezennien […] heute noch kaum vorstellbare Opfer bringen müssen: Verfrühte Tode von Aber- und Abermillionen. Hoffen wir, dass die Aura unserer Erde nicht für Jahrtausende vergiftet aus diesem Verseuchen und Töten hervorgeht.» (S. 350)

Der grosse Atomkrieg, auf den der Autor hier zweifellos anspielt, ist bis heute ausgeblieben. Trotzdem ist die Hoffnung auf einen durch integrales Bewusstsein erleuchteten politischen Verstand, der dadurch wieder zur Vernunft käme, so aktuell wie damals.

Gebser hat trotz dem nicht stattgefundenen Atomkrieg recht: Es muss sich dringend etwas ändern. Das die Menschen dominierende Bewusstsein hilft nicht mehr weiter – wegen der «Fehlerhaftigkeit des Fortschrittsgedankens» (S. 367), wegen «dem vorherrschenden Zerstörungswillen» (S. 325), wegen «unmenschliche[m] Eigennutz» und der «Verpestung der wichtigsten Elemente des Lebens» (S. 350). Wie anders als durch ein neues Bewusstsein könnten Verstand und Vernunft wieder zueinander finden?

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