„Ursprung und Gegenwart“
„Lass mir diese, meine Stimme“
„Vom spielenden Gelingen“
„Ein Mensch zu sein“
„Eine Freundschaft“
Das sind die prägnanten, klangvollen und auch stimmigen Titel der fünf Bände unserer neuen Jean-Gebser-Reihe (JGR) bei Chronos, deren vierter Band Ein Mensch zu sein im Herbst 2020 erschienen ist. Der neuste Band umfasst autobiografische Texte, Aphorismen und Notizen sowie Gedichte. Es ist wieder ein überaus ansprechendes Buch geworden. Für die schöne Gestaltung und die gute Betreuung gilt mein Dank dem Verlagsleiter Hans-Rudolf Wiedmer und seinem ganzen Team, das mit großer Sorgfalt und viel Gespür wieder eine tolle Arbeit geleistet hat. Herzlich bedanken möchte ich mich auch beim Vorstand der Gebser-Gesellschaft, der das Editionsprojekt nach Kräften unterstützt und fördert.
Ein Mensch zu sein ist bereits der vorletzte Band der JGR. Die Herausgabe der auf fünf Bände konzipierten Reihe bei Chronos ist ein sehr ambitioniertes Projekt, das Rudolf Hämmerli und mich schon zehn Jahre beschäftigt. Wir haben als Herausgeber von vielen Menschen Unterstützung erfahren; aus diesem Kreis seien drei genannt: Gina Maria Schneider und Lukas Dettwiler, die maßgeblich zur Herausgabe von Lass mir diese, meine Stimme beigetragen haben, und Magnus Wieland, der im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA, Bern) für Gebsers Nachlass zuständig ist. Es ist wirklich eine Freude mit ihm zusammenarbeiten! Seine Unterstützung war diesmal besonders wichtig, weil viel bislang Unveröffentlichtes in Ein Mensch zu sein erstmals abgedruckt ist. Sie dürfen sich also auf so manche Entdeckung bei der Lektüre des neuen Bandes freuen!
Erinnern möchte ich an die Konzeption der Gebser-Reihe und an die Ansprüche, die an die JGR geknüpft sind. Als um 2010 absehbar war, dass die Gebser-Gesamtausgabe im Novalis-Verlag bald vergriffen sein würde, stellte sich eine grundsätzliche Frage: Sollte die achtbändige Gesamtausgabe eine weitere Neuauflage erleben? – Oder soll sie durch ein neues Editionsprojekt bei einem anderen Verlag ersetzt werden? Für das Wagnis eines Neubeginns sprachen mehrere Gründe:
- Weniger ist oft mehr. Deshalb beschränkt sich die JGR auf jene Werke, die aus Sicht ihrer Herausgeber für künftige Leserinnen und Leser im Buchhandel auf jeden Fall verfügbar sein sollten.
- Die Aufnahme von bislang Unveröffentlichtem aus Gebsers Nachlass; also Erstveröffentlichungen, die aus Sicht der Herausgeber eine Bereicherung und Ergänzung des bislang Bekannten darstellen.
- Gebsers Werk Menschen näher zu bringen, die bislang keine Kenntnis davon nahmen. Das ist nicht zuletzt eine Frage der Verlagswahl.
Aus Sicht der Herausgeber sollte der neue Verlag idealerweise mehrere Kriterien erfüllen. Er sollte eine feste Größe in der deutschsprachigen Verlagslandschaft sein und im besten Fall seinen Sitz in der Schweiz haben. Da sich Gebsers Werk stark durch Transdisziplinarität auszeichnet und gerade deswegen so anregend auf viele Menschen mit ganz unterschiedlichen fachlichen und beruflichen Hintergründen wirkt, sollte der neue Verlag auch über ein breites Programm verfügen und dafür bekannt sein, dass seine Bücher stets Gehaltvolles bieten. Und natürlich wünschten wir uns, dass dieser Verlag sich durch sorgfältig und ansprechend gestaltete Bücher auszeichnet. Auch Jean Gebser hat solche Bücher geschätzt.
Das setzt voraus, dass der Verlag über Möglichkeiten verfügt, die heute leider keine Selbstverständlichkeit mehr sind. Da ist auch ein Bezug zum Titel „Ein Mensch zu sein“ gegeben. Denn es braucht im Verlag kompetente und engagierte Menschen, die zu ihrer Arbeit berufen sind und sich auch die Zeit nehmen, um in Zusammenarbeit mit Autoren und Herausgebern das Bestmögliche aus einem gemeinsamen Projekt zu schaffen. Es geht dabei um eine aufmerksame Anteilnahme, und zwar von der Verlagsleitung, dem Lektorat und dann auch von jenen, die sich um die Medienarbeit kümmern. Der Chronos Verlag in Zürich bietet erfreulicherweise all diese Möglichkeiten. Er erfüllt auch die zuvor genannten Kriterien, die eben die Chance erhöhen, dass Gebsers Werk, über den Kreis der gewachsenen Leserschaft hinaus, auch neue Leserinnen und Leser erreicht. Durch die Publikation meiner Gebser-Biografie Jean Gebser (1905–1973). Ein Sucher und Forscher in den Grenz- und Übergangsgebieten des menschlichen Wissens und Philosophierens (2003) war bereits ein Bezug zum Verlag gegeben, und ich bin sehr glücklich, dass auch unsere in frischem Grün gehaltene Jean-Gebser-Reihe bei Chronos erscheint.
Die Gliederung der fünf Bände umfassenden JGR bringt eine stimmige Ordnung zum Ausdruck. Die einzelnen Bände bilden zusammen nämlich ein Sinngefüge. Gebsers Hauptwerk Ursprung und Gegenwart ist selbstverständlich der erste Band der Reihe, der 2015, in Anlehnung an die Erstausgabe von 1949 und 1953, in zwei Teilen erschienen ist. Es galt zuallererst sicherzustellen, dass Gebsers Klassiker der Bewusstseinsforschung ohne Unterbrechung im Buchhandel erhältlich ist. Der zweite Band Lass mir diese, meine Stimme umfasst im Wesentlichen jene Werke, die Gebser vor Ursprung und Gegenwart geschrieben hat sowie Gebsers Übersetzungen spanischer Lyrik. Dieser 2016 vorgelegte Band verdeutlicht, dass Gebser von der Dichtung und der literarischen Übersetzungstätigkeit her kommend zum Philosophieren gefunden hat. Und er rückt Gebser als Übersetzer ins Licht. Gebsers Übersetzungen aus dem Spanischen sind durch Erstveröffentlichungen deutlich vermehrt worden. Darüber hinaus sind auch die spanischen Fassungen berücksichtigt worden und die Hispanistin Gina Maria Schneider von der Universität Zürich hat einen einführenden Essay beigesteuert. Der dritte Band Vom spielenden Gelingen versammelt Vorträge, Essays und Schriften, die nach Ursprung und Gegenwart entstanden sind, und bündelt somit das philosophische Spätwerk Gebsers. Mit diesem 2018 erschienenen Band wurde ein erstes großes Etappenziel erreicht: Das zu Lebzeiten Gebsers publizierte philosophische Werk ist seitdem wieder im Buchhandel verfügbar.
Die JGR ist das Ergebnis einer guten und fruchtbaren Zusammenarbeit, für die ich mich bei Rudolf Hämmerli herzlich bedanken möchte. Als wir uns 1997 bei einer Gebser-Tagung in Schaffhausen persönlich kennengelernt hatten, war diese Begegnung schon von Sympathie getragen. Sie ist gewiss eine gute Voraussetzung für ein gemeinsames Arbeitsvorhaben, das uns jetzt schon viele Jahre beschäftigt. Zwischen uns besteht Einigkeit im Grundsätzlichen. Das ist für ein Editionsprojekt dieser Größenordnung wichtig. Aber natürlich gibt es auch manchmal Differenzen, was die Auswahl betrifft. Diesbezüglich ist der aktuelle Band die wohl größte Herausforderung gewesen, da wir sehr viel Neues aufgenommen haben. Und auch diesmal hat sich unser Austausch bewährt, der im Zuhören, dem Bedenken, dem nochmaligen Lesen und dem Argumentieren für oder gegen die Aufnahme eines Textes oder Fotos liegt. Das sind spannende und ergiebige Aushandlungsprozesse, die – und das finde ich ganz wunderbar – bislang stets Lösungen brachten, die wir beide gut verantworten können. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern etwas, das ich in unserer Zusammenarbeit als Geschenk empfinde. Es ist wirklich schön, wenn man so im intensiven Austausch und einander gut ergänzend ein großes Editionsvorhaben Band für Band zu einem guten Abschluss bringt. Durch dieses gemeinsame Schaffen ist über die Jahre eine freundschaftliche Verbundenheit gewachsen, die ich nicht mehr missen möchte. Erfreulicherweise haben wir ja noch einen Band vor uns, der 2022 einen stimmigen Abschluss der Reihe bilden soll. Der fünfte und letzte Band wird den Briefwechsel zwischen Jean Gebser und Jean Rudolf von Salis umfassen; sein Titel lautet: „Eine Freundschaft“.
Ein Novum der JGR ist, dass Rudolf Hämmerli und ich Einführungstexte schreiben, die den einzelnen Bänden den biografischen und philosophischen Kontext geben und zugleich Hinweise auf neue Zugänge zum vielschichtigen und beziehungsreichen Werk Gebsers bieten. Im aktuellen Band Ein Mensch zu sein hat Rudolf Hämmerli seine Erinnerungen an den Menschen Jean Gebser zusammengefasst. Er weist darauf hin, dass Gebser auch als Mensch für sein Werk ein Schlüssel sein kann. Gebsers großes Anliegen, das integrale Bewusstsein, ist eben eine spezifische Lebenshaltung, die nicht zuletzt im Alltag zum Ausdruck kommt.
Gebsers vom Dichterischen genährtes Philosophieren ist der Vollzug seiner Existenz gewesen. Das ist die zentrale Aussage meiner Einführung im dritten Band Vom spielenden Gelingen. In meinem Denken ist über die Jahre, gerade auch in der Auseinandersetzung mit Gebsers Werk, die Hermeneutik als umfassende und tiefgründige Kunst des Verstehens immer stärker in den Fokus gerückt. Im hermeneutischen Licht hat sich mir ein neuer Zugang zu Gebsers Bewusstseinsphilosophie eröffnet. Dieser hermeneutische Weg führt schließlich zur Frage: Was ist der Mensch? So lautet auch der Titel meines einführenden Textes in Ein Mensch zu sein. Dieser Titel ist Gebsers Arbeitstitel für ein großes autobiografisches Vorhaben gewesen. Seine „Nachzeichnungen aus einem Leben“, so lautet der Untertitel, sind aber nur zum Teil ausgeführt worden und beschränken sich auf die Kindheit und Jugend („Die schlafenden Jahre“).
„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“, sagt Rilke im Stunden-Buch, das im Geburtsjahr Gebsers 1905 erschienen ist. Diese Aussage trifft auch auf das Leben von Gebser zu. Die in Ein Mensch zu sein versammelten Texte zeugen davon. Zugleich schließt sich mit dem vierten Band ein großer Kreis, der die drei zuvor publizierten Bände gleichsam umgreift und zum Ursprung von Gebsers schöpferischen Sein zurückführt – seine Gedichte beschließen ihn.
PD Dr. Elmar Schübl (Jg. 1969) ist ein ausgebildeter Historiker und promovierter Philosoph, der sich für Wissenschaftsgeschichte habilitiert hat. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Philosophische Hermeneutik. Er ist Autor einer Gebser-Biografie und gemeinsam mit Rudolf Hämmerli Herausgeber der neuen fünfbändigen Jean-Gebser-Reihe, die im Verlag Chronos (Zürich) erscheint. Schübl ist als Lehrbeauftragter an der Universität Graz und anderen Institutionen tätig; er lebt und arbeitet als freischaffender Historiker und Philosoph in Wien.
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Jean-Gebser-Reihe im Verlag Chronos
Jean Gebser
Ursprung und Gegenwart
Erster Teil: Die Fundamente der aperspektivischen Welt. Beitrag zu einer Geschichte der Bewusstwerdung / Zweiter Teil: Die Manifestationen der aperspektivischen Welt.
Versuch einer Konkretion des Geistigen.
Herausgegeben und mit Einführungen von Rudolf Hämmerli und Elmar Schübl
Jean-Gebser-Reihe (JGR), Band 1
Gebunden. 2 Bände
2015. 832 Seiten, 72 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-1301-7
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Jean Gebser
Lass mir diese, meine Stimme
Erster Teil: Über Sprache, Dichtung und Dichter. Zweiter Teil: Spanische Dichtung
Herausgegeben von Gina Maria Schneider, Elmar Schübl, Rudolf Hämmerli und Lukas Dettwiler
Jean-Gebser-Reihe (JGR), Band 2
Gebunden
2016. 448 Seiten, 27 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-1347-5
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Jean Gebser
Vom spielenden Gelingen
Vorträge, Essays und Schriften
Herausgegeben und mit Beiträgen von Rudolf Hämmerli und Elmar Schübl
Jean-Gebser-Reihe (JGR), Band 3
Gebunden
2018. 379 Seiten, 38 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-1467-0
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Jean Gebser
Ein Mensch zu sein
Autobiografische Texte, Notizen und Gedichte
Herausgegeben und mit Beiträgen von Rudolf Hämmerli und Elmar Schübl
Jean-Gebser-Reihe (JGR), Band 4
Gebunden
2020. 364 Seiten, 52 Abbildungen s/w.
ISBN 978-3-0340-1593-6
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