Logo Integrale PerspektivenQuelle: Integrale Perspektiven Nr. 28 (online-Erstveröffentlichung März 2017)

[Spiral Dynamics (SD) ist ein Werte-Entwicklungsmodell, welches dabei hilft, die Denkstrukturen hinter einer Aussage, einem Text oder auch einer Initiative wie der Gemeinwohlökonomie zu erkennen und zu benennen. Die Bedeutung der Modellfarben sind dabei -  grob vereinfacht -  wie folgt: Rot – impulsiv, egozentrisch; Blau – absolutistisch, traditionell; Orange – multiplistisch, modern; Grün – relativistisch, postmodern; Gelb – systemisch, integrativ]


2012 hat mein Mann Florian Gerull, Geschäftsführer der Firma Ökofrost (einem Großhandel für Bio-Tiefkühlkost), zusammen mit allen Mitarbeitern ein ausführliches Leitbild erarbeitet, das seitdem den täglichen Handlungen und Entscheidungen zugrunde liegt. Um sich und seinem Team ein Gefühl dafür zu geben, wo sie in Bezug auf ihr Leitbild stehen und wie sie sich weiterentwickeln, wünschte sich mein Mann ein Messinstrument und war schon kurz davor, selbst eins zu entwickeln, als er von der Gemeinwohlökonomie hörte.

Die Gemeinwohlökonomie und die GWÖ-Bilanz

Ins Leben gerufen wurde die Initiative der GWÖ im Jahr 2010 von Christian Felber. Es geht dabei um die Idee einer alternativen Wirtschaftsweise. Ein Aspekt davon ist die Gemeinwohlbilanz für Unternehmen. Darin werden Werte wie Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung und Transparenz evaluiert. Nach einem Punktesystem wird eingestuft, wie die Werte im jeweiligen Unternehmen in der Praxis bereits umgesetzt sind. Neben dem Blick in das Unternehmen schließt die GWÖ-Bilanz das gesellschaftliche Umfeld mit ein, die Kunden und Lieferanten, die Umwelt, Mitbewerber und zukünftige Generationen. Auf diese Weise können Potenziale für das Unternehmen sichtbar gemacht werden.

Das war es, wonach mein Mann gesucht hatte: Die Werte des Leitbildes stimmten in großen Teilen mit denen der GWÖ-Bilanz überein. In einem intensiven gemeinschaftlichen Prozess über einige Monate hinweg erstellte die gesamte Belegschaft ihre Gemeinwohlbilanz. Sie ließen sich von Mitgliedern des Energiekreises Berlin dabei begleiten und verbrachten sehr viel Zeit mit dem Diskutieren der Matrix-Kriterien, denn hier traten immer wieder Spannungsfelder auf ...
Zu Hause untersuchten mein Mann und ich diese Reibungsflächen unter Spiral Dynamics-Gesichtspunkten und kamen zu folgenden Erkenntnissen:

Was leistet die GWÖ-Bilanz?

Um es gleich vorweg zu schicken: Wir sind große Anhänger der GWÖ-Bilanz und vertreten sie sowohl auf der Ökofrost-Internetseite als auch öffentlich bei Podiumsdiskussionen und ähnlichen Veranstaltungen. Wir wollen hier lediglich für einen Aspekt sensibilisieren, der aus unserer Sicht leicht zu kurz kommt.
Die GWÖ ist nach unserer Analyse eine Bewegung mit Schwerpunkt auf der postmodernen, grünen Entwicklungsstufe und zeigt sehr klar auf, welche Bedürfnisse es aus diesem Blickwinkel in den Bereichen Ökologie, Soziales, Kooperation und Kommunikation gibt und welchen Stellenwert sie in der und für die Gesellschaft haben. Sie regt zum Reflektieren an und zeigt vielleicht bisher vernachlässigte Gesichtspunkte.
Wir denken, dass sie in erster Linie Unternehmen anspricht, die (bzw. deren Führung) sich auf dem Übergang von modern zu postmodern befinden, oder bereits bei Grün zentriert sind. Gerade für diejenigen, die von Orange kommen und erkennen, dass es danach weiter geht, übt sie einen entwicklungsfördernden Sog aus.
Doch wie sieht es mit der Entwicklung über Grün hinaus aus? Und was ist mit allen Ebenen vor dem Übergang von Orange nach Grün?

Wo sehen wir Grenzen der GWÖ-Bilanz?

Die Matrix der GWÖ-Bilanz ist ein fein differenziertes Messinstrument in Tabellenform, in der die Kriterien in vielen Einzelfeldern abgefragt werden, die später das Gesamtbild ergeben. Es gibt dabei aus unserer Sicht ein paar Stolpersteine:
Auf uns wirken die Kriterien so, als würden sie einen bestimmten Weg vorgeben, der aus Sicht der GWÖ gegangen werden sollte. Sie lassen für unser Gefühl dadurch wenig Raum für Innovationen, Kreativität oder individuell gefundene Wege.

Sie suggerieren zum anderen durch das Punktebewertungssystem ein eindeutiges „Schlechter, Besser, am Besten“, was eher aus orangenem Denken kommt. Die grüne Herangehensweise wird dabei als Optimum darstellt.
Wir stießen im Austausch mit GWÖ-Mitgliedern auch öfter auf ideologische Ansichten, die charakteristisch für eine blaue Denkstruktur sind. Grün erscheinende Werte können schnell in ein blaues Glaubensbekenntnis kippen, wenn sie zu wenig relativistisch vertreten und stattdessen fundamentalistisch interpretiert werden. Aus gelber/integraler Sicht gibt es „das Beste“ so eindeutig nicht, weil es immer auf den individuellen Kontext ankommt, was gerade am besten passt und was am geeignetsten für das gesunde Wachstum ist.

Außerdem schließt die systematische und abgetrennte Betrachtung der Einzelfelder nicht den Systemblick mit ein. Paradoxien können dabei leicht ausgeblendet und Spannungsfelder vermieden werden.
So empfinden wir die GWÖ als an der oberen postmodernen Grenze gedeckelt, da über Grün hinausgehende Ansätze wieder schlechter bewertet werden. Das, was uns fehlt, ist der Entwicklungsgedanke, der bei Gelb so eine wichtige Rolle spielt.

Einige Beispiele

Ein grünes Ideal aus Sicht der GWÖ ist, dass alle Menschen im Unternehmen annähernd gleich bezahlt werden. In der Bevölkerung wird laut Umfragen eine Gehaltsspreizung von 1:10 bis 1:20 als gerecht empfunden. Die GWÖ vergibt die Höchstpunktzahl aber für eine deutlich geringere Spreizung. Warum?
Extrem hohe Gehälter sollen offenbar verhindert werden, da sie scheinbar per se das Arm-Reich-Gefälle auf der Welt verstärken. Diese Vorstellung basiert sicher auf Erfahrungen, doch ist wirklich die verdiente Million im Jahr das Problem und nicht vielmehr die Umgehensweise damit? Wir sehen hier die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Ein anderes Beispiel ist, dass alle mitreden, gemeinsam Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen sollen. Das würde funktionieren, wenn alle auf derselben (möglichst grünen) Stufe stünden; das ist in der Regel aber nicht so.
Ein Mitarbeiter, der bei Rot zentriert ist, würde diese neue Freiheit leicht als Erlaubnis sehen, so zu agieren, wie es ihm gerade am besten passt. Das wäre der klassische Boomeritis-Effekt.
Ein bei Blau zentrierter Mitarbeiter hat oft gar nicht das Bedürfnis, viel Verantwortung zu tragen, sondern ist entspannt und zufrieden, wenn er seine Arbeitsabläufe genau kennt und eine Sicherheit gebende Routine hat.
In beiden Fällen wird eine klare Führung gebraucht und gefordert.
Wir sagen nicht, dass beide nicht nach ihrer Meinung gefragt werden sollen, doch halten wir eine demokratische Abstimmung oder ein Konsens-Verfahren nicht grundsätzlich für die beste Lösung.
Das gilt auch für die angestrebte Wahl von Führungskräften. Hier sehen wir die Gefahr darin, dass die Wahl nach Sympathien oder nach der eigenen Entwicklungsstufe erfolgen könnte, ähnlich wie in unserer Politik.

Die GWÖ spricht sich prinzipiell gegen Konkurrenz und für Kooperation in der Wirtschaft aus. Manchmal ist Konkurrenz und Wettbewerb aber aus unserer Erfahrung durchaus sinnvoll und entwicklungsfördernd – auch hier wieder: Was für das System gerade am besten passt, kommt auf den konkreten Kontext an.
Dasselbe gilt für die Forderung nach 100% Transparenz. Auch diese kann in bestimmten Zusammenhängen eher schädlich sein.

Ein weiteres Ideal in der GWÖ ist, dass alle Vegetarier oder sogar Veganer sein sollen. Die Frage, ob es ethisch vertretbar ist, Fleisch zu essen, ist aus unserer Sicht weit differenzierter zu betrachten als Fleischessern einfach Punkte vorzuenthalten.

Es gibt aus Gelb nirgends ein absolutes Richtig oder Falsch, aber genau das wird durch die Matrix-Kriterien immer wieder suggeriert. Das fühlt sich schnell wie ein ideologisches Korsett an.
An dieser Stelle muss gesagt werden, dass das aus GWÖ-Sicht anders gemeint ist. Sie betont, dass jede Kritik willkommen ist und die Matrix verändern kann, was auch stimmt! Allerdings bewegt sich das nach unserer Erfahrung im Rahmen der bisherigen Struktur und damit auch in der bisherigen Denkweise.

Dazu kommt folgendes Problem: Jeder Bereich in der Matrix erreicht eine Punktzahl. Die Nulllinie stellt die übliche heutige Vorgehensweise der Unternehmen dar, die noch keinerlei nach GWÖ-Kriterien fortschrittliches, also nachhaltiges oder soziales Verhalten implementiert haben. Unter dieser Linie liegen die Negativ-Kriterien wie Ausbeutung, Waffenhandel, Umweltverschmutzung etc. Für solche Handlungsweisen gibt es Minuspunkte. Die zu erreichende Höchstpunktzahl scheint bei 1000 Punkten zu liegen.
Scheint? Ja, denn die GWÖ selbst sagt, dass diese hohe Punktzahl in den Rahmenbedingungen der heutigen Gesellschaft nichterreichbar ist. Es ist offenbar eine utopische Zahl. Hier gibt es aus unserer Sicht eine Schräglage: Unsere übliche Konditionierung beinhaltet doch, dass wir möglichst die volle Punktzahl erreichen sollen und Null indiskutabel schlecht ist. In der Matrix ist jeder Punkt über der Nulllinie allerdings schon ein Schritt in Richtung Gemeinwohl und somit positiv zu bewerten.
Das wird unserer Meinung nach viel zu undeutlich kommuniziert. Weder den Unternehmen gegenüber, die vielleicht bilanzieren würden, noch in der Öffentlichkeit, die sich für die Ergebnisse interessiert.
Im Moment kann sich ein Unternehmen angesichts der Bewertungsmethode nur entweder schlecht fühlen oder rebellieren, da die Bilanz so moralisierend wirkt.

Könnten die Grenzen erweitert werden und wenn ja: wie?

Aus integraler Sicht ist es nicht hilfreich, pauschalisiert aufzuschreiben, was für alle Firmen das Beste ist. Hilfreicher wären hier vielleicht Leitplanken und Zielrichtungen statt festgelegter Kriterien.
Die Wirkung ist wichtig – nicht der Weg dahin! Im Moment wird aber im Grunde der Weg inhaltlich „vorgeschrieben“, ohne Einbeziehung unterschiedlicher Entwicklungsstände und Weltsichten.

Man könnte zum Beispiel Bewertungs-Fragen offen formulieren:
„Was sind die Ziele und Werte der Firma?“
„Hat die Firma einen guten Weg für sich gefunden, das jeweilige Ziel zu erreichen?“
„Wie erfolgreich unterstützt die Firma das gesunde Wachstum der mit ihr verbundenen Systeme?“
„Wie gut schafft es die Firma, mit der von ihr gewählten Struktur die Entwicklung der Mitarbeiter zu unterstützen?“
„Was passt in dieser Firma und für die Menschen, die dort arbeiten?“

Es wäre auch hilfreich, erst einmal zu fördern, dass die Stufe, auf der die Firma steht, gesund gelebt wird. Unter Umständen kann es viel sinnvoller sein, eine gute, traditionelle Praxis auszubauen, statt gleich zu Grün springen zu wollen.

Entwicklungsfördernd ist für die Unternehmen, sich durch die GWÖ-Bilanz Dinge bewusst zu machen - die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist viel wertvoller, als der Versuch, ein vorgegebenes Ideal zu erreichen.

Fazit

Ein wirklich systemischer Ansatz müsste die Grenzen des postmodernen Denkens verlassen und dann dessen wertvolle Elemente integrieren – das wäre aber aus unserer Sicht nur durch ein radikaleres Hinterfragen der in der GWÖ zugrunde gelegten Sichtweisen, Glaubenssätze und Werte möglich.
Die postmodern dominierten Inhalte der GWÖ werden jedoch wahrscheinlich zunächst der verbindende Faktor bleiben, da die Denkstrukturen der Mitglieder recht unterschiedlich sind. Wir hinterfragen aber gerade die Festlegung auf definierte Inhalte. Wir vermuten, dass der Widerstand innerhalb der GWÖ-Bewegung gegen eine so grundlegende Veränderung derzeit viel zu groß wäre.
Also bleibt wahrscheinlich momentan nur eine Optimierung innerhalb der postmodernen Weltsicht und eine Annäherung an moderne Zielgruppen, um deren Zugang zur GWÖ zu erleichtern.
Und das ist aus unserer Sicht nicht unbedingt die Notlösung, nach der es vielleicht klingt, sondern eine sehr sinn- und wertvolle Arbeit, die wir unterstützen.

Zur Autorin:
Wir – das sind Florian und Katharina Gerull, verheiratet seit 1996. Wir beschäftigen uns seit 2011 mit „Spiral Dynamics“, dem Modell zur Bewusstseinsentwicklung von Don Beck und Christopher Cowan. Wir sind außerdem regelmäßige Teilnehmer im Integralen Salon in Berlin. Und wir, das ist - ebenfalls seit 1996 – Ökofrost, ein Berliner Spezialgroßhandel für Biotiefkühlkost mit mittlerweile 23 Mitarbeitern und Florian Gerull als Geschäftsführer.
Sie finden uns unter www.oekofrost.de.
  
  

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