Dieser Artikel vertritt die Auffassung, dass jedes Prinzip, und somit auch das der „Führung“, in seiner polaren Wirklichkeit wahrgenommen und gelebt werden muss, damit Ganzheit realisiert werden kann. Die Wirklichkeit selbst ist polar, zuweilen komplex und widersprüchlich und kann durch einen mental-rationalen Zugang alleine nicht vollständig erfasst werden. Der Zugang zu Wirklichkeit und damit den unterschiedlichen mitunter subtilen Wirkmächten erschliesst sich unter anderem auch, über Träume, Gefühle, intuitive Wahrnehmung, Inspiration und das Lauschen in Achtsamkeit, damit das Geistige, das über das Gedachte und Gefühlte hinausgeht, als Quelle für Wachstum und Wandel dienen kann.
Führung, die einem integralen Anspruch gerecht wird, ist absichtsfrei und absichtsvoll, ergebnisoffen und ergebnisorientiert zugleich. Sie verbindet eine klare Absicht mit offenem Willen und ermöglicht damit sowohl Aneignung als auch Loslassen.
Das Leben ist kein Problem, das es zu lösen, sondern eine Wirklichkeit, die es zu erfahren gilt.
(Buddha)
Als Architekt befasse ich mich täglich mit den Bedürfnissen, Visionen und Nöten meiner Kunden. Die Aufträge, die ich erhalte, sind so unterschiedlich wie die Menschen, die sie erteilen, inhaltlich haben sie jedoch alle etwas gemeinsam: Sie bestehen allesamt aus einem rationalen und einem nicht rationalen Teil und bilden damit bereits die polare Wirklichkeit meiner Kunden ab.
Urs H. kontaktierte mich mit dem Anliegen, sein Haus zu renovieren. Das Gespräch zur Auftragsklärung dauerte eine ganze Weile, seine zentrale Aussage oder Botschaft an mich aber lässt sich in einem einzigen Satz zusammenfassen:
„Wir möchten dieses Haus umbauen, damit unsere Familie glücklich darin leben kann.“
Der rationale Anteil dieser Formulierung betrifft den ersten Teil. „Wir möchten dieses Haus umbauen ...“. Dieser Teil beschreibt den materiellen Aspekt eines Auftrages und ist als solcher jedem Architekten klar verständlich.
Der nicht rationale Anteil, und ich spreche hier nicht von irrational, betrifft den zweiten Teil:
„... damit unsere Familie glücklich darin leben kann.“ Dieser Teil adressiert die nicht-materiellen Anteile, wie Hoffnung, Glück, Genuss, Bestimmung, Alter und Schicksal.
Mit diesem einen Satz ist die Absicht und das Wesen des Auftrages bereits umrissen, die Intention ist gesetzt, mit der Projektrealisation kann begonnen werden.
Die westliche Welt, die sich mehrheitlich an materiellen Aspekten und somit am Gegenständlichen orientiert, stellt das „Rationale“ im Berufsalltag in den Mittelpunkt, während die Aspekte des „Nichtrationalen“, des Emotionalen, Subtilen und Geistigen, eine untergeordnete Rolle spielen und oft vernachlässigt werden.
Dies allein schon deshalb, weil sie schwer fassbar sind, wenig lenkbar scheinen, als zu weichlich gelten und meistens als „Privatsache“ und deshalb nicht als Teil des Arbeitsauftrages verstanden werden. Wie aber kann dieser Anteil in einem Projekt überhaupt integriert werden? Wie lässt sich „glücklich“ oder „gesund“ oder „zufrieden“ herstellen?
Kann es ein substanzieller Anteil eines Auftrages an einen Architekten sein, seine Kunden in der Erfüllung ihrer Wünsche oder sogar ihres Lebensplanes zu unterstützen, oder richtet sich dieses Anliegen nicht viel mehr an Lebensberater, Schamanen, Yogalehrer oder Psychologen?
Wie ein nichtrationaler Anteil in einem Projekt integriert werden kann und warum es essentiell und notwendig ist, dies zu tun, wird im weiteren Verlauf dieses Artikels erörtert. Vorerst soll aber die polare Wesensart von „Führung“ deutlicher herausgearbeitet werden.
Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk und der rationale Verstand ein treuer Diener.
Albert Einstein
Um die polare Eigenschaft von „Führung“ sichtbar zu machen, werden im Folgenden die beiden Prinzipien „Führen IN die Zukunft“ und „Führen AUS der Zukunft“ in Vergleich und in Zusammenhang gebracht. „Führen IN die Zukunft“ und „Führen AUS der Zukunft“ sind zwei Aspekte einer ganzheitlichen Führungskultur. Sie widersprechen sich nicht, denn sie sind komplementär, ergänzen sich und bilden gemeinsam ein polares Ganzes aus dessen Mitte heraus ein integrales Projekt gestaltet werden kann.
„Führen IN die Zukunft“ ist eine Technik. Es ist die Ansammlung von Methoden, die uns helfen, die Zukunft zu gliedern, zu strukturieren, zu vermessen, Ziele zu verfolgen und zu erreichen und Sicherheit im Prozess und der Zielführung zu generieren. „Führen IN die Zukunft“ ist absichtsvoll und orientiert sich an Willen und bewusster Intention, am Interessen und Bedürfnis der Beteiligten und bestenfalls darüber hinaus auch am Gemeinwohl.
„Führen AUS der Zukunft“ dagegen ist keine Technik, sie ist absichtsfreies und bewusstes Sein. Bewusstes Sein mit dem was sich an uns vollzieht. Sie steht im Kontakt mit den fügenden Kräften, den Dynamiken oder Bewegungen, die gegenwärtig und wirksam sind.
„Führen AUS der Zukunft“ fragt nach dem was sich ereignen will und behütet und wahrt den stillen Willen in den Dingen. Sie schafft die Grundlage für Emergenz, die als das Auftauchen, Herauskommen oder Emporsteigen von völlig neuen Eigenschaften oder Strukturen innerhalb eines Systems bezeichnet wird. Eine Voraussetzung dafür, aus der Zukunft führen zu können ist ein starker Duldungsimpuls und die Bereitschaft, offen zu lauschen.
„Führen IN die Zukunft“ setzt auf die Erfahrung und nutzt Methoden wie Terminplanung, Prozess- und Zielführung um den Projektaufbau und den Projektablauf zu klären. Sie verleiht uns die Macht der Gestaltung und Willensdurchsetzung und reduziert Willkür und Zufall. Voraussetzung dafür ist ein starker Handlungsimpuls und die Bereitschaft zur Entscheidung.
„Führen AUS der Zukunft“ verleiht uns das Potential, das Neue und Unbekannte einzuladen, und ermöglicht somit Innovation und Exnovation. „Innovation“ als eine Erneuerung oder sogar Erfindung und daraus auch einer Aneignung von Neuem. „Exnovation“ als eine Abschaffung von Altem und damit dem Loslassen von Überflüssigem, Nutzlosem und Defizientem. Somit ist «Führen AUS der Zukunft» eine Tugend vergleichbar mit Hingabe, Zuhören, Dienen und Demut. Da wo Absicht und Handlung an den Widerständen und Friktionen scheitern, die bewährten Muster nicht greifen und die Erfahrung keine brauchbaren Antworten auf offene Fragen bereithält, entfaltet sich im Gegenwärtigen eine bisher unsichtbare Ordnung, die es nun wahrzunehmen und wahrzugeben gilt.
„Führen IN die Zukunft“ ist in einer Perspektive gehalten. Sie ist gebunden an das Vergangene und Erfahrene und wirft aus der Gegenwart eine Projektion in die Zukunft um diese mit technischen Mitteln zielmäßig zu fixieren.
„Führen AUS der Zukunft“ dagegen hat und ist keine Perspektive, da sie sich nicht mit der Konditionierung und aktiven Gestaltung von Zukunft befasst, sondern damit, was aus der Zukunft im Gegenwärtigen bereits wirksam ist. Diese Wirksamkeit offenbart sich durch Intuition und Inspiration mit der urteilsfreien und achtsamen Betrachtung des Gegenwärtigen. Denn im Gegenwärtigen ist in Aspekten schon präsent, was sich im Kommenden erfüllen will.
Überall geht dem späteren Wissen eine frühe Ahnung voraus.
Alexander von Humboldt
„Führen AUS der Zukunft“ bewahrt dem Menschen die Eigenschaft des Bedingtseins und wird seinen unbewussten Anteilen und seinem „nicht wissen“ auf der einen Seite, seiner Lernbereitschaft, seiner Reifung und der steten Wandlung, auf der anderen Seite, gerecht.
„Führen AUS der Zukunft“ lädt den permanenten Lauf der Dinge ein, sich zu offenbaren und zu vollziehen und ist deshalb eine wichtige Voraussetzung für Wachstum, Transformation und Wandel. Der evolutionäre Ansatz, der gleichzeitig auch ein involutionärer ist, verweist damit über die Grenzen des Individuellen hinaus auf etwas „Größeres“, auf etwas das nicht „Ich“ ist, in das dieses „Ich“ aber eingebettet ist und an dem wir alle stetig teilhaben. Diese Teilhabe an etwas Größerem und Vollständigerem führt uns und kommt dadurch erst durch uns in diese Welt.
„Führen IN die Zukunft“ widmet sich den rationalen Aspekten eines Auftrages und wendet sich vornehmlich der „Sache“ zu. Sie formuliert Ziele und Prozesse und nutzt die Qualitäten des „Machens“. Dadurch wirkt sie mitunter distanziert, unpersönlich, manipulativ und übergriffig. Ihre Schattenseiten sind Machbarkeitswahn, ungebremstes Wachstum, Machtstreben und verschwenderischer Materialismus.
„Führen AUS der Zukunft“ widmet sich den nichtrationalen Aspekten eines Auftrages, lauscht und horcht, geht in Resonanz und schwingt mit den Dingen. Sie wendet sich dem Ursprung, der Seele, dem Geist oder dem Höheren zu und vertraut den fügenden Kräften ohne zu manipulieren. Sie wirkt dadurch mitunter magisch, marktfremd, handlungsunfähig und orientierungslos. Ihre Schattenseiten sind Fatalismus, Aberglaube und Lethargie.
Erkenntnisse, die durch „Führen AUS der Zukunft“, entstehen, sind vorerst subjektiv. Deren Überprüfung richtet sich deshalb weniger nach Kriterien wie «richtig» oder «falsch», „gut“ oder „schlecht“, sondern vielmehr an der unmittelbaren Befindlichkeit, also an Stimmigkeit und Klarheit. „Führen AUS der Zukunft“, ist deshalb genau genommen ein Klärungsweg, eine Verwesentlichung, Intensivierung des Bewusstseins und eine Orientierung im Gegenwärtigen.
Das Leben wird nach vorn gelebt, kann aber erst nach hinten verstanden werden.
Sören Kierkegaard
Jedes Bauprojekt ist eine Einladung, denn es wohnt ihm ein Angebot inne, die eigene Zukunft zu gewinnen, zu umarmen, sie zu gestalten und damit auch selbst zu dem zu werden was wir eigentlich sind. Die Auseinandersetzung mit unseren Visionen, Fragen, Bedürfnissen, Ängsten und Bedenken lässt uns reifen. Der Wandel in uns wandelt gleichzeitig die Welt um uns herum und umgekehrt.
Was uns in intuitiven und inspirierten Momenten zufällt, lässt sich oft schon im Moment oder aber im Nachhinein als stimmig erleben und sollte uns motivieren, sowohl der inneren Stimme der Intuition als auch den von außen an uns herantretenden Stimmen der Inspiration, zu trauen. Doch Intuition und Inspiration bedürfen beide einer tieferen und wachen Prüfung, damit sie ihre Wirkkraft und Anbindung im Alltag entfalten und nicht nur pure Phantasie oder plumpe Behauptung bleiben. Die wichtigste Voraussetzung für das Gelingen von „Führung Aus der Zukunft“ ist deshalb ein ständiges Innehalten in Stille und Achtsamkeit. Das Lauschen auf die Zwischentöne in uns und die Zeichen um uns herum. Dazu ist die Nachvollziehbarkeit die beste Möglichkeit, Suchbewegung, Findungsprozess, Entscheidungsweg und Ergebnis zu überprüfen. Es ist die Nachvollziehbarkeit der Idee, die am Anfang aus dem Möglichkeitsraum erscheint, die Nachvollziehbarkeit der Anbindung oder Aneignung dieser Idee, der nachvollzogene Plan sowie die nachvollzogene Tat, die plausibel erscheinen und eine Gesamtstimmigkeit erzeugen sollen.
Oft bekomme ich bei Beratungstätigkeiten nach einem unbefriedigenden Projektverlauf, den es zu korrigieren gilt, die Meldung, dass ein „schlechtes Bauchgefühl“ schon lange Anzeichen für einen Schiefstand im Projekt gewesen war, dass aber entweder der Mut oder aber die Worte fehlten, dieses Gefühl anzusprechen.
Ein schlechtes Bauchgefühl alleine ist noch kein Führungsansatz, aber ein sicheres Zeichen für das Fehlen von Klarheit und Orientierung und damit der Notwendigkeit einer tiefer gehenden Erforschung der Situation. Dieses „Tiefer gehen“ kann in unterschiedlichen Ansätzen erlernt und trainiert werden.
„Führung Aus der Zukunft“ braucht in erster Linie die Schulung von Präsenz, der wachen Anwesenheit im Gegenwärtigen wie sie in Wahrnehmungs-, Achtsamkeits- und Intuitionsschulung gelehrt werden. Innovations-Coaching fragt ganz konkret nach Transformation und Erneuerung. Yogapraxis und Meditation stärken die achtsame Wahrnehmung und einen stabilen Selbstkontakt.
Doch mit feinfühliger Wahrnehmung allein ist es nicht getan. Auch die Wahrgebung will geübt und praktiziert sein. Wahrgebung ist die Kunst der achtsamen Aussprache der persönlichen und vorerst subjektiven Wahrnehmung. Auch unter Druck, Unpässlichkeit, Schwierigkeit, mitunter sogar Angst und Scham, ist es essentiell, die Dinge klar und deutlich beim Namen zu nennen und sich selbst zu offenbaren. Auch dazu gibt es Schulungsangebote wie die transparente oder die authentische Kommunikation, die beide, um Unterschied zur strategischen Kommunikation, das Ziel verfolgen, das Gegenwärtige für alle sicht- und hörbar zu machen, persönliche Wahrnehmung in Austausch zu bringen und den Dialog über die Kontroverse und den Kompromiss hinaus zu pflegen, damit subjektive und fragmentierte Sichtweisen zusammengetragen, miteinander verbunden und integriert werden können. Damit kann aus einer vorerst gegensätzlichen oder widersprüchlichen Ausgangslage ein neues, lebbares Ganzes entstehen, ein Konsens oder eine Ordnung auf höherer, bislang unbekannter Ebene.
Das gleiche Ziel verfolgen auch systemische Ansätze, sei es in therapeutischem oder organisatorischem Kontext. Sie machen Vorgängen sichtbar, die sich ausserhalb der technischen Betriebsabläufe und damit den rational erfassbaren Dynamiken abspielen und mitunter Wege finden, diese zu wandeln.
Im Weiteren wirken viele nichtrationale Ansätze unterstützend. Dazu gehören die Intuitive Entscheidungsfindung, diverse Kreativtechniken und Konzepte wie IKIGAI, eine japanische Methode zur Selbsterforschung, die übersetzt „das wofür es sich zu leben lohnt“ bedeutet.
Und auch Spiral Dynamics, ein Konzept über die Entwicklung von menschlichen Weltanschauungsebenen, das aus der integralen Weltsicht von Ken Wilber abgeleitet wird, soll hier erwähnt werden.
Der Prozess der Innovation, also das Aneignen neuer, bislang unbekannter Ideen und Strukturen aus dem Möglichkeitsraum, ist gleichzeitig auch ein Loslassen von alten Mustern und damit ein Sterbeprozess. Dieser Prozess ist immer und zurecht mit Angst, Scham und Widerstand verbunden und braucht deshalb einen sicheren und gehaltenen Raum, in dem die überwältigende Erfahrung der Erneuerung titriert, reguliert und ressourciert werden, bevor ein Loslassen auf der einen und eine Aneignung auf der anderen Seite überhaupt stattfinden kann.
Deshalb gehören auch Praktiken, wie sie in der Traumaheilung und Potentialentfaltung, zum Beispiel bei NARM (Neuroaffektives Beziehungsmodell) oder SE – (Somatic Experience), angewendet werden, aus meiner Sicht zum Kompetenzfeld von „Führung Aus der Zukunft“.
Alledem liegt eine Selbstarbeit zugrunde, die den Umgang mit den eigenen Konflikten, Schatten und Dramen, kurz der Unwegsamkeit des Lebens, zu gewärtigen vermag. Dazu gehört die Fähigkeit, die Intensität des Augenblickes halten und sichere Beziehungsräume wahren zu können. Schlussendlich ist es immer unser Eigenzustand und damit unser bewusstes Sein, das für die Beschaffenheit unserer Führungskultur ausschlaggebend ist.
Wie aber verändern sich Projekte, die durch eine integrale Herangehensweise, den unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen gerecht werden wollen? Sind diese Projekte dadurch ehrlicher, menschlicher, stabiler, nachhaltiger, günstiger oder sogar spiritueller?
Denn immer schafft die grössere Kraft sich selber im Menschen Fähigkeiten, um sich durch ihn manifestieren zu können.
Jean Gebser
Meine Erfahrung als Architekt zeigt, dass „Führung Aus der Zukunft“ ein kraftvolles Instrument ist. Dies hat situativ ganz unterschiedliche Ursachen. Generell kann aber gesagt werden, dass Projekte, die sich dem tieferen Anliegen und damit dem Menschen zuwenden und den geistigen als auch den materiellen Werten gerecht werden, eine weitaus grössere Bindung und damit Zufriedenheit, Akzeptanz, Nachhaltigkeit und Langlebigkeit erzeugen und gleichzeitig bescheidener, einfacher und auch günstiger sind und weniger Ressourcen verbrauchen. Einfach deshalb, weil sie wesentlicher sind.
Die Anekdote um Diogenes und Alexander dem Grossen spricht den Effekt der Verwesentlichung an: Es wird berichtet, dass Alexander der Große den in der Tonne wohnenden Diogenes besuchte und versprach, ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Darauf antwortete Diogenes, er habe nur einen Wunsch, dass Alexander ihm aus der Sonne gehe.
Im Zentrum des Wohlergehens stehen nicht Status, Prestige, Eigentum oder Macht, sondern der unverstellte Zugang zum „Höchsten“ im Kontakt mit dem „Innersten“ in diesem Fall repräsentiert durch die Sonne, die alles was Diogenes für sich beansprucht bereitstellt.
Im Beispiel von Urs H. zu Beginn dieses Beitrages wird deutlich, was sich Menschen in erster Linie wünschen. Es ist das Gelingen ihres eigenen Lebens und das ihrer Liebsten.
Kommen meine Kunden in Kontakt mit ihrer persönlichen „Sonne“, so ist es nicht mehr zentral, wie gross das Wohnzimmer oder wie bunt und einzigartig die neue Küche ist.
Die Projektion der eigenen Bedürftigkeit auf die äussere Welt verliert an Dringlichkeit und kann da gestillt werden, wo sie ihren Ursprung hat, im Herzen nämlich.
Der Reflex, inneres Wohlergehen über die Gestaltung der Aussenwelt herstellen zu wollen, ist in der Architektur weit verbreitet. Doch die Projektion der eigenen Not, Angst und Verlorenheit auf die Umwelt kann nur eine Ersatzhandlung sein und führt zu einer Welt aus Not, Angst und Verlorenheit gerade in der Architektur, die dann versucht, diesen Umstand mit grossen Gesten und viel Oberflächlichkeit zu kaschieren.
Moderne Führungsansätze betonen deshalb zurecht eine Dreiteilung der Aufmerksamkeit im Projekt. Erstens: der Blick auf das Ziel, zweitens: der Blick auf den Prozess und damit den Weg zum Ziel und drittens, als Voraussetzung und Ausgang aller Wege und Ziele: die Aufmerksamkeit auf dem eigenen, inneren Zustand und der Befindlichkeit aller beteiligten Personen. Je bewusster und achtsamer der Kontakt zum Ursprung und damit den Treiberkräften von Prozess- und Zielbildung ist, desto bewusster und wesentlicher ist dessen Realisation. Je klarer und liebevoller der Umgang mit uns selbst, desto klarer und wertiger das Resultat. Je selbstbarmherziger der eigene Umgang, desto demütiger die Beziehung zu unserer Umwelt. Dadurch wird die Auftragsklärung im konkreten Projekt einfacher, die Intervention wird wesentlicher, der Aufwand und die Kosten am Bau werden reduziert, das Resultat wird gleichgültiger und die Bindung intensiver.
Zurecht werden heute Forderungen nach einer neuen Bescheidenheit, nach Einsparungen und Einschränkungen laut. Unser Planet hat endliche Ressourcen und unser Fussabdruck muss drastische reduziert werden. Ganz zu schweigen von einer dringend anstehenden, globalen Umverteilung und damit einem gerechteren Zugang zu Bildung, Wohlstand und Sicherheit für alle Menschen. Diese Einschränkungen gelten aber nur für den materiellen Aufwand und Verschleiss und nicht für die Fülle an Zufriedenheit, Stimmigkeit und Wohlbefinden, kurz: an Zugang zur „Sonne“, die uns allen zusteht. Noch wird dieser Wert oft mit Eigentum und Macht assoziiert, und der Markt suggeriert, dass Wohlergehen über Konsum erreicht werden kann. Deshalb ist es wichtig, den fixierten Blick vom Materiellen zu lösen und einen umfassenderen Zugang zu Wirklichkeit zu gewinnen. Eine Frage, die ich meinen Kunden immer wieder stelle und die meist zu einer ehrlichen und handfesten Auseinandersetzung führt, ist die, ob sie sich denn auch vorstellen könnten, deutlich weniger Geld als geplant auszugeben.
Eine ganzheitliche Führungskultur ist natürlich keine Garantie auf Erfolg, denn wo Leben gelingen kann, kann Leben auch scheitern. Wo Glück einzieht, kann auch Unglück wohnen und wo Gesundheit einen hohen Stellenwert geniesst kann auch Krankheit ihren Platz einnehmen. In diesem Artikel vertrete ich lediglich die Auffassung, dass jedes Prinzip in seinen polaren Eigenschaften wahrgenommen und gelebt werden muss, damit Ganzheit realisiert werden kann. Führung zum Beispiel, die einem integralen Anspruch gerecht wird, ist demnach absichtsfrei und absichtsvoll. Sie ist sowohl als auch. Das „Sowohl“ und das „Als auch“ sind wie das „Weder“ und das „Noch“ Aspekte derselben Wirklichkeit. Sie sind komplementär und bilden gemeinsam ein polares Ganzes, aus dessen Mitte heraus ein integraler Alltag gestaltet werden kann. Die Freiheit des integren Menschen erwächst aus der Möglichkeit, sich diesem offenen, zuweilen transparenten und gegenwärtigen Ganzen hinzugegeben und selbstbestimmt und aktiv darin zu navigieren.
Abschliessen möchte ich mit fünf von zwölf Aussagen, die der Kulturphilosoph Jean Gebser über das Integrale formuliert hat und die mir als Leitfaden für diesen Artikel gedient haben.
Anstelle des quantitativen Lehrlaufes tritt das qualitative, geistige Geschehen.
Anstelle des mechanistischen Ordnens der Organisation tritt das in der Ordnung sein.
Anstelle dualistischer Gegensätze tritt die Transparenz.
Anstelle des Homo Faber (der Machende Mensch) tritt der Homo Integer.
Anstelle der Leere der begrenzten Welt tritt die offene Weite der offenen Welt.
Über den Autor
Michael Högger ist Architekt und Projektentwickler. Er wird seit über 30 Jahren von Privaten, Firmen, Nonprofitorganisationen und Behörden mit Aufträgen betraut. Seine Vision ist die Erweiterung der rationalen Sichtweise herkömmlicher Arbeitsverständnisse durch Aspekte des integralen Weltbildes.
Die Medieninhalte und alle weiteren Beiträge dieser Homepage finanzieren sich über Euch, unsere Leser:innen.
Bitte unterstützt uns nach Euren Möglichkeiten – egal ob mit einer kleinen oder größeren Einzelspende oder einer monatlichen Dauerspende.