Die Begegnung mit dem kollektiven Schatten
von John Dupuy
Ich nähere mich dem Ende meiner fast vierwöchigen Reise durch Europa. Während ich dies schreibe, sitze ich im Zug von Berlin nach Amsterdam, wo die letzte Station meines Trips sein wird, bevor ich in vier Tagen wieder in die Vereinigten Staaten zurückfliegen werde. Die Zeit war so reich an Verbindungen und Lernen, dass es einige Zeit dauern wird, bis ich das alles verarbeitet haben werde, doch lasst mich beginnen mit einem der zentralen Themen, die sich entwickelt haben.
Der Zweck meiner Reise war, über „Integrale Genesung“ zu reden und diese zu lehren, mit etwas Zeit zwischen den Gesprächen und Workshops, falls Gott noch etwas mit mir im Sinn hätte. Sie hatte – wie üblich. Einer der ersten tiefen Eindrücke war die erstaunliche Veränderung von Deutschland und Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Veränderungen sind enorm, selbst in den 27 Jahren, seit ich als Soldat der US-Armee hier war. Europa lebt in Frieden, Einheit und Wohlstand und ist uns in der Produktion sauberer, erneuerbarer Energie weit voraus. Europa hat sich mehr um das Anliegen, eine Zivilisation zu sein, gekümmert als wir, die wir die Zeit mit Zynismus, Gier und Paranoia vertrödelt haben. Doch jetzt ändern sich die Dinge.
Eines der Themen, die an verschiedenen Orten wieder hochkamen, war das Thema „Schatten“ und „kollektiver Schatten“. Bei der Konferenz des Integralen Forums in Bremen kam das Thema des kollektiven Schattens immer wieder auf, oft aus dem Munde amerikanischer Lehrer. Das erfüllte mich etwas mit Sorge, als hätten wir keinen eigenen kollektiven Schatten. Das sagte ich auch den Zuhörern in meinen abschließenden Kommentaren. Und ebenso erwähnte ich, dass mit der Wahl Barack Obamas wir als Nation, und vielleicht auch die ganze Welt, einen großen Schritt auf den besonderen amerikanischen Schatten zu gemacht haben.
"Gott erscheint uns durch unsere abgespaltenen Anteile." C. G. Jung
Ich erzählte der Gruppe, dass ich so erstaunt und stolz auf Europas Komplimente gewesen war und mich sehr traurig und deprimiert wegen meines Landes gefühlt hatte, als ich zwei Jahre zuvor in Europa gewesen war, dass ich mich jetzt aber viel besser fühlte. Alle klatschten Beifall. Die Welt, besonders Europa, liebt Obama und verliebt sich damit wieder in die Vereinigten Staaten. Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen, außer vielleicht, als ich als kleiner Junge in Mexiko lebte. John F. Kennedy wurde von den Mexikanern geliebt, die nach meiner Beobachtung stärker von seiner Ermordung betroffen zu sein schienen als die Amerikaner!
… In meinen Abschlussbemerkungen sagte ich, dass wir (Amerikaner) sicherlich unsere eigenen Schattenthemen haben – wie lange wir an Sklaverei und Rassismus festgehalten und wie wir die Ureinwohner unseres eigenen Landes behandelt hatten –, doch dass da tatsächlich nur ein Schatten ist – und dass euer Schmerz auch mein Schmerz ist und wir wirklich eins sind. Als ich das sagte, war eine greifbare Welle von Liebe und Vernetzung im Raum. Ich beendete meine Rede mit dem Hinweis, dass mein aktuelles Verständnis des christlichen Mysteriums das ist, dass wir alle, wie Christus, dazu aufgerufen sind, diesen kollektiven Schatten, diese kollektive Sünde auf uns zu nehmen, uns von ihm kreuzigen und töten zu lassen, damit wir wieder auferstehen können als transformiertes Selbst mit neuer Weisheit und neuem Mitleid, um der Welt Heilung zu bringen.
Das Thema des kollektiven Schattens ist wieder und wieder aufgetaucht in meinen Gesprächen mit meinem engen Freund, dem Leiter der deutschen integralen Bewegung, Dennis Wittrock, mit den Leuten, mit denen ich gearbeitet habe, mit den spirituellen Lehrern Thomas Hübl, Edda Gottschaldt und anderen. Da ist ein großer Schatten des Leids, der von Generation zu Generation weitergegeben wird. Und lasst mich deutlich werden, die Anstifter des Zweiten Weltkrieges und Nazi-Holocaust sind schon alle verschwunden oder gestorben, doch ihre Sünden und das Leid, das sie verursacht haben, leben in den heute lebenden Menschen weiter. Ob nun dein Großvater bei den SS-Sturmtruppen oder das Opfer eines Konzentrationslagers war, der Schatten und das Leid werden von Generation zu Generation weitergereicht.
Während meines Aufenthalts in Berlin meditierte ich eines Morgens mit meinem aktuellen Holosync-Level (Purification Level 4, CD 4, für diejenigen Leser, die das System kennen) und begann, in einen Schatten einzutauchen. Zunächst hielt ich ihn für mein eigenes Zeugs, doch dann wurde er irgendwie tiefer und verband sich mit der Geschichte und mit dem gegenwärtigen Leiden von Berlin, das sich erst vor Kurzem in vielerlei Hinsicht zum Herzen Europas entwickelt hat. (Eine interessante historische Anmerkung hierzu ist, dass in der Schlacht um Berlin im Mai 1945 annähernd 500.000 Menschen starben, eingerechnet die deutschen Kriegsgefangenen, die in die Sowjetunion abgeführt wurden und niemals zurückkehrten. Nicht gezählt sind dabei die Verwundeten und Vergewaltigten, die später an ihren Wunden Gestorbenen, die psychisch Verletzten usw.) Da war ich also im früheren Herzen der Nazi-Herrschaft und zapfte einen riesigen, unterirdischen, unbewussten Ozean unglaublicher Dunkelheit und menschlichen Leids. Ich konnte mich nicht einmal hinsetzen, sondern lag auf meinem Rücken und fühlte mich an den Boden gepresst. Ich konnte kaum atmen. Mein einziger Gedanke war: „Gott, hilf mir!“ Die Dunkelheit und Schwere des Leids waren weit mehr, als ein einzelnes Ich aushalten konnte. Ich trat in Big Mind/ Big Heart ein, wo von John wenig übrig war. Ich bezeugte. Ich fühlte. Ich betete. Nach zwei Stunden, die sich endlos länger anfühlten, kam ich wieder zu mir. Ich ging nach oben zu meinen Gastgebern Helmut und Nadja und saß dort eine Weile, bevor ich darüber reden konnte, was sich mir gezeigt hatte.
Diese Erfahrung hatte verschiedene Ergebnisse (und mit dem Schreiben dieser Zeilen geht es noch weiter). Zuerst blieb ich mit einem Nachklang tiefer Demut zurück und fühlte mich irgendwie gereinigt von meinen unbedeutenden Schwächen und Sorgen. Zum Zweiten fühlte ich mich zutiefst verbunden mit der Menschheit auf der einen und Gott auf der anderen Seite. Stille und Tiefe sind die beiden Worte, die mir in den Sinn kommen. Und zu guter Letzt war da ein Gefühl, dass wir ohne diese Konfrontation mit dem kollektiven Schatten sowie dessen Akzeptanz und Verwandlung schlichtweg nicht heilen und uns entwickeln können, weder als Spezies noch als Individuen. C. G. Jung hat gesagt: „Gott erscheint uns durch unsere abgespaltenen Anteile.“ Das Erstaunliche daran ist, dass in den Schatten eine enorme Energie liegt für eine kraftvolle Verwandlung. Das spaltet das psychische/spirituelle Atom. Es ist ein riesiges Reservoir psychischer Energie, auf dem wir sitzen. Unverwandelt wird es uns umbringen; transformiert wird daraus die rohe Energie und Kraft für eine positive Entwicklung, Kreativität, Mitleid, Heilung für und Hoffnung auf die Zukunft.
In den und durch die Schatten erreichen wir Hoffnung, unsere Essenz und unseren Weg zu Erneuerung und Heilung.
Ich halte es für eine der grundsätzlichen spirituellen Wahrheiten unserer Zeit: In den und durch die Schatten erreichen wir Hoffnung, unsere Essenz und unseren Weg zu Erneuerung und Heilung. Und mehr noch: Ich sehe dieses Wissen und Verständnis ebenso wie neue Technologien und Techniken überall auf der Welt entstehen, aus vielen unterschiedlichen und scheinbar unabhängigen Quellen, als Anzeichen einer sehr realen und kraftvollen Entwicklung für unsere Zeit aus unserem kollektiven menschlichen Bewusstsein. Trotz oder vielleicht wegen all unserer katastrophalen Probleme sowie der Bedingungen und Zukunftsaussichten dieser Welt scheint Licht durch die Risse und Spalten. Und irgendwie können wir in dem Wissen ruhen und arbeiten, dass, wie der Mystiker Andrew Harvey schreibt, „Gott auch einen Plan hat ...“ und wir nicht allein in unserer Finsternis arbeiten.
John Dupuy ist Begründer von Integral Recovery, der integralen Suchtgenesung. Er war 2007 und 2009 zu Gast auf den Tagungen des IF. John lebt und arbeitet in Teasdale (Utah), USA. Webseite: www.integralrecovery.com
Quelle: IP 14 – 11/2009