Bei uns wird nicht gestorben! Mit diesem Ausruf lief eine resolute Stationsleiterin über den Krankenhausflur, um das Unvermeidbare zu verhindern – dass ein alter Mensch dabei war, die Schwelle vom Leben zum Tod zu überschreiten. Diese Episode liegt schon Jahre zurück – Jahre, in denen die Illusion immer mehr um sich griff, wir könnten den Tod aus dem Leben verbannen.
Im Sommer 2019 vermisste ich unversehens beim morgendlichen Marktbesuch am Gemüsestand eine ältere Verkäuferin. Auf die Frage, wo sie sei, hieß es, ein plötzlicher Herzinfarkt habe sie ereilt; sie liege im Koma. Wiederholte Nachfragen in den folgenden Monaten erbrachten immer wieder dieselbe Antwort und dazu die Information: Ihr Mann besuche sie täglich, er wolle sie nicht gehen lassen. Meine letzte Nachfrage datiert vom März 2020, also Monate später – Zustand unverändert.
Der hoch betagte Vater einer Freundin erleidet ein akutes Herzversagen, das zweite Mal innerhalb weniger Monate. Er wird ins künstliche Koma versetzt. Trotz Patientenverfügung führen die Ärzte eine Reanimation durch; das künstliche Koma wird fast zwei Wochen aufrechterhalten. Erst als eine Untersuchung bleibende Schäden am Gehirn zeigt, wird dem Wunsch der Patientenverfügung entsprochen.
Und last but not least: Wer kennt sie nicht – die Angst, durch die „Segnungen“ der Medizin zum Pflegefall zu werden und unter schwierigsten, teils desaströsen Bedingungen bis zur Erlösung durch den Tod „leben“ zu müssen? Ich jedenfalls kenne diese Befürchtung und weiß mich darin einig mit vielen meiner Altersgenossen und deren Angehörigen.
All dies stammt aus Zeiten vor oder unabhängig von Corona. Doch was sich hier zeigt, wird nun vollends deutlich in Zeiten von Corona. Was ist los in unserem Land und nicht nur hier?
Bei uns wird nicht gestorben! Im Roman Der Medicus von Noah Gordon erinnere ich mich an eine Unterscheidung, die mich schon vor Jahrzehnten tief beeindruckt hat. Danach verfügt der Protagonist über die Fähigkeit, intuitiv zu spüren, ob der Erkrankte sich anschickt, das Leben zu verlassen, oder ob er oder sie die Chance zur Heilung hat. Von solcher Unterscheidungsfähigkeit und Weisheit sind nicht nur die damaligen Kollegen des Medicus weit entfernt, sondern auch unsere heutige Medizin.
Wohin hat sich unser Medizinsystem entwickelt?
Unser Medizinsystem (ich vermeide hier den Begriff Gesundheitssystem) verschlingt Milliarden und wird dank Corona nun ein weiteres Mal „aufgerüstet“. Der Eindruck lässt sich kaum von der Hand weisen: Wir haben in weiten Teilen ein System geschaffen, das nicht nur nach ökonomischen Effizienzgesichtspunkten organisiert wird, sondern das auch zunehmend auf Apparatemedizin, vermeintliche wissenschaftliche Untersuchungen und fragwürdige statistische Evidenzen setzt. Schlimmer noch: Ärzte und Ärztinnen, Pfleger und Pflegerinnen sind in ein System eingebunden, in dem die Fähigkeit zur ganzheitlichen Wahrnehmung, zur Empathie, zur Begegnung und Partnerschaftlichkeit mit den Erkrankten weder geschult, noch verlangt werden.
Was hier geschieht ist, ist ein Vergehen an dem Ethos der heilenden Berufe. Die Ganzheit des Menschen, seine seelisch-geistige Verfassung und Endlichkeit einerseits und andererseits seine Resilienz- und Selbstheilungsfähigkeit sind aus dem Fokus geraten. Es wird Krieg geführt gegen …. gegen Viren, Bakterien, Kontakten aller Art und dabei setzt man auf das pharmakologische und technologische Arsenal und führt gleich auch noch Krieg gegen alternative Heilwege, wie sie Ayurveda (die Lehre vom langen Leben), die TCM, tibetische Medizin oder die Homöopathie und die Naturheilkunde bieten. Statt in einem salutogenetisch ausgerichteten Gesundheitssystem die Aufmerksamkeit vor allem auf Resilienz und Selbstheilungskräfte von Körper, Seele und Geist zu lenken und Wege zu zeigen, wie die Immunkräfte gefördert werden können, wie ein gesundes Leben und damit Salutogenese unterstützt wird, greift ein illusionärer Kontrollwahn um sich.
Einen Virus vermeintlich „ausrotten“ zu können, zeugt von einer Unkenntnis der Gewebe des Lebens. Viren und Bakterien sind nicht nur Jahrmillionen alt, sie sind auch unverzichtbar, um Leben auf diesem Planeten zu erhalten. Statt ihnen den Krieg zu erklären, täten wir gut darin, endlich unseren destruktiven Umgang mit dem Gewebe des Lebens zu revidieren. Indem wir Erde, Wasser und Luft verpesten und der Feuerenergie durch Öl- und Gasverbrennung, durch ausufernde Elektronik und Waffenarsenale unkontrolliert Raum geben, indem wir den Pflanzen, Tieren und Mineralien einen rein funktionalen Wert beimessen, indem wir Armut, Ausbeutung, soziale und ökonomische Verelendung und Entwurzelung hinnehmen, bereiten wir kollektiv den Boden dafür, dass das Leben von Mensch und Natur vollends aus dem Gleichgewicht gerät und damit das Leben auf unserem Planeten in allen seinen Formen gefährdet ist. Viren und Bakterien sind so schädlich, wie der Boden auf den sie fallen – wahrlich ein altes Wissen. Schon der große Denker Gregory Bateson hat in seinem Werk „Ökologie des Geistes“ auf eine fatale Tendenz der Moderne hingewiesen:
Worauf es mir jedoch in diesem Papier ankommt, ist nicht ein Angriff gegen die Medizin, sondern die Darlegung einer unausweichlichen Tatsache: dass eine bloß zweckrationale Rationalität…notwendig pathogen und lebenszerstörend ist; und dass ihre Virulenz besonders aus dem Umstand folgt, dass Leben auf eng ineinandergreifenden Kreisläufen von Zufälligkeiten beruht während das Bewusstsein nur so kurze Bögen solcher Kreisläufe erkennen kann, wie sie die menschlichen Zwecke festlegen können.[1]
Mit anderen Worten: Unsere technologischen Projekte sind Ausdruck eines begrenzten rationalen Verstandes, der damit in das Gewebe des Lebens in einer gefährlichen Weise eingreift. Heute erleben wir, wie sich diese Entwicklung in den Strukturen des Medizinsystems verfestigt hat, wie wir – worauf schon der Philosoph und Theoretiker Ivan Illich hinwies – der Macht von Experten ausgeliefert sind, die diesem technokratisch eindimensionalen Bild von Mensch, Gesellschaft und Natur folgen, in dem Leben auf messbare Größen reduziert wird und seiner Verletzlichkeit und Endlichkeit mit einem Kontrollanspruch und Kontrollwahn entgegengetreten wird.
„Wir haben Corona im Griff“
Wir haben das Leben im Griff; wir sind in der Lage, Leben und Sterben unter Kontrolle zu bringen. Auch auf die größte Herausforderung haben wir eine technologische Antwort. Spätestens der Impfstoff wird es richten! Solche und ähnliche Annahmen scheinen mir der Subtext der derzeitigen Diskussion um Corona. Wohlgemerkt, es geht mir nicht darum, in Abrede zu stellen, dass gefährdetes Leben Schutz verdient oder in Abrede zu stellen, dass das Coronavirus eine ganz erhebliche Gefahr darstellt; es geht mir auch nicht darum, in Abrede zu stellen, dass Medizin und Politik alles in ihrer Wahrnehmung Erdenkliche tun, um die Gefährlichkeit der Pandemie einzudämmen. Es geht mir vielmehr darum, dass sich hier in meiner Sicht eine gefährliche Abspaltung des grundlegenden Wissens um Altern und Vergänglichkeit zeigt. Es mir um eine Kritik an dem kollektiven Versuch, den Tod aus dem Leben zu verbannen und damit um eine weit verbreitete Blindheit gegenüber dem Netz des Lebens und den Gesetzen von Werden und Vergehen.
Natürlich: Auch Ärzte und Menschen in pflegenden und heilenden Funktionen haben dieses Wissen um die Endlichkeit des Lebens. Dennoch haben sich Prozesse der seelischen Abspaltung von Tod und Sterben im Medizinsystem etabliert, die sich in Strukturen, Konventionen, Tabus, juristischen Vorschriften und juristischen Streitigkeiten verfestigt haben.
Leben ist zum Tode hin
Leben ist zum Tode hin. Und ohne das Bewusstsein der Endlichkeit allen Lebens, ohne ein Bewusstsein des Todes, kann Leben nicht in seiner Schönheit und Schmerzlichkeit gelingen.
So kehre ich zurück zu meiner Frage: Wo sind wir gelandet? Und ich möchte dies nochmals auf die besondere Gruppe der alten Menschen zuspitzen, an denen sich die Fehlentwicklungen eines technokratischen Zugriffs auf Leben und Gesundheit derzeit besonders deutlich zeigen. Alte Menschen, die in unseren schnelllebigen und auf das Äußere ausgerichteten Burnout-Gesellschaften in besonderem Masse vereinsamen, werden in Corona Zeiten nicht nur auf physische, sondern auch auf soziale Distanz gehalten. Erkranken sie schwer und versterben sie auf Isolierstationen, wird ihnen das Minimum an menschlicher Wärme versagt: Kontaktsperre! Bei uns wird gestorben – ja, doch, es wird gestorben! Steril, an Schläuchen, isoliert! Den Kollateralschaden – Vereinsamung und Enthumanisierung - nehmen wir hin!
Welcher Irr-Sinn im wahrsten Sinne des Wortes! Seit Jahren erleben wir, dass in unseren Landen Menschen nicht sterben dürfen oder können – wie es heißt aus humanitären Gründen, wobei die Frage offenbleibt, wer an diesem nicht sterben dürfen profitiert. Und jetzt erleben wir, wie ein Prozess der Enthumanisierung und des Zusammenbruchs wirtschaftlicher Strukturen in Kauf genommen wird, um dem obersten Gebot zu folgen, dass das Medizinsystem die Kontrolle behalten soll, um Sterben, vor allem von Alten und Vorerkrankten zu verhindern. Gestorben wird, aber interniert, kaserniert, isoliert ohne menschliche Zuwendung und Wärme – angeblich zum Schutz der Betroffenen, als wäre der Mensch nur Körper und nicht auch Seele und Geist!!
Könnte es sein, dass sich hier anhaltend und nun brandaktuell ein völlig unreifes Verhältnis zu Tod und Leben zeigt? Könnte es sein, dass wir durch diesen Virus nachdrücklich dazu aufgefordert werden, unser Verhältnis zu Leben und Sterben und zu vermeintlichen Sicherheit im Leben neu zu definieren?
Ich erinnere mich an eine Veranstaltungsreihe in der Jesuitenhochschule in München, die sich mit Tod und Sterben befasste. Es ist viele Jahre her, doch mir unvergesslich ist die Antwort einer Vortragenden, einer hoch spezialisierten und ausgewiesenen Professorin, auf meine Frage, was sie sagen könne über den Unterschied, wie Männer und Frauen mit Tod und Sterben umgehen würden. Ihre Aussage: Darüber habe sie noch nie nachgedacht (in Klammern, obwohl sie als Frau über Tod und Sterben seit Jahren geforscht und publiziert hatte). Für mich war die Antwort dieser hoch reputierlichen Forscherin Ausdruck eines weit verbreiteten Mangels an Bewusstheit in unseren gegenwärtigen Gesellschaften.
Fakt ist, dass Frauen schon immer und in allen Kulturen die Begleiterinnen von Geburt und Tod sind. Doch Frauen übernehmen diese Care-Aufgabe in Gesellschaften, die zunehmend nach Prinzipien organisiert sind, die in hohem Masse auf Kontrolle, auf technologische Lösungen, auf Sicherheit durch Dominanz und Machtausübung setzen. Hier fehlt offensichtlich ein Wissen, welches im weiblichen Lebens- und Erfahrungsraum gelebt und gelehrt wird: die Sensibilität für Werden und Vergehen, für Prozesse statt für Ergebnisse, für Vertrauen statt Kontrolle, für Resilienz im Leben statt Beherrschung der Unwägbarkeit des Lebens.
Die Einseitigkeit eines technokratischen und „dominatorischen“ (Riane Eisler[2]) Bewusstseinsstroms bedarf einer dringenden Korrektur und Ausbalancierung. Es bedarf einer Würdigung der Endlichkeit – der Endlichkeit unserer Ressourcen, der Endlichkeit und Belastbarkeit unserer Ökosysteme, der Endlichkeit unserer emotionalen Resilienz Fähigkeit, und auch eine Würdigung der Tatsache, dass es der natürlichen Ordnung des Lebens entspricht, dass alte Menschen näher an der Todesschwelle sind als junge Menschen, auch jene, die nicht wegen, sondern u. a. m i t Corona erkranken und sterben.
Die Würde des Alterns
Ich selbst bin 73 Jahre, gehöre also zur Risikogruppe nach derzeitigem Sprachgebrauch. Ich habe ein volles und rundes Leben gelebt und weiß um dessen Endlichkeit. Ich tue etwas für mein körperliches und seelisches Gleichgewicht, ich achte auf die Kraft meines Immunsystems und ich bin mir bewusst, dass ich eines Tages, zu einem mir nicht bekannten Zeitpunkt, diese Erde verlassen werde, vielleicht mit oder wegen Corona. Damit habe ich meinen Frieden geschlossen. Wenn unsere derzeitigen Aufgeregtheiten ein wenig von dieser Demut dem Leben gegenüber ausdrücken würden, würde ich mich wohler fühlen. Ich könnte mich dann als Teil einer großen (Menschheit)sfamilie fühlen, die durch die Höhen und Tiefen des Lebens wandert. Und ich bräuchte nicht mehr zornig sein oder mich schämen über Aufgeregtheiten, die aufgrund von Toten im höheren Alter und Menschen mit Vorerkrankungen Horrorszenarien formulieren und gleichzeitig die drohende Hungersnot von 25 Millionen Afrikanern durch Heuschreckenplagen ebenso konsequent ausblenden wie die Zehntausenden Toten auf Autobahnen oder die Opfer von wahnwitzigen Machtkonflikten, die mit Waffen ausgetragen werden.
Bei uns wird nicht gestorben! So das Fanal – ein trügerisches! Nein: Bei uns wird gestorben! Lasst uns endlich Tod und Sterben – auch in unserem Medizin- oder besser Gesundheitssystem – wieder die Würde zurückgeben, die sie in unserem Leben verdienen, fern der Illusion, dass wir das Leben, wie auch immer, kontrollieren könnten. Leben ist ein Leben hin zum Tod. Wer das beherzigt, kann die Fülle und Schönheit des Lebens erfahren.
[1] Gregory Bateson: Ökologie des Geistes [1972], Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, 204f
[2] Riane Eisler: Kelch und Schwert. Unsere Geschichte, unsere Zukunft. Weibliches und männliches Prinzip in der Geschichte 2005.
Prof. Dr. Barbara von Meibom unterrichtete Politik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Derzeit leitet sie in Berlin Communio-Institut für Führungskunst www.communio-fuehrungskunst.de. Veröffentlichungen u.a. Barbara von Meibom: Wertschätzung. Wege zum Frieden mit der inneren und äußeren Natur, München: Kösel 2006 (auch als E-Book)
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