Logo Integrale PerspektivenIch beginne immer mehr hinter oder besser gesagt: durch die Dinge zu sehen. (Franz Marc)1

Innres, was ists? Wenn nicht gesteigerter Himmel.2 (Rainer Maria Rilke)

JEAN GEBSER (1905-1973) war ein deutscher Dichter, Philosoph und Phänomenologe des Bewusstseins. Er ist vor allem für sein gebieterisches Opus Ursprung und Gegenwart (1949/1953) bekannt, in dem er die Strukturen und Mutationen des Bewusstseins beschreibt, die den entscheidenden Veränderungen in der menschlichen Zivilisation zugrunde liegen. Gebsers wichtigste Erkenntnis war, dass das Bewusstsein, wenn es sich zu seiner angeborenen Integrität wandelt, die menschliche Ontologie und damit die Zivilisation als Ganzes drastisch umstrukturiert. Fünfhundert Jahre vor Christus veränderte sich die grundlegende Form der Wirklichkeitswahrnehmung vom Mythos zum Logos durch die Wirkung von Figuren wie Sokrates, Siddhartha und Laozi. Für Gebser stehen wir an der Schwelle einer neuen Mutation, vorausgesehen durch Gestalten wie Rainer Maria Rilke, die nach Gebsers Ansicht durch „Dinge“ in die transparente Klarheit „hinter“ die Dinge eindrangen und so zu einer neuen, a-perspektivischen Wahrnehmung der Realität vorstießen.

Die Betonung der Diaphanie (Transparenz) ergibt sich für Gebser aus der Erkenntnis, dass die Natur des Ursprungs weder primordiales Licht noch primordiale Dunkelheit ist, sondern ein Diaphainon, also das, was „sowohl die Dunkelheit als auch die Helligkeit transparent oder durchscheinend macht“.3 Diaphanie ist für Gebser eine Matrix für die rationalen Strukturen des Bewusstseins (wachsames Logos und Licht) sowie die prärationalen Strukturen des Bewusstseins (Mythos, Traum, Dunkelheit). Wie das upanischadische Konzept von Turiya (das „vierte“ Bewusstsein, das an der Wurzel allen Schlafes, Träumens und Wachens liegt) ermöglicht Diaphanie eine tiefe Öffnung für die archaischen und nächtlichen Formen des Seins – die Unterwelt und das Unbewusste – ebenso wie für das Tageslicht. In einem Brief an Georg Feuerstein schreibt Gebser:

Ich habe nie das “Dunkle” des archaischen Bewusstseins mit einer Dunkelheit des Ursprungs in Verbindung gebracht. Das archaische Bewusstsein ist nur insofern dunkel, als es noch vor dem Schlafbewusstsein “liegt”; der Ursprung selber ist transparent, umgebunden an dunkel oder hell, die blosse Manifestationsattribute sind.4

Das Wort Diaphanie basiert, wie das Wort Phänomenologie, auf dem griechischen Verb phainomai (φαινομαι, 'erscheinen, leuchten'). Während die Phänomenologie die Untersuchung reiner Erscheinungen ist, wie sie sich im Bewusstsein manifestieren, beschäftigt sich die Diaphanie mit dem, was durch Phänomene erscheint oder »durch« sie leuchtet (dia, 'durch', + phainomai). Gebser bezeichnete es unterschiedlich als das Durchscheinende, als durchsichtig und als hindurchscheinend. Anstatt eine Weltanschauung zu beschreiben, ist Diaphanie, genauer gesagt, ein Weltdurchanschauung.5

Nun offenbart der Blick durch die Welt die Wurzeln der Welt. Es ist nicht nur die Fähigkeit, durch materielle Dinge zu schauen, als wären sie aus Glas. Vielmehr ist es die Fähigkeit, alles „hinter“ und „vor“ der Welt zu gegenwärtig zu machen, und damit unseren eigenen Ursprung zu offenbaren.6 Was durchleuchtet (dia, durch), ist nicht weniger als der Ursprung selbst – der ursprüngliche Sprung (Ur-Sprung), der durch die diaphane Wahrnehmung sichtbar wird. Bezeichnenderweise vernachlässigt eine solche Art der Wahrnehmung nicht die phänomenale Welt. Sie ergründet es. Wie Cézanne bemerkte: „Die Natur ist nicht an der Oberfläche, sondern in der Tiefe, die Farben sind der Ausdruck dieser Tiefe an der Oberfläche, sie steigen von der Wurzeln der Welt auf“.7

In ähnlicher Weise versucht diese Arbeit, die Idee der Diaphanie zu erforschen, und zwar nicht durch die Auseinandersetzung mit Gebsers philosophischer Artikulation darüber – ihrer Oberfläche –, sondern durch den Blick auf die lebenswichtigen Erfahrungen, die ihr zugrunde lagen – ihre Tiefen. Statt eines rein konzeptionellen Ansatzes, der riskiert, eine bloße Abstraktion zu sein, habe ich mich entschieden, das Prinzip der Diaphanie durch Gebsers Lebenserfahrung, durch seine poetischen Wahrnehmungen und insbesondere durch seine Beziehung zum Werk Rainer Maria Rilkes zu erforschen. Dazu gibt es vielleicht keinen besseren Ausgangspunkt als einen Geistesblitz, der laut Gebser selbst sein ganzes Lebenswerk geprägt hat.

Der intime Himmel

Es geschah in Andalusien. Drei Jahre zuvor hatte er im Geiste des Urvertrauens sowohl sein Vaterland als auch seine Muttersprache verlassen, um „in der Fremde und in der fremden Welt freizuschwimmen“.8 Auf dem Weg durch Südfrankreich – Avignon, Aix-en-Provence, St-Jean-de-Gard – erreichte Gebser im September 1929 Spanien. Im Winter 1932-33 fand er sich in der spanischen Provinz Málaga wieder, an der südlichsten Peripherie Europas. In Bezug auf seine Arbeit an dem Bewusstsein hatte er hier das, was er später seine „blitzartige Eingebung“ nennen sollte.9

Málaga ist, wie gesagt, eine der ältesten kontinuierlich besiedelten Städte der Welt. Vor fast drei Jahrtausenden von den Phöniziern gegründet, wurde es von den karthagischen, römischen, byzantinischen, arabischen und spanischen Zivilisationen beherrscht. Folglich ist die Altstadt ein wahres „offenes Museum“ dieses reichen und tiefen Erbes, und es ist von großer Bedeutung, dass Gebsers Inspiration für die ewige Gegenwart des Ursprungs in einer so sichtbar für die Gegenwart der Vergangenheit offenen Stadt stattfand. Während Gebser den Geistesblitz nicht ausdrücklich beschreibt, gewinnen wir, wenn wir uns die Texte aus dieser Zeit ansehen – die vor allem in Form von Gedichten und Notizbüchern verfasst sind, sowie seine erste eigentliche Monographie Rilke und Spanien (1936/1944), die erstmals für die Veröffentlichung in Madrid vorbereitet wurde –, einige eindeutige Hinweise auf die Art seiner Inspiration. Insbesondere stellen wir eine signifikante und wiederholte Betonung der Transparenz des Himmels fest. Gebser kommentierte:

Das Übergewicht des Himmels in der spanischen Landschaft, besonders in der Kastiliens, die Reinheit, die besondere Durchsichtigkeit des Lichtes und der Atmosphäre, welche die Dinge umgibt und unterstreicht, die Erscheinung des menschlichen Umrisses vor diesem Himmel, die wie nirgendwo anders in sich geschlossen und auf eine ergreifende Art aufrecht ist (von so aufrechter Haltung wie etwa die Sprache und der Stil eines Cervantes), bis wieder zu diesem Himmel, der aus der vibrierenden Leere der Hochebene aufsteigt: dies sind Erfahrungen, welche nur demjenigen gegeben sind, der Spanien besucht.10

Der Himmel, von dem Gebser spricht, ist nicht nur ein Objekt der äußeren Wahrnehmung. Es wurde so intim erlebt wie sein eigener Körper. „Die Luft ist so leicht, dass es sich anfühlt, als würde man von den Fersen atmen“, bemerkt er in Anspielung auf die taoistische Vorstellung, dass wahre Menschen, primordiale Menschen, aus einer tieferen metaphysiologischen Quelle atmen als heutige Menschen:11

Wenn ich: Himmel sage, so meine ich jenes Gefühl von Vertrautsein mit ihm, das unsere Füße von der Erde haben. [...] Unser nackter Fuß weiß sehr viel von der Erde, doch bereits in den Händen, die sich erheben können, ist das Wissen um Wind und Sterne. [...] Ein Stern ist uns nicht ferner und nicht näher als jener Stein dort oder jene Blume. Wir könnten den Stein aufheben? Wir könnten die Blume brechen und in unser Dasein ziehen? Schließlich gab es welche, die auch mit dem Himmel vertrauten Umgang hielten. Von einem gewissen Punkte an ist es gleich, was wir zu uns hereinnehmen.12

In Spanien scheint Gebser zu dem durchgedrungen zu sein, was Rilke in der Siebten Elegie als „die innigen Himmel“ bezeichnete. Das Umfeld von Rilkes Werk kann hier nicht überschätzt werden. Gebser folgte nicht nur Rilkes Inspirationsquellen in Spanien, er ließ sich letztlich auch von der gleichen Muse wie Rilke inspirieren. Seine Suche, diese Muse zu entdecken, kristallisiert sich zunächst in der Erfahrung eines Himmels heraus, der der Wahrnehmung der Realität einen diaphanen Charakter verleiht, der die Art und Weise, wie sich „Dinge“ offenbaren, verändert. Letztendlich öffnete es ihn aber für den für Rilke so besonderen „Raum“ – den „Weltinnenraum“, in dem der Schleier zwischen Innen und Außen vollständig schmilzt und ein Kontinuum offenbart. Wie Rilke 1914 schrieb:

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:

Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still

durch uns hindurch.13

Rilkes Weltinnenraum ist ein Wort, das den Begriff des kosmischen Raums (Weltraum) mit dem Adjektiv für interior oder innen verdichtet. Es bezeichhnet also ein „inneren Kosmos“ oder ein „inneren Raum“. Jede Interpretation hilft, die rilkeanische Realität zu umkreisen, die Gebser gefunden und betreten hat; eine Realität, die durch eine riesige, durchsichtige Fluidität zwischen dem innersten Wesen und der ungebundenen Weite der Realität gekennzeichnet ist. Diese Themen würden auch in Gebsers späteren poetischen Werken wiederkehren. In seinem Wintergedicht (1944), das er in einer einzigen fortlaufenden Sitzung, ohne eine einzige Revision oder Korrektur, verfasst hat, und das Rudolf Hämmerli als „die poetische Fassung von «Ursprung und Gegenwart»“ beschrieben hat, schreibt Gebser ausführlich über die brillante Transparenz, die das Weiß des Winterhimmels suggeriert.14 Auch hier ist der Himmel so spürbar wie Erde, Stein oder Blume:

Der helle Winterhimmel
ist greifbar nah;
Und du bist dieser Himmel auch.
Kein Grund, zu unterscheiden.
Es fließen alle Sterne auch durch deine Adern.15

Wie Rilkes „innigen Himmel“ ist die Weite des Universums so nah – so präsent für das eigene Sein – dass jede starre Trennung zwischen innerem und äußerem, Selbst und Universum aufgelöst wird. Es gibt also „keinen Grund zu unterscheiden“, denn gerade diese Aufteilung der Erfahrung in Nah und Fern, Innen und Außen, kurz gesagt, in eine Subjekt-Objekt-Dualität, hindert uns daran, uns dem Strom der Erscheinungen zu öffnen und seine wogenden Ursprünge durch unsere Wesen fließen zu lassen. Die Auflösung der Dualität hat aber auch eine dunklere Seite. Das Himmlische und das Unterweltliche sind ebenfalls ein Kontinuum, und das galt insbesondere für Gebser. Indem er sich so innig der enthüllten Realität öffnete, beschwor er tatsächlich die Gegenwart der Toten. Um zu verstehen, was das bedeutet, müssen wir in Gebsers Kindheit eintauchen. Denn hier erkennen wir die tieferen Wurzeln seiner persönlichen Beziehung zu den Toten, die zusammen mit dem Himmel am stärksten sein Bewusstsein in Spanien geformt hat. 

Die immer Gegenwärtigkeit der Toten

Ihr Name war Ilse, und sie starb, als Gebser etwa zwei Jahre alt war. Sie war seine Schwester und ein Jahr älter als er. Obwohl sie früh starb, verblieb sie bei ihm. Einige Jahre später, im Alter von sechs Jahren, verschwand er eines Tages auf der Suche nach Ostereiern. Verzweifelt fanden ihn seine Eltern später am Abend am Grab seiner Schwester, wo er ruhig saß und „sehr angelegentlich mit der Toten“ sprach.16

Gebser erinnert sich, dass obwohl seine Schwester nur für kurze Zeit hier auf der Erde gewesen war, sie doch in dieser Zeit nie ganz hier gewesen war. Wie er selbst kam sie von „woanders“. Es gab eine „Jenseitigkeit“ oder „Unhiesigkeit“ an ihr. „Diese Unhiesigkeit habe ich mit ihr gemein“, bemerkt er. „Jedenfalls blieb ich im Leben. Aber immer nur giwissermaßen mit einem Fuß“.17

Gebser deutet an, dass ihm der Tod seiner Schwester ein Bewusstsein für die ewige Gegenwart der Toten innerhalb der integralen Struktur des Lebens hervorgebracht hat. Das heißt, Ilses Tod führte Gebser über die allgegenwärtigen dualistischen Strukturen der westlichen Kosmologie hinaus, in denen Tote und Lebende grundsätzlich voneinander getrennte Erscheinungen sind. Doch für Gebser begleiten uns nicht nur die Toten, sondern wir sind auch mit ihnen eng verbunden. Außerdem können sie uns helfen oder schaden, so wie wir ihnen helfen oder schaden können. In einem berührenden Bericht über den Tod seiner Schwester vergleicht er unsere Teilnahme am Totenreich mit der gegenseitigen Vitalität und dem Verfall von „Wein im Frühjahr“ und „Beerenflecken im Herbst“:

Wenn mir im Frühjahr das Mißgeschick widerfährt, auf den Tischtuch Heidelbeeren, die bereits eingemacht waren, zu verschütten, so kann die Wäscherin sich arge Mühe geben, die Flecken hinauswaschen zu wollen; sie bleiben, zumindest ein Rest. Im Herbst aber, sechs Monate später, wenn die Beeren an den Sträuchern trocken werden und zu sterben beginnen, dann waschen sich auch die Flecken ohne Mühe aus dem Leinen heraus.

Wenn im Herbst die Weinlese war, so beginnen die Rebstöcke, sechs Monate später zu blühen – sie haben eine sehr kleine Blüte, aber einen ungemein feinen und zarten Duft – und zugleich beginnt der Wein in den Kellern zu arbeiten und in den Fässern und Flaschen wird es erst wieder ruhig, wenn draußen die Blüte abgeklungen ist.

Damit, daß etwas seinen Zustand oder seine Form von dem ändert, ist, was es einstens war, noch nicht aus der Welt; es ist vielleicht, wie man so sagt, gestorben; aber Du siehtst ja selber, wie wenig das besagt. Dies umsomehr, als alles noch Ungeborene und alles noch Ungeschehene, also alles, was man auf ein fast verzweifelte Weise das Zukünftige nennt, dann auch Gestorbenes sein müßte.18

Dieses delikate Verständnis des Todes, der eng mit der Welt der Lebenden verwoben ist, gab Gebser einen besonders tiefen Einblick in Rilkes wahrnehmungsmäßigen Durchbruch. Tatsächlich gewinnt man beim Lesen von Rilke und Spanien mit Blick auf Gebsers eigene Erfahrungen den deutlichen Eindruck, dass sich seine Kommentare zu Rilke in seinen eigenen Intuitionen eng widerspiegelten:

Die Teilung der Existenz in eine sichtbare und eine andere, unsichtbare (Erdenwelt, Himmels- oder Gotteswelt) und damit die Folge eines Existenz-Zustandes aus einem andern scheiden [...] Damals, so sage ich, habe [Rilke] die Dinge durchschritten und damit überhaupt jede Grenze überschritten: er stand im Tode. Er hatte den Eindruck, sich dem leeren Raume, der Leere gegenüber zu befinden, eine Situation, die nicht nur für ihn persönlich in jenen Jahren Gültigkeit hatte, sondern die ganz allgemein die der heutigen abendländischen Welt ist und und ihren Ursprung in der geistigen Revolution zu Ausgang des vergangenen Jahrhunderts hat. In Rilke aber kristallisierte sich diese allgemeine Situation in einer einzelnen Person: die Ängste, die sie heraufbeschwört, nehmen, wie ich bereits sagte, von jenem Zeitpunkte ab und einen unpersönlichen Charakter an. [...] Nach und nach vereinigen sich die Welten: die Grenzen löschen sich aus [...][Hier] das Ja zum Leben wird geleichseitig ein Ja zum Tode; mehr noch: er steht in beiden zugleich, weil er die Grenzen ausgelöscht hat.19

Die Auflösung der Mauern der dualistisch getrennten Welt war für Gebser letztlich integraler Bestandteil seines Diaphanieverständnisses, denn wie sowohl Rilke als auch Klee vermuteten, ist Diaphanie nicht nur die Fähigkeit, durch Dinge hindurchzusehen, sondern auch die Wurzeln der Dinge zu sehen, die durch die Oberfläche der Dinge aufsteigen. Es geht darum, zwei Seiten auf einmal zu sehen. „Vor zwei Jahren“, schrieb Gebser 1938, „ im Sommer 1936 anlässlich meines Rilke-Aufsatzes, schrieb ich von den zwei Seiten der Dinge, der uns zu- und der uns abgewandten Seite und meinte, wenn es gelänge, über die uns abgewandte Seite hinauszukommen, ständen wir mitten im Leben zugleich mitten im Tode.“20 „Mit unseren menschlichen Sinnen“, fuhr er fort, „nehmen wir nur die uns zugewandte Seite der Dingen war. Ich glaube, daß es in uns Fähigkeiten gibt, auch die andere zu erfahren“.21 Dieses Motiv der Öffnung gegenüber der anderen Seite der Dinge, der von uns abgewandten Seite, findet seinen Ausdruck in Gebsers Totengedicht (1945), das im Jahr nach seinem Wintergedicht geschrieben wurde. Hierin vergleicht Gebser unsere Existenz mit einem Raum, in dem die „Dinge des Lebens“, unsere Grundmöbel und andere Hilfsmittel bereits gleichzeitig „Dinge des Todes“ sind. Wir ziehen ein, statten unseren Raum aus, und obwohl wir normalerweise nur eine Seite der Existenz sehen, die Seite, die zu uns gerichtet ist, existieren wir in Wirklichkeit in die „doppelte Strömung der größeren Atems“.22 Wir verweilen auf der Grenze zwischen „Tod und Geburt“, „Stille und Lautsein“.23 Und die Wände dieses Raumes beginnen sich zu öffnen:

Und vergiss nicht, 
diese, der Wände, noch andere Seite:
selbst sie, die unverrückbar dir scheinen,
sind voller Wandlung.24

In diesem Abschnitt spielt Gebser mit der Beziehung zwischen dem Wort Wand und Wandlung, oder „Transformation“. Hinter den poetischen Formen, mit denen Gebser suggeriert, dass sich eine Wand verbiegen oder verwandeln kann, steckt ein reicher etymologischer Hintergrund. Im Deutschen bezieht sich Wand ursprünglich auf Wände aus Weidengeflecht, ein gewebtes Gitter; der Begriff geht auf dünne Holzäste zurück, die sich wie Flechtwerke biegen. Dies ist auch die Grundlage für das englische Wort „wand“, einen Stock oder Stab, der eher flexibel als starr ist. Abgeleitet von der proto-germanischen *wend – „to turn – sich wenden“, ist das Deutsche 'Wand' auch mit den englischen Verben „wend“ und „wind“ verwandt, die auch engere deutsche Entsprechungen in den Verben sich winden „to wind“ und wenden, „to turn“, haben.

Siehe, so wird dir jede Wand Wandlung
Und das innere Fenster
Öfftet sich hinter der Seele;
Ob Bett oder Grab,
ob Krug der Tränen,
ob Krug nur der Brunnen,
es gilt dir ein Gleiches:
der tiefere Schlaf istmöglicherweise das höhere Wachsein,
jenes, welches, so zehrt,
wenn es am hellen Tag dich befällt
jenes, welches so nährt,
wenn es dich nächtens umhält.25

Bevor wir zum Schluss kommen, können zwei abschließende Bemerkungen zitiert werden, um das Symmetriegefühl zu verbessern, das in Gebsers „größeren Atems“ enthalten ist. Das erste betrifft Frederico García Lorca (1898-1936), den spanischen Dichter und Dramatiker, mit dem Gebser nicht nur befreundet war, sondern mit dem er eng zusammenarbeitete, bevor er bei Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs ermordet wurde. In seinen Erinnerungen an Lorca interpretiert Gebser die Skizzen, die der spanische Dichter vor seinem Tod gemacht hat und „die ohne Zweifel in den letzten neun Monaten seines Lebens entstanden“ sind, und zwar als Ausdruck der Voraussicht seines Ablebens: „der Tod, den er vorausfühlt, der er anzieht, der shon in ihm ist“.26 [...] „Denn, wie das Leben shon in uns wirksam ist neun Monate vor unserer Geburt, so ist der Tod shon wirksam in uns neun Monate vor unserem Sterben“.27

Wir spüren die Finger des Hades lange bevor wir hinweggefegt werden, denn die Toten sind durch unser Leben auf integrale Weise gegenwärtig. Wenn wir uns dessen bewusst werden, ist unsere erste Reaktion verständlicherweise Angst. Aber wir sollten uns keine Sorgen machen. Wir sollten sanft sein in der Gegenwart der Toten, bemerkt Gebser; zart vor „die zerrinnende Zeit“ und „der sich lösende Raum“.28 In seinen unvollendeten biographischen Schriften sagt er: „Wenn wir geboren werden, schreien und weinen wir, wenn wir sterben, sollten wir lächeln.“29 Und diese Bemerkung gewinnt an Bedeutung, denn Gebser ist tatsächlich lächelnd gestorben. Neben einer Haltung großen Friedens zeigt seine Totenmaske in Bern ein tief zufriedenes Lächeln.

Epilog

Letztendlich war Gebsers Leichtigkeit in Bezug auf die Unterwelt nicht etwas, was ihn theoretisch amüsierte, sondern er lebte – und starb – ganzheitlich. Das gilt auch für seine Offenheit gegenüber dem Weltinnenraum Rilkes. Beide Erkenntnisse sind für Gebser emblematisch für die Fähigkeit, das dualistische Bewusstsein zu transzendieren, die Wurzeln der Phänomene gegenwärtig zu machen und die Ontologien von Dunkelheit und Licht durch die Gefäße der Diaphanie zu destillieren. 

Abschließend lässt sich sagen, dass die beiden großen Aspekte, auf die wir uns in dieser kurzen Studie konzentriert haben, mit den Kernaspekten des Mahayana und der platonischen Philosophie stark resonieren. Auf der einen Seite ist es vielleicht einer der eloquentesten und evokativsten Ausdrücke des śūnyatā-Konzepts in einer westlichen Sprache, sein innerstes Wesen nicht nur als ein „Selbst“, sondern als eine einzige Weite zu erkennen, die sich durch alle Wesen erstreckt – ein „gesteigerter Himmel“, wie Rilke es ausdrückt. Genauer gesagt, erinnert es an das Dharmadhatu als „Weite der Phänomene“ in einer Weise, die die Grenzen nicht nur zwischen inneren und äußeren Realitäten, sondern auch zwischen allen fühlenden Wesen auflöst. Andererseits stellt Gebsers direkte Offenheit für die immerwährende Gegenwart der Toten ihn fest in die Tradition der Philosophie, wie sie im sokratischen Geist gedacht ist, wo die Philosophie nicht nur eine Frage der kritischen Auseinandersetzung um ihrer selbst willen war, sondern insbesondere eine „Meditation über den Tod“ (meletē thanatou), dem „Lernen zu sterben, bevor man stirbt“.30

Im Zusammenhang mit diesen beiden Punkten ist eine letzte Erfahrung der Diaphanie zu erwähnen, die Gebser ausdrücklich diskutierte. Es geschah viele Jahre später, fast ein Jahrzehnt nachdem er Ursprung und Gegenwart veröffentlicht hatte. Und es war in Indien geschehen.

Als Teil seiner ausgedehnten Reisen durch Asien in den frühen 1960er Jahren besuchte Gebser den Ort der allerersten Lehre des Buddha. Als Siddhartha Gautama in Sarnath das Rad des Dharmas in Bewegung setzte, lehrte er sowohl die Ursachen des Leidens als auch den Weg der Befreiung vom Leiden. Er betonte den Zustand des Samsara, in dem Leben und Begehren eng mit Abneigung und Tod verbunden sind, und wie der Weg aus dieser Zwangslage durch „Vision, Wissen, Ruhe, Einsicht und Erwachen“ verlief.31 1961 beschrieb der Zen-Meister und buddhistische Gelehrte Daisetzu Teitaro Suzuki Gebsers Erfahrung in Sarnath als Satori (Erwachen).32

„Da war keine Entrückung zu beobachten gewesen“, bemerkt Gebser; „kein Weggeschwemmtwerden ins Irrationale, kein Weltverlust, wohl aber Überwindung des Mental-Rationalen: arationale Transparenz – und somit jene Bewusstseinsintensität, die das Irrationale genauso wie das Rationale derart integriert hatte, dass sie dem Betroffenen zur Verfügung standen, nicht aber er von ihnen überwältigt werden konnte, da ihre Träger, das Vitale und das Psychische, sich dem Geistigen fügten“:33

Dieser Transparenz kann man nicht ansichtig werden, sie kann man nicht sehen, wohl aber kann sie in der unangestrengtesten Überwachheit wahrnehmbar, kann im eigensten Sinne des Wortes «gewahrt» werden. Sie ist mehr als Klarheit oder Leuchten, mehr als Verklärung oder Strahlung. Möglicherweise könnte man von ihr als dem Durchglänztsein des Ganzen sprechen. Wer ihrer teilhaftig wird, ist gleichsam geläutert, wie umgeschmolzen, von den Schlacken der Seele und den Begrenztheiten der Denkens befreit, ohne in mindester Weise etwa dem Hiesigen rauschhaft entrückt zu sein; ist «in der Ordnung», im tiefsten Vertrauen und durchpulst von nüchtern-heiliger Ursprungsgegenwärtigkeit.34

Schließlich verwandelt das Prinzip der Diaphanie für Gebser die „gewöhnliche“ Realität in ein Vehikel für eine außergewöhnliche Klarheit, die über die Wahrnehmung fester Dinge hinausgeht. In diesem Sinne spricht es das Herz der mystischen Traditionen der Welt an, in denen sich die phänomenale Welt zu einem Ort der Offenbarung öffnet. Die „Dinge“ werden zu Vehikeln für eine innere Weite, und die befreiende Natur des Ursprungs wird spürbar präsent.

Fussnoten
  1. Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen (Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989), 123.
  2. Rilke, „Ach, nicht getrennt sein…“, Paris, Sommer, 1925.
  3. Jean Gebser, Ursprung und Gegenwart. Zweiter Teil, Gesamtausgabe III, 536.
  4. Jean Gebser an Georg Feuerstein, 07–09–1972 (Schweizerishes Literaturarchiv, Bern).
  5. Gebser, Gesamtausgabe V/1, 141. Hier greift Gebser auf den Expressionisten Franz Marc, einen der Gründer der Zeitschrift und Bewegung Der Blaue Reiter zurück; anstelle der Weltanschauung schlägt Marc eine Weltdurchschauung - d.h. einen Blick durch die Welt und nicht einen Blick auf die Welt vor.
  6. Gebser, Ursprung und Gegenwart, Gesamtausgabe II, 32–33.
  7. Werner Haftman, Paul Klee, 1950, 87; zitiert in Gebser, Gesamtausgabe III, 640.
  8. Die schlafenden Jahre; Gesamtausgabe VII, 363.
  9. Verfall und Teilhabe; Gesamtausgabe V/2.
  10. Rilke und Spanien; Gesamtausgabe I, 49.
  11. Zhuang Zhou VI, 2: „Die wahren Männer von einst träumten nicht, wenn sie schliefen, hatten keine Angst, als sie aufwachten, und kümmerten sich nicht darum, dass ihr Essen angenehm sein sollte. Ihre Atmung war tief und leise. Die Atmung des wahren Menschen kommt (gerade) von seinen Fersen, während die Menschen im Allgemeinen (nur) von ihren Kehlen atmen“. Die Schriften von Chuang Tzu, trans. James Legge (Oxford: Oxford University Press, 1891). Gebser, Aussagen: Ein Merk- und Spiegelbuch des Hintergrundes; Notizen und Tagebuchaufzeichnungen 1922–1973; Gesamtausgabe 7, 262.
  12. Gebser, Aussagen: Ein Merk- und Spiegelbuch des Hintergrundes; Notizen und Tagebuchaufzeichnungen 1922–1973; Gesamtausgabe 7, 262.
  13. Rilke, Es winkt zu Fühlung…, Die Gedichte 1910 bis 1922 (München oder Irschenhausen, August/September 1914).
  14. Rudolf Hämmerli, ‘Nachwort des Herausgebers’, in Gesamtausgabe VII, 424.
  15. Gebser, Wintergedicht; Gesamtausgabe VII, 129.
  16. Die schlafenden Jahre, 342.
  17. Die schlafenden Jahre, 342.
  18. Die schlafenden Jahre, 341.
  19. Rilke und Spanien, 45–6.
  20. Aussagen, 262.
  21. Ibid.
  22. Totengedicht, Gesamtausgabe VII, 143.
  23. Ibid.
  24. Ibid.
  25. Totengedicht, 147.
  26. Lorca und das Reich der Mütter, Gesamtausgabe I, 100.
  27. Ibid.
  28. Totengedicht, 143.
  29. Die schlafenden Jahre, 376.
  30. Platon, Phaedo.
  31. Samyutta Nikāya 56.11.
  32. Asien lächelt anders, Gesamtausgabe VI, 164.
  33. Asien lächelt anders, 164. Cf. Gesamtausgabe V/II 88, 102; VI 159, 164; II 318; IV 318 n 84.
  34. Asien lächelt anders, 157.

  

Zum Autor

Cheak AaronAaron Cheak, PhD, ist ein Gelehrter der Religionswissenschaften, Philosophie und Esoterik. Der ehemalige Präsident der Internationalen Jean Gebser Society (2013–2015) promovierte 2011 an der University of Queensland für seine Arbeit über den französischen hermetischen Philosophen René Schwaller de Lubicz im Fach Religionswissenschaft. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen Alchemical Traditions: Von der Antike bis zur Avantgarde (2013), Diaphany: A Journal and Nocturne (2015) und The Leaf of Immortality (2017). Derzeit leitet er Rubedo Press an der zerklüfteten Westküste Neuseelands, wo er sich aktiv für Tee, Wein, Poesie, Typografie und Alchemie interessiert. In Kürze arbeitet er in Deutschland für das Integrale Forum an dem Aufbau der Arbeit über das Lebenswerk Jean Gebsers.

 

 

 

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