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Einleitung

Seit dem Erscheinen des Buches Gott 9.0, das ich zusammen mit Tilmann Haberer und meinem Mann Werner Tiki Küstenmacher geschrieben habe, sind nun acht Jahre vergangen. Es hat inzwischen die achte Auflage erreicht und sich zu einer Art Standardwerk für einen integralen Blick auf das Christsein gemausert, das auch von vielen Nicht-Christen als Einführung in das integrale Bewusstsein geschätzt wird. Es wurde ins Englische, Lettische und Niederländische übersetzt und hat dank der englischen Ausgabe Leser in über 15 nicht-europäischen Ländern gefunden.

Vor allem aber hat es einen Wunsch von uns drei Autoren erfüllt. Wir hofften, mit diesem evolutionären Modell anderen Menschen ermutigende Impulse für ihren eigenen spirituellen Weg zu geben. Gott 9.0 basiert auf einer Kombination aus dem sozialpsychologischen Werte-Modell Spiral Dynamics, der integralen Philosophie Ken Wilbers, einer progressiven, postkonfessionellen Theologie und dem reichen Schatz der interreligiösen Mystik–. Es ging uns bei diesem Weg aber nicht nur um eine private „Selbstversorgung“ und persönliches spirituelles Wachstum. Ebenso entscheidend schien uns die kollektive Anstrengung, ein Gespür für die wesentlichen Bausteine einer tragfähigen „Religion von morgen“ (Ken Wilber) zu bekommen und sie zu realisieren. Wir sind die Generation, deren Aufgabe es ist, das Werden einer neuen, lebendigen Gestalt des Christentums zu fördern und in unserem eigenen Leben zu erforschen. Diesen Wunsch nach einer Transformation unserer Religion und einer gemeinsamen Weiterentwicklung im Christentum teilen ganz offensichtlich sehr viele unserer Leserinnen und Leser. Sie haben über unsere Webseite inzwischen über 12.000 der farbigen Lesezeichen bestellt und im Freundeskreis weitergegeben. Gott 9.0 wird in Schulen, kirchlichen Bildungshäusern, in Gemeinden, Hauskreisen und spirituellen Salons vermittelt, es ist zum Inhalt von Weiterbildungen für Pfarrerinnen, Pfarrer, Priester, Ordensleute und haupt- und ehrenamtliche Kirchenmitarbeiter geworden. Dabei tauchte immer wieder der Wunsch nach Vertiefung und praktischen Übungen auf, mit deren Hilfe man sich die Inhalte noch besser verständlich machen kann.

In diesem neuen Buch Integrales Christentum versuche ich, diesem Wunsch nachzukommen. Ich bin mir dabei bewusst, dass ich das mit meinen Skizzen nur in sehr bescheidenem Umfang leisten kann. Ich hoffe auf viele weitere integrale Beiträge aus Theologie und Religionspädagogik, um den Blick auf das integrale Christentum der Zukunft zu weiten und den Weg dorthin zu verbreitern und zu vertiefen.

Ken Wilber formulierte in seinem Buch Integrale Spiritualität den schönen Begriff der kosmischen Adresse. Damit ist der jeweilige Aufenthaltsort gemeint, von dem aus jemand spricht. Er ergibt sich aus der individuell aktuellen Kombination der verschiedenen Perspektiven von Quadranten, Stufen, Linien, Zuständen und Typen. Mit jeder Bewusstseinsveränderung verschiebt sich dieser Standort und damit die Wahrnehmung von Wirklichkeit. Man befindet sich dann tatsächlich in einem anderen „Weltenraum“, wie Wilber sagt.
Zu Ihrer Orientierung beim Lesen dieses Buches möchte ich Ihnen darum vorab ein paar Sätze über meinen persönlichen Hintergrund sagen (Integral Informierte werden daraus sicher meine kosmische Adresse ableiten können). Seit 1873 haben meine Ahnen Generation für Generation gemischt konfessionell geheiratet. Ich bin also familiär schon 150 Jahre lang ökumenisch vorgeprägt. Meine Eltern waren eher kirchendistanziert, Glaube war für sie Privatsache. Es gab keine negativen Gottesbilder in meiner Kindheit, dafür aber einen wunderbaren Zugang zu christlichen Symbolen und Kunst. Als Kind hatte ich einige naturmystische Erlebnisse, die mir einen ersten, unvergesslichen Geschmack vom Einen vermittelten. Als Konfirmandin hatte ich mir etwas ähnliches Ergreifendes von meinem ersten hochheiligen Abendmahl erhofft. Von der Realität an meinem Konfirmationstag war ich so enttäuscht, dass ich am Abend meiner Konfirmationsfeier am liebsten aus der Kirche ausgetreten wäre. Eine Freundin schenkte mir zum fünfzehnten Geburtstag mein erstes Mystikbuch, Texte von Edith Stein, die mich tief beeindruckten. Anfang der 1970er Jahre stieß ich für eine Weile zu den flippigen Jesus People, wo sich US-Soldaten und deutsche Jugendliche im Saal eines Missionsordens zu „Hippiegottesdiensten“ trafen. Mit sechzehn wurde ich dann eines der ersten Mitglieder der neu gegründeten Würzburger Teestubengemeinde. Es war ein klarer Schritt hin zu GRÜN mit ersten integralen Elementen: wir waren ökumenisch, basisdemokratisch, links- charismatisch, sozial engagiert in Drogen- und Eine-Welt-Arbeit, experimentierten mit neuen Gottesdienstformen, erlebten musikalische Kreativitätsschübe und allerhand außergewöhnliche Bewusstseinszustände, wie sie in der Apostelgeschichte beschrieben werden. Dazu kam eine konsequente, der Aufklärung verpflichtete, historisch-kritische Bibelexegese durch unseren Gemeindeleiter, den Neutestamentler Dr. Erhard Griese. Er vermittelte uns die geistige Freiheit von ORANGE und eine echte Prozesstheologie: Man ist nicht einfach Christ, sondern bestenfalls ein Christ im Werden, der immer wieder einen Anfang zu machen hat. Ein wichtiger Gedanke von ihm war auch: Suche die Gemeinschaft, aber hänge dich nicht an sie allein, sondern an Jesus Christus als inneren Meister. Die Gemeinschaft mit ihm ist die entscheidende, wo immer sie dich auch hinführt. Diese Haltung hat mich durchs Studium begleitet und nie verlassen, es war für mich nie ein Problem, Wissenschaft und Glauben zusammenzuhalten.

Das Lernen ging nach dem Studium und im Beruf weiter. Ich war fasziniert von Tiefenpsychologie und systemischen Ansätzen, profitierte stark von der franziskanischen Spiritualität meines Lehrers Richard Rohr, wurde Enneagrammlehrerin, machte Ausbildungen u. a. in Spiral Dynamics Integral und Wertimagination, begann 1992 mit der Praxis des Herzensgebets und fand immer mehr mein inneres Zuhause bei den Mystikern und Mystikerinnen. Sie beschrieben Bewusstseinszustände, die ich auch erlebt hatte, mir alleine aber nicht hatte deuten können. Eine unglaubliche Erleichterung, auch wenn ich mir alles mühsam selbst zusammen suchen musste. Meine innere Welt wurde reicher, auch durch mühsame, kräftezehrende Transformationsprozesse. 1997 verlor ich in der Mitte der Schwangerschaft ein Baby und musste es tot zur Welt bringen. Danach fiel ich in eine seelische Krise, nichts konnte mich trösten. Meine Rettung war das gerade erschienene Buch Eros, Kosmos, Logos von Ken Wilber. Ich wusste von der Passion, die er durch den Tod seiner Frau erlitten hatte und vertraute ihm. Ich kaute diesen dicken Wälzer Satz für Satz durch und erlebte diesen Prozess als Heilungsweg und geistige Auferstehung zu GELB. Philosophie und Spiritualität befreien, wenn sie existentiell überzeugen. Hier eröffnete sich mir eine riesige Metaebene, dargestellt von einem klaren Geist, der mir die Module des integralen Denkens erschloss. Die Puzzleteile meines spirituellen Weges fingen an, sich mit Hilfe der integralen Landkarte zu verschränken, zu ordnen, zu vertiefen. Die Geschichte des Christentums erstand neu vor meinen Augen, ebenso die Dynamiken in unserer Gesellschaft. Altes konnte ich loslassen oder anders wertschätzen, Neues tauchte auf und konnte elegant anschließen. Zwanzig Jahre später kann ich sagen, dass die integrale Philosophie und Spiritualität mein Bewusstsein entscheidend verändert haben. Nach wie vor sehe ich, dass sie mir helfen, mich als Christin im großen Pilgerstrom meiner Religion froh nach vorne zu bewegen. In einer Religion, für die Gott, der unentwegt Neues ermöglicht, immer wieder einen neuen Anfang setzt und ihr eine klare Richtung vorgibt: hin zu immer mehr Mitgefühl, Inklusivität und Liebe, wie sie uns Jesus, der Lebendige, vorgelebt hat.
Ich hoffe, dass es Ihnen beim Lesen dieses Buches ähnlich geht. Es würde seinen Zweck erfüllen, wenn es Ihnen den Reichtum und die zur Entfaltung drängenden Möglichkeiten des Christentums ein Stück näher bringt. Ich wäre glücklich, wenn es Sie inspiriert, Ihren eigenen und unverzichtbaren Beitrag zu einem Integralen Christentum zu leisten, einfach an dem Ort, wo Sie stehen und wirken können – so wie ich es versucht habe.

Marion Küstenmacher
Gröbenzell
Ostern 2018

  

Die Rivalität der Stufen und ihre wechselseitige Kritik

Wenn du eine blaue Brille aufsetzt, so erscheinen dir alle Objekte blau, obwohl sie es nicht sind. Setzt du eine rote Brille auf, so erscheinen dir alle Objekte rot, und sind es doch nicht.
Es ist eine Farbe an der Wand, davor stehen drei oder vier Menschen, der eine sagt, sie sei grün, der andere sagt, sie sei blau, der dritte spricht, sie sei vermischt ohne Grün und Blau. Daraus ergibt sich als Erwiderung: diese Leute müssten eine gleichförmige Erkenntnis von der Farbe bekommen und nicht mancherlei Wahn darüber haben, um die Augen der Erkenntnis zu öffnen.

Valentin Weigel (1533-1588), protestantischer Mystiker

Unsäglich viel Schmerzhaftigkeit, Anmaßung, Härte, Entfremdung, Erkältung ist so in die menschliche Empfindung hineingekommen, dadurch dass man Gegensätze an Stelle der Übergänge zu sehen meinte.

Friedrich Nietzsche (1844-1900), Philosoph

In der Spirale des Geistes herrscht Vielsprachigkeit wie beim Turmbau zu Babel. Trotz der Polyglossie und ihres simultanen Vibrierens stehen die Stufen in ständiger Konkurrenz und kommen nicht immer gut miteinander aus. Bis 6.0 GRÜN pocht jede auf der eigenen allein seligmachenden Weltdeutung. Dazu gehören ständige wechselseitige Vorwürfe. Leider dringt dabei oft das positive Gespräch als wechselseitige Befruchtung der Stufen zu wenig durch. Ein Grund dafür ist, dass wir vor allem die typischen Dualismen der Stufen um die Ohren geschlagen bekommen (z. B. „Sünder versus Gerechte“ in BLAU oder „Erfolgreiche versus Versager“ in ORANGE). Diese Dualismen sind die Trutzburgen geschlossener Wertesysteme. Man kann sie mit dem Historiker Reinhart Koselleck (1923-2006) als „asymmetrische Gegenbegriffe“ erfassen, bei denen eine Gruppe das soziale oder spirituelle Feld zu ihren eigenen Gunsten definiert.[1] Die Nicht-Gruppenmitglieder dagegen werden abgewertet, man selbst schiebt sich dadurch in eine positiv aufgeladene Überlegenheitsposition. Selbst die auf Inklusion bedachte GRÜNE Stufe operiert noch mit diesen Asymmetrien (Sensible versus Unsensible, Tolerante versus Intolerante) und subtilen polarisierenden Abwertungsstrategien. GRÜN definiert z. B. ihm genehme politisch korrekte Sprachcodes und spricht Sanktionen aus gegenüber allen, die gegen die GRÜNEN Sprechmuster verstoßen. Inklusion basiert auch bei GRÜN immer noch auf bestimmten Spielarten von Exklusion. Jede Stufe einschließlich GRÜN hält ihre Welt für die Welt und ignoriert alles andere: „Wenn man nicht sieht, was man nicht sieht, sieht man nicht einmal, dass man nicht sieht... Man glaubt, innerhalb natürlicher Begrenzungen zu wohnen.“[2]

Wenn einem das ab GELB bewusst wird, kann man sich an die Umschmelzung der eigenen Dualismen herantasten, indem man aufhört, sich zur jeweiligen „erhöhten“ Gruppe zu rechnen. Man verlässt den Familienkreis, die eroberte Burg, den heiligen Tempelbezirk, den aufgeklärten Zirkel oder den rücksichtsvollen Freundesclub der „besten aller Stufen“ und begibt sich ins verbotene Grenzland zwischen dem Eigenen und allem Fremden. Diese Aussteiger-Strategie hat Jesus selbst verfolgt. Auf seinen Wanderungen hin zu Ausgeschlossenen und Angehörigen anderer religiöser Gruppen hob er damit die Asymmetrien auf (vgl. Joh 4 Jesus im Gespräch mit der Samariterin am Brunnen). Aus Heiden, Unreinen und Sündern wurden Menschen mit eigener Stimme und Geschichte. Aus bedrohlicher Fremdheit wurde vielstimmige Verschiedenheit.

Damit fangen aber neue Probleme an. Diesmal mit der eigenen Herkunftsgruppe. Denn sobald man mit diesen Bewegungen außerhalb des bisherigen religiösen Sicherungssystems beginnt und sich auf neue Bewusstseinsfelder vorwagt, wird man reflexartig als Abweichler, Synkretist, Esoteriker, Gnostiker, Sektierer, Ketzer, Feind des Glaubens oder verlorene Seele abgestempelt. Andere müssen eindringlich vor einem gewarnt werden. Hier wünscht man sich doch, dass zu den vielen Namen, die Jesus im Lauf der Zeit zugesprochen wurden, auch der Ehrentitel „inspirierender Grenzüberschreiter“ hinzukommen würde. Ein Name, der darauf zielt, dass Jesus alle einlud, mit ihm unterwegs zu sein, über die selbstgezogenen Grenzen hinweg zur grenzenlosen Grenze des Bewusstseins, wo alle Dualismen ein Ende haben.

Typische wechselseitige Vorwürfe der Stufen

Die meiste Kritik üben die Stufen im ersten Rang von PURPUR bis GRÜN an ihren benachbarten Stufen. Die direkt unter ihnen liegende Stufe wird besonders scharf kritisiert, weil man bei einer Regression genau da wieder landen würde, wo man sich zuletzt und unter manchen Mühen herausgearbeitet hat. Kritik an der Vorgängerstufe ist Abgrenzung und zugleich Selbstvergewisserung, dass man weitergekommen ist und zu besseren Lösungen gefunden hat. Eine Kritik an späteren Stufen ist Zeichen für eine Allergie gegen die eigene Weiterentwicklung. Meistens ist das der Fall, wenn man noch mit der eigenen Stufe voll identifiziert ist oder erst anfängt, sie – gleichsam gegen die eigene „offizielle“ Überzeugung – in Frage zu stellen. Eine klassische Technik ist dabei die sogenannte Selbstüberredung: Man zählt sich selbst gute Gründe auf, warum die eigene Stufe die einzig wahre ist, um damit das aufkeimende Unbehagen an der eigenen Wertestufe zu unterbinden.

So versucht man, sich selbst eine Art Schutzimpfung gegen die eindringenden „Viren“ der nächsthöheren Stufe zu verpassen. Außerdem soll mit der Polemik die eigene Umgebung davon abgehalten werden, sich einer Weiterentwicklung zu öffnen und den Stufenstatus zu wechseln.

1.0 BEIGE
Die erste Stufe BEIGE braucht einen Anwalt, um sich gegen andere Stufen wehren zu können. Für BEIGE gibt es nicht automatisch „das Recht, Rechte zu haben“[3], dazu muss ihm eine höhere Stufe verhelfen. BLAU verteidigt als erste Stufe das Recht auf Leben für BEIGE (keine Abtreibung, keine Euthanasie). ORANGE sichert BEIGE nicht nur sein nacktes Leben, sondern auch seine grundsätzlichen Menschenrechte. Der größte Gegner von BEIGE – und letztlich aller Stufen – bleibt immer der Tod.

2.0 PURPUR
PURPUR kann die Stufen jenseits seiner Wirklichkeit nicht unterscheiden. Es wirft allen anderen Stufen vor, dass sie ihm Angst machen, seine angestammten heiligen Partikularrechte wegnehmen und in sein sorgsam abgeschottetes Territorium einbrechen, das es zum Überleben braucht. PURPUR ist abhängig von der magischen Einheit an seinen heiligen Ahnenplätzen in der Natur, die die bösen anderen Stufen nicht sehen und darum für immer zerstören. Alle anderen spüren auch nicht die numinose Energie in all den Dingen, die PURPUR von seinen Ahnen vererbt bekam. Ebenso wenig können sie sich geschmeidig im Seelenreich subtiler Bewusstseinszustände bewegen, sind also blind für die höheren Eingebungen. Warum sollten sie PURPUR überlegen sein?

3.0 ROT
ROT verhöhnt PURPUR als schwächlich und zertrümmert willkürlich dessen Heiligtümer und schützende Familienstrukturen. ROT attackiert die BLAUE zentrale Kontrollgewalt und ihre Regeln, die für alle gelten sollen, die es aber nur als Zumutung, Freiheitseinschränkung und Unterdrückung empfindet. ROT hasst es, von BLAU erneut einverleibt zu werden, nachdem es sich aus PURPURNEN Clanzwängen freigekämpft hat. ROT macht GRÜNE Gutmenschen lächerlich und provoziert GRÜN mit Verstößen gegen gendergerechte, inklusive Sprache. Es walzt über GRÜN hinweg oder nutzt es schamlos aus.

4.0 BLAU
Wenn sich ROT nicht zähmen lässt wird es von BLAU als Sünder schlechthin verdammt, unterworfen, zur Bekehrung gezwungen oder zur Hölle gejagt. BLAU verurteilt den kindischen Aberglauben von PURPUR, schickt Missionare und macht auch mit ihm, wenn es sich nicht bekehrt, kurzen Prozess. Das konventionelle BLAU ist schockiert über die unerhörten Freiheiten, die sich ORANGE herausnimmt und warnt eindringlich vor dem totalen Verfall aller Werte durch modernen Lebensstil. Echte, ewig gültige Werte und den einzig wahren Glauben gibt es schließlich einzig bei BLAU. Der GRÜNE Pluralismus der Postmoderne gibt BLAU dann den Rest, eine interreligiöse Position bedeutet den völligen Ausverkauf der eigenen Religion und ist absolut indiskutabel. GELB ist darum für BLAU auch wieder nur eine GRÜNE New-Age-Variante, die die eine absolute Wahrheit und die unhinterfragbare Autorität des BLAUEN Lehrgebäudes leugnet.

5.0 ORANGE
Aus der Sicht von ORANGE bringt ROT gefährliche Spinner und Anarchisten hervor, die sich mit Terrorakten religiöser Toleranz, aufgeklärter Vernunft und demokratischen Grundrechten widersetzen. ORANGE brandmarkt die Unfreiheit und den Zwang zum Glauben an die eine absolute Wahrheit in BLAU, ganz gleich, ob es sich um religiöse Inhalte oder ein politisches Programm handelt. ORANGE ist genervt von der krankhaften GRÜNEN Gleichmacherei und Gefühlsduselei jenseits vernünftiger Argumente. ORANGE hat auch keine Lust, ständig die kostspieligen Umverteilungs-, Wohlfühl- und Inklusionsprogramme von GRÜN finanzieren zu müssen. An GELB stört ORANGE das „ganze subjektive Zeug“ der integralen Spiritualität, das nicht mit den Mitteln des für ORANGE gültigen materiellen Rationalismus objektiv nachgewiesen werden kann. GELB kann nicht wissenschaftlich sein, solange es spirituelle Themen behandelt. Noch suspekter für ORANGE sind TÜRKISE Konzepte wie Weltinnenraum, Bewusstseinsfraktale, wissende Felder, die Spirale des GEISTES oder übersummative Intelligenz; ORANGE vernimmt nur PURPUR-GRÜNES New-Age-Geraune und lehnt TÜRKIS als zu spekulativ ab.

6.0 GRÜN
GRÜN lästert über das verkopft rationale, materialistische und ausbeuterische ORANGE, dem Mitgefühl und persönliche spirituelle Erfahrung fehlt. Auch das traditionelle mythische BLAU kann es nicht ausstehen – dessen absolutistisches Ordnungsdenken ist für GRÜN der Vater aller Übel. In GELB sieht es nur das Wiederaufflammen des von ihm erfolgreich plattgemachten hierarchischen Denkens, weshalb GELB aus GRÜNER Sicht nur neue Herrschaftsstrukturen errichtet. Außerdem empfindet GRÜN das nachfolgende GELB ähnlich gefühlskalt wie ORANGE – es bleibt ihm unverständlich, warum sich GELB von der GRÜNEN „Wir-haben- uns-alle-lieb“-Gruppe, der freundlichen Familienkirche und der ökumenischen Versöhnt-in-Verschiedenheit-Theologie nicht länger angezogen fühlt. Da die integrale GELBE Stufe als ein neues Aufklärungsprojekt auftritt, wird sie von der GRÜNEN Postmoderne verdächtigt, alle Schändlichkeiten von ORANGE wiederzubeleben, die GRÜN schließlich gründlich dekonstruiert hat. Außerdem gibt es keine universale Wahrheit, es ist gefährlich und anmaßend, so etwas zu behaupten und damit in BLAU zurückzufallen. Das systemische Denken von GELB wird als zu männlich, zu verkopft, zu wenig emotional, zu strukturalistisch und zu hierarchisch empfunden. GRÜN findet das GELBE Urteilen viel zu scharf, nüchtern und nervig. Das systemische GELB ist kränkend für GRÜN, weil es dessen innere Widersprüche aufdeckt und mit seiner Logik auf gefühlt unsensible Weise den GRÜNEN Wunsch nach emotionaler Harmonie und friedlichem Einklang boykottiert.

7.0 GELB
GELB wirft allen vorausgegangenen Stufen vor, dass sie immer wieder versuchen würden, es in eines ihrer dualistischen Lager zu ziehen. An ORANGE kritisiert GELB, dass es das Universum kalt zum sinnfreien Zufallsprodukt „erklärt“ und neben den Naturwissenschaften keine anderen Erkenntniswege zulässt. Selbst GRÜN ist für GELB auf einem Auge blind, weil es zwar multiperspektivisch wahrnimmt, aber keine echte Metaperspektive auf das Ganze entwickelt hat. GELBE übt Kritik an GRÜN, weil es die Gesellschaft in lauter Splittergruppen von Diskriminierten, Opfern und Zukurzgekommenen zerlegt hat, ohne auf die von ORANGE erarbeitete Eigenverantwortung zu setzen. Damit man bei GRÜN dazugehören darf, muss man auch irgendeine Opfergeschichte bieten können: einen existentiellen Verlust, eine nicht auszuheilende seelische Verletzung, eine problematische Genderrolle, die Zugehörigkeit zu einer Migrations- oder Minderheitenkultur. Wer nicht diskriminiert ist, muss sich wenigstens mit den Diskriminierten solidarisieren und für Wiedergutmachung sorgen. GELB beobachtet auch beim inklusiv auftretenden GRÜN subtile Verurteilungen nicht-GRÜNER Positionen. GRÜN ist aus GELBER Sicht viel zu sehr mit seinem kränkbaren Ego beschäftigt. Zudem fehlt ihm die Fähigkeit zum kommunikativen code-switching, mit dem man sich auf allen Stufen als gesprächsfähig und fordernd-fördernd zugleich erweist. Der größte Vorwurf von GELB an GRÜN lautet, dass es nicht zwischen gesunden Wachstumshierarchien und unterdrückerischen Herrschaftshierarchien unterscheiden kann und damit blind für eigene Herrschaftsansprüche ist. GELB kritisiert die von GRÜNER Herrschsucht festgelegten Grenzen politischer Korrektheit und verweigert GRÜN die Gefolgschaft. Wenn GELB sich von anderen Stufen zu sehr instrumentalisiert und in seiner Freiheit bedroht fühlt, kann es sogar abhauen, der Spirale die integrale Perspektive entziehen und die anderen sich selbst überlassen.

8.0 TÜRKIS
Die GELBE „Operationshöhe“ ist für den TÜRKISEN „Blick aus dem All auf die gesamte Erde“ zu niedrig. Die GELBE Landkarte ist deshalb zu begrenzt und zeigt noch nicht „die eine nahtlose, ganze Wirklichkeit“. TÜRKIS kritisiert an GELB, dass es nicht genug global vernetzt denkt und sich zu oft mit seinem Elfenbeinturm und komplexen Wissen zufrieden gibt, anstatt sich die Hände bei den drängenden globalen Nöten und Überlebensaufgaben schmutzig zu machen. TÜRKIS entdeckt sogar noch bei GELB die allen Stufen eigene übertriebene Allergie gegen die direkte Vorgängerstufe (Frühes GELB hat laut Ken Wilber die „GRÜN-Krankheit“ und hackt viel zu sehr auf GRÜN herum, statt seine Errungenschaften zu würdigen).

9.0 KORALLE
KORALLE denkt laut Wilber transglobal und „super-integral“. Es könnte an GELB und TÜRKIS bemängeln, dass das integrale Denken immer noch stark an die Kategorien Wissenschaft, Religion oder Philosophie gebunden bleibt.[4] Sie stecken dann in einer ungesunden Beziehung zu Systemen und Ganzheitskonzepten fest: entweder sind sie darauf fixiert oder sie lehnen sie ab. Der „pfadlose Weg“ liegt für KORALLE eher in direktem transpersonalem Gewahrsein. Es steht in Verbindung mit dem diaphanen Sein an sich, das von Augenblick zu Augenblick den Blick auf die ganze Wirklichkeit freigibt. Weil dagegen GELB und TÜRKIS zu gerne an ihrem integralen Konzept der unterschiedlichen Weltsichten (Stufen, Quadranten...) hängenbleiben, sehen sie eher ihr eigenes Modell von Wirklichkeit als die Wirklichkeit selbst.

Zum Üben und Vertiefen

ÜBUNG: Ablästern. Bringen Sie einmal alles zu Papier, was gegen die Einstellungen und das Verhalten anderer Menschen in Ihrem privaten, beruflichen, kirchlichen oder spirituellen Umfeld spricht und Sie nervt. Sortieren Sie dann in drei Spalten, was 1. vage Vermutungen 2. mitgeschleppte Kränkungen und ältere Vorurteile aus früheren Stufen sowie 3. tatsächliche Kritikpunkte sein könnten. Von welcher Stufe aus kritisieren Sie andere derzeit am ehesten? Welcher Dualismus oder integrale Standpunkt steht dahinter? Kennen Sie auch die Kritik, die man an Ihnen und Ihren Positionen gerne übt? Füllen Sie eine 4. Spalte damit und vergleichen Sie, ob diese Fremdwahrnehmungen zu Ihrem aktuellen Stufenschwerpunkt passen.

ÜBUNG: Lob der gegnerischen Überzeugungen. Um sich aus der Dualismusfalle zu befreien, können Sie mit einem Gedanken von Professor Wolfgang Huber experimentieren, dem früheren Bischof und Ratsvorsitzenden der EKD: „Die kritische Selbstprüfung schließt ein, dass man eine Gegenposition zur eigenen Überzeugung in ihren Stärken beschreiben kann.“[5]
Schreiben Sie auf, welche Stärken Sie persönlich bei all den Stufen wahrnehmen, die Sie selbst normalerweise kritisch beurteilen oder nicht mögen. Können Sie diese Stärken wertschätzen und anerkennen? Leben Sie diese Stärken selbst?

ÜBUNG Nicht-Urteilen. Das Nicht-Urteilen ist ein mystisch inspiriertes Gebot geistiger Friedfertigkeit, hilft aber auch, die das gewohnheitsmäßige Urteilsschema der Stufe aufzuheben, mit der man aktuell identifiziert ist. Durch dieses Des-Identifizieren öffnet sich der Weg hin zur nächsten komplexeren Werteebene.
Beginnen Sie damit, die urteilenden Instanzen in Ihrem eigenen Inneren zu überprüfen. Selbst die ausgewogensten Urteile basieren auf einer begrenzten Wirklichkeitswahrnehmung. Sie hängen von dem ab, was wir gerade wissen oder nicht wissen. Sie sind beeinflusst von dem Zeitpunkt, zu dem wir sie fällen, und von den Umständen, in der wir uns befinden. Unsere Bewertungen bescheren uns eine Menge emotionale Unruhe und verengen auch unseren Blick auf andere. Betrachten Sie darum einen Eindruck von einer Sache oder einem Menschen immer als etwas Vorläufiges und Unvollständiges, an dem Sie nicht für immer festhalten wollen.
Lassen Sie sich nun durch den frühchristlichen Wüstenmystiker Abba Agathon inspirieren. Über ihn heißt es: Wenn „ sein Herz über etwas urteilen wollte, sprach er zu sich selbst: Agathon, tu das nicht! Und so kam sein Denken zur Ruhe.“[6] Agathons freundliche Selbsterinnerung an die Praxis des Nicht-Urteilens half ihm, das automatische Urteilen und Selbst-Verurteilen zu unterbrechen. So konnte er sich entlasten und zur inneren Bewusstseinsruhe (ataraxia) zurückkehren.
Achten Sie also darauf, wo Sie zum Urteilen tendieren, ganz gleich, ob Sie jemanden oder etwas positiv oder negativ bewerten. Nehmen Sie s einfach nur wahr, dass Sie bewertet haben. Wie fühlte sich das an? Wo spüren Sie es im Körper am deutlichsten? Je öfter Sie das reine Wahrnehmen praktizieren, desto leichter wird Ihnen das Nicht-Urteilen fallen. Nach und nach wird Ihnen bewusst: entweder waren Ihre bisherigen Urteile stimmig und haben noch Bestand; oder Sie sind in eine neue Stufe mit umfassenderer Sichtweise hinüber gewechselt und können nun liebevoller, gereifter und klarer urteilen.

[1] Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989

[2] Paul Veyne, Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Ein Versuch über die konstruktive Einbildungskraft, Frankfurt a. M. 1987, S. 40

[3] Hanna Ahrendt, Elemente totaler Herrschaft. Frankfurt a. M. 1958, S. 34ff.

[4] vgl. dazu Steve McIntosh, Integrales Bewusstsein und die Zukunft der Evolution, Hamburg 2009, S. 242

[5] Wolfgang Hubers Äußerungen stammen aus einem Interview in: DIE ZEIT Nr. 33, 10. August 2017, S. 46

[6] Apophthegmata Patrum. Weisung der Väter, Trier 1986, S.44

  

Marion Küstenmacher

Kuestenmacher Mariongeboren 1956, evangelische Theologin und Germanistin, war lange Jahre Verlagslektorin und Redakteurin mit den Schwerpunkten Spiritualität, Psychologie und Lebenshilfe. Seit 1992 kontemplative Übungspraxis mit dem christlichen Herzensgebet. Ab 1997 Beschäftigung mit der Integralen Philosophie Ken Wilbers. Zahlreiche Weiterbildungen zum Bereich Persönlichkeitsbildung bei Erwachsenen, zertifizierte Trainerin für Spiral Dynamics Integral Leadership Values bei Don Edward Beck.

2010 erhielt Marion Küstenmacher den Argula-von-Grumbach-Preis der Evangelisch-Lutherischen-Kirche in Bayern für eine Arbeit über die Sophia-Weisheit. Mit ihren Büchern über integrale Spiritualität und eine aufgeklärte mystische Lebenspraxis gehört sie zu den innovativsten christlichen Autoren der Gegenwart.

Marion Küstenmacher ist verheiratet mit Werner Tiki Küstenmacher. Die beiden haben drei erwachsene Kinder.

zur Website Gott 9.0

 

  

Marion Küstenmacher:
Integrales Christentum: Einübung in eine neue spirituelle Intelligenz
Einübung in eine neue spirituelle Intelligenz
Taschenbuch: 448 Seiten
Verlag: Gütersloher Verlagshaus (23. Juli 2018)
ISBN-10: 9783579085470
ISBN-13: 978-3579085470

 

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